VG Kassel

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Zitieren als:
VG Kassel, Urteil vom 13.02.2008 - 3 E 158/07.A - asyl.net: M12730
https://www.asyl.net/rsdb/M12730
Leitsatz:

Keine nichtstaatliche Gruppenverfolgung von Hindus in Afghanistan; Abschiebungsverbot wegen extremer allgemeiner Gefahrenlage i.S.d. verfassungskonformen Auslegung des § 60 Abs. 7 AufenthG für Hindu-Familie; kein Schutz vor Abschiebung von Familien durch Erlasslage.

 

Schlagwörter: Afghanistan, Hindus, Gruppenverfolgung, Verfolgungsdichte, Verfolgung durch Dritte, mittelbare Verfolgung, nichtstaatliche Verfolgung, religiös motivierte Verfolgung, Religion, Verfolgungsbegriff, religiöses Existenzminimum, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Versorgungslage, Wohnraum, medizinische Versorgung, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Erlasslage, Abschiebungsstopp
Normen: GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Keine nichtstaatliche Gruppenverfolgung von Hindus in Afghanistan; Abschiebungsverbot wegen extremer allgemeiner Gefahrenlage i.S.d. verfassungskonformen Auslegung des § 60 Abs. 7 AufenthG für Hindu-Familie; kein Schutz vor Abschiebung von Familien durch Erlasslage.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Kläger haben jedoch weder einen Anspruch auf die Verpflichtung der Beklagten, sie als Asylberechtigte anzuerkennen, noch darauf festzustellen, dass in ihrer Person Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht ist religiöse oder religiös motivierte Verfolgung allerdings nur dann als politische Verfolgung im Sinne des Asylgrundrechts anzuerkennen, wenn die Eingriffe und Beeinträchtigungen eine Schwere und Intensität aufweisen, die die Menschenwürde verletzt.

Ob diese Beschränkung des Schutzbereichs auf das sog. "forum internum" angesichts der Regelung in Art. 10 Abs. 1 b) der Richtlinie 2004/83/EG des Rates über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes vom 29. April 2004 (ABl. L 304 vom 30. September 2004, Seite 12 - im) - nach Ablauf der Umsetzungsfrist (Artikel 38 Abs. 1 QRL) am 10. Oktober 2006 im Rahmen des Art.16a GG beibehalten werden kann (nach Hess. VGH vom 12.07.2007 - 8 UE 3339/04.A offenbar nicht; a.A. VGH Baden-Württemberg vom 20.11.2007 - A 10 S 70/06 - Rn 23), mag hier dahinstehen, denn auch bei Zugrundelegung des durch Art.10 QRL erweiterten Schutzbereichs der religiösen Betätigung ist eine politische Verfolgung der Kläger vorliegend nicht zu bejahen.

Insoweit ist vorliegend der Verfolgungsmaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit unabhängig davon maßgeblich, ob die Kläger Afghanistan im Jahre 2000 vorverfolgt verlassen haben, denn auch eine etwaige Vorverfolgung durch die Taliban würde in Bezug auf die gegenwärtigen Machthaber nicht zur Anwendung des sogenannten herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabes führen, weil eine Verfolgung durch die derzeitige Regierung infolge der grundlegenden Veränderungen der politischen Verhältnisse jedenfalls nicht die hierfür, erforderliche Verknüpfung zur Vorverfolgung durch die Taliban aufweisen würde (vgl. dazu BVerwG, Beschluss. v. 21.01.2000 - 9 B 533/99 - juris, Urteil v. 18.02.1997 - 9 C 9/96, BVerwGE 104, S. 97 ff.).

Hindus in Afghanistan unterliegen auch bei Zugrundelegung eines über den Schutzbereich des religiösen Existenzminimums hinausgehenden Verständnisses des Asylgrundrechts keiner an ihre Volks- oder Religionszugehörigkeit anknüpfenden gruppengerichteten politischen oder religiösen unmittelbaren oder mittelbaren staatlichen Verfolgung. Aus den dem Gericht vorliegenden Erkenntnislisten ergibt sich folgendes Bild: ...

Zusammenfassend lässt sich aus diesen Erkenntnisquellen entnehmen, dass sich die Situation der Hindus in den letzten Jahren deutlich verschlechtert hat. Sie sind nur noch eine kleine Gruppe in Afghanistan, die versucht, ihr Leben möglichst unauffällig am Rande der Gesellschaft zu leben. Die in ihrem Umfeld lebenden Muslime benachteiligen und diskriminieren sie. Von ihrer bis zur Einsetzung der Übergangsregierung Rabbani im Jahre 1992 beachtlichen wirtschaftlichen Bedeutung für Afghanistan ist nichts mehr geblieben (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: aktuelle Lage afghanischer Hindus vom 13.09.2007 S. 3).

Die Annahme einer Gruppenverfolgung lässt sich auf dieser Grundlage jedoch noch nicht rechtfertigen.

Ausgehend von diesen Grundsätzen fehlt es vorliegend an der erforderlichen Verfolgungsdichte. Die den Auskünften zu entnehmenden Referenzfälle erreichen von der Anzahl der Rechtsverletzungen im Verhältnis zur Gesamtzahl dieser Gruppe und ihrer staatlichen Behandlung weder die Schwelle, ab der eine Verfolgungsdichte anzunehmen wäre noch belegen sie in ausreichendem Maß eine staatliche Untätigkeit im Vorgehen gegen solche Übergriffe mit dem Ziel der Vernichtung dieser Minderheit (vgl. ebenso VG Ansbach vom 26. November 2007 - AN 11 K 07.30632; VG Sigmaringen vom 16.3.2006 - A 2 K 10962/05; VG Schwerin vom 15.5.2007 - 11 A 1901/06 As; VG Regensburg vom 05.04.2007 - RO 5 K 06.30176; a.A.: VG Köln vom 10.1.2006 - 14 K 6506/03.A, VG Wiesbaden vom 17.2.2006 - 7 E 559/05.A(1), VG Minden vom 8.6.2006 - 9 K 1891/06.A, VG München vom 30.1.2007 - M 23 K 06.50875, VG Leipzig vom 21.3.2007 - 1 A 30746/03.A und VG Gießen vom 25.4.2007 - 2 E 1750/06.A und 19.09.2006 - 7 E 2188104.A).

Das gilt auch insoweit als § 60 Abs. 1 AufenthG nunmehr auch Schutz vor nichtstaatlicher Verfolgung gewährt.

Nach den oben gemachten Ausführungen fehlt es damit auch in Anbetracht dieser Voraussetzungen für eine Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure an der erforderlichen Verfolgungsdichte.

Die Kläger haben jedoch einen Anspruch auf die Zuerkennung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.

Für die Kläger bestünde im Falle einer Abschiebung nach Afghanistan jedoch eine existentiell bedrohliche allgemeine Gefahrenlage.

Zwar hat der Hess. VGH in seiner neuesten Entscheidung vom 07.02.2008 (8 UE 1913/06.A) ausgeführt, für die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 1 [gemeint: Abs. 7, d.Red.] AufenthG fehle es an einer für die Überwindung der. Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 5. 3 AufenthG n. F. erforderlichen extremen Gefährdungslage in Afghanistan, die einen Rückgriff auf die individuelle Schutzgewährung nach § 60 Abs. 7 S. 1 zur Schließung einer verfassungswidrigen Regelungslücke ermöglichen würde. Die dazu gemachten Ausführungen bezogen sich jedoch ausdrücklich nur auf junge, gesunde, alleinstehende Afghanen. Da die Kläger vorliegend jedoch im Familienverband zurückkehren würden und zudem bekennende Hindus sind, sind diese Ausführungen auf den vorliegenden Fall nicht übertragbar. Das gilt um so mehr, als der Hessische Verwaltungsgerichtshof in seiner Entscheidung selbst an anderer Stelle ausführt, dass eine nicht verbreitete Religionszugehörigkeit - wie sie der Hinduismus angesichts der in Afghanistan nur noch verbliebenen kleinen Schar Hindus darstellt - ein besonderes Gefährdungsmerkmal beinhaltet. Angesichts dieses Umstandes im Zusammenhang mit den oben gemachten Ausführungen zur Versorgung der Hindus mit Lebensmitteln, Wohnraum und medizinischer Hilfe ist das Gericht zu der Überzeugung gelangt, dass jedenfalls Hindus derzeit durch eine Abschiebung nach Afghanistan "gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würden" (BVerwG, Urteil vom 12. Juli 2001 - 1 C 2.01 -, a.a.O.). Eine die Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG gebietende verfassungswidrige Schutzlücke ist auch nicht im Hinblick auf den Erlass des Hessischen Ministeriums des Inneren und für Sport vom 17.05.2005 zu verneinen. Nach diesem Erlass sind "mit Vorrang ab sofort" neben Straftätern und Sicherheitsgefährdern volljährige allein stehende männliche afghanische Staatsangehörige, die sich noch nicht seit dem 19.11.1998 im Bundesgebiet aufhalten, und anschließend auch allein stehende weibliche Erwachsene und Ehepaare ohne Kinder zurückzuführen. Dass allein stehende weibliche Erwachsene mittlerweile abgeschoben werden, lässt sich dem Schreiben der Stadt Kassel vom 20.10.2006 im Verfahren VG Kassel 3 E 377/07.A entnehmen. Aber auch Ehepaare werden jetzt zurückgeführt, wobei es keine Rolle mehr spielt, ob sie minderjährige Kinder haben (vgl. folgende bei der Kammer anhängig gewesene Verfahren: 3 G 1287/06.A, 3 G 1456/06.A und 3 E 377/07.A). Der genannte Erlass schützt demnach in der Praxis Familien mit minderjährigen Kindern nicht mehr vor einer Abschiebung.