VG Karlsruhe

Merkliste
Zitieren als:
VG Karlsruhe, Beschluss vom 31.01.2008 - 4 K 36/08 - asyl.net: M12632
https://www.asyl.net/rsdb/M12632
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Aufenthaltserlaubnis, Duldung, Bleiberechtsregelung 2006, Altfallregelung, Aufenthaltsdauer, freiwillige Ausreise, Auslandsaufenthalt, Abschiebungshindernis, inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse, Europäische Menschenrechtskonvention, Privatleben, Integration, Verhältnismäßigkeit, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), einstweilige Anordnung, Eilbedürftigkeit
Normen: VwGO § 123 Abs. 1; AufenthG § 23 Abs. 1; AufenthG § 104a Abs. 1; AufenthG § 60a Abs. 2; AufenthG § 85; EMRK Art. 8
Auszüge:

Zwar haben die Antragsteller einen Anordnungsgrund, nämlich eine besondere Dringlichkeit für die begehrte gerichtliche Eilentscheidung, glaubhaft gemacht (vgl. § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 ZPO). Daran ändert auch nichts, dass nach Mitteilung des Regierungspräsidiums Karlsruhe die Duldung der Antragsteller einstweilen bis zum 29.02.2008 verlängert wurde. Das spezifische Interesse der Antragsteller an einer Eilentscheidung wäre nur dann entfallen, wenn das Regierungspräsidium mitgeteilt hätte, die Entscheidung im Hauptsacheverfahren werde abgewartet, oder wenn (wenigstens) eine nach wie vor beabsichtigte Abschiebung in so großer zeitlicher Ferne liegen würde, dass der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung unter Berücksichtigung aller Umstände als verfrüht erschiene (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 26.11.2007 - 13 S 2438/07 -).

Es fehlt jedoch an der Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs auf Erteilung einer Duldung. Eine solche ist nach § 60 a Abs. 2 AufenthG zu erteilen, solange die Abschiebung eines Ausländers aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird.

Die Antragsteller erfüllen weder die Voraussetzungen der Bleiberechtsregelung nach § 23 AufenthG noch die Voraussetzungen des § 104 a Abs. 1 AufenthG. Sowohl die Bleiberechtsregelung (dort Ziff. I. 1.1) als auch § 104 a Abs. 1 AufenthG verlangt zu den jeweiligen Stichtagen am 17.11.2006 bzw. 01.07.2007 einen ununterbrochenen Aufenthalt im Bundesgebiet von sechs Jahren. Diese Voraussetzungen erfüllen die Antragsteller nicht, da sich die Antragsteller zu 1) bis 4) im Jahre 2002 (der Antragsteller zu 5) wurde erst später im Bundesgebiet geboren) für mehrere Wochen im Kosovo und damit außerhalb des Bundesgebiets aufgehalten haben, so dass es an der zu den jeweiligen Stichtagen erforderlichen Aufenthaltsdauer fehlt. Zwar sind nach Ziff. I. 1.1 der Bleiberechtsregelung vom 20.11.2006 kurzfristige erlaubte Auslandsreisen unschädlich. Dasselbe soll nach den vorläufigen Anwendungshinweisen des Bundesinnenministeriums (Stand: 17.12.2007) bei § 104a Abs. 1 AufenthG gelten (dort Nr. 2.3). Bei der Ausreise der Antragsteller zu 1) – 4), die ausweislich der Grenzübertrittsbescheinigungen des damaligen Bundesgrenzschutzamtes am Flughafen Frankfurt/Main am 24.07.2007 erfolgte, handelt es sich indes nicht um eine derartige für die Erfüllung der ununterbrochenen Aufenthaltszeit unschädliche kurzfristige erlaubte Auslandsreise. Eine solche setzt nach Wortlaut sowie Sinn und Zweck der Regelung voraus, dass es sich um einen bloß vorübergehenden Aufenthalt im Ausland handelt, nicht aber um eine Ausreise auf Dauer, bei der eine Rückkehr ins Bundesgebiet nicht oder nicht in absehbarer Zeit geplant ist.

Vorliegend spricht alles dafür, dass die Ausreise der Antragsteller zu 1) bis 4) auf Dauer erfolgen sollte.

Als unschädlich kann der Auslandsaufenthalt der Antragsteller auch nicht unter Heranziehung des Rechtsgedankens des § 85 AufenthG angesehen werden. Danach können Unterbrechungen der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts bis zu einem Jahr außer Betracht bleiben. Eine Anwendung des § 85 AufenthG erscheint schon deshalb fraglich, weil dieser nicht die Unterbrechung des Aufenthalts als solchen, sondern nur dessen Rechtmäßigkeit betrifft. Auch Sinn und Zweck der von der Bleiberechtsregelung nach § 23 AufenthG und von § 104 a Abs. 1 AufenthG geforderten Aufenthaltsdauer rechtfertigen es nicht, § 85 AufenthG hier heranzuziehen. Der klare Gesetzeswortlaut verlangt einen ununterbrochenen Aufenthalt (vgl. auch VG München, Beschl. v. 25.09.2007 - M 9 K 07.1758, M 9 S 07.1994 -; Fehrenbacher, HTK-AuslR /§ 104a /zu Abs. 1 12/2007 Nr. 3.1) und sowohl nach der Bleiberechtsregelung als auch nach der durch die vorläufigen Anwendungshinweise konkretisierten Behördenpraxis sollen nur kurzfristige erlaubte Auslandsreisen unschädlich sein, nicht aber Auslandsaufenthalte bis zu einem Jahr, wie sie § 85 AufenthG nennt. Auch Sinn und Zweck der Bleiberechtsregelung und des § 104 a Abs.1 AufenthG stehen einer entsprechenden Anwendung des § 85 AufenthG entgegen. Durch beide soll langjährig im Bundesgebiet aufhältigen, ausreisepflichtigen ausländischen Staatsangehörigen, die faktisch wirtschaftlich und sozial im Bundesgebiet integriert sind, ein Aufenthaltsrecht gewährt werden, was durch die Möglichkeit eines bis zu einem Jahr dauernden Auslandsaufenthaltes – egal zu welchen Zwecken – ausgehebelt würde. Gerade im Hinblick darauf, dass bei ausländischen Staatsangehörigen, die mit mindestens einem minderjährigen Kind in häuslicher Gemeinschaft leben, lediglich eine Aufenthaltsdauer von sechs Jahren gefordert wird, lässt sich die Zulassung einer einjährigen Unterbrechung dieses Aufenthalts mit der gesetzgeberischen Intention nicht vereinbaren.

Schließlich macht auch Art. 8 Abs. 1 EMRK und die "Verwurzelung" der Antragsteller im Bundesgebiet deren Abschiebung nicht rechtlich unmöglich. Zwar bleibt diese völkervertragsrechtliche Bestimmung neben gesetzlichen Bleiberechts- und Altfallregelungen, die insoweit keine relevante Sperrwirkung entfalten, anwendbar (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 25.10.2007 - 11 S 2091/07 -, InfAuslR 2008, 29). Das Recht auf Achtung des Privatlebens umfasst die Summe der persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind und denen angesichts der zentralen Bedeutung dieser Bindungen für die Entfaltung der Persönlichkeit eines Menschen bei fortschreitender Dauer des Aufenthalts wachsende Bedeutung zukommt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.05.2007 - 2 BvR 304/07 -, InfAuslR 2007, 275). Vorliegend erscheint es jedoch fraglich, ob der Schutzbereich der Vorschrift überhaupt eröffnet ist. Der Schutz des Art. 8 Abs. 1 EMRK könnte möglicherweise voraussetzen, dass neben einer gewissen Dauer des Aufenthalts dieser durch ein entsprechendes Aufenthaltsrecht abgesichert ist (so Hess.VGH, Beschl. v. 15.02.2006 - 7 TG 106/05 -, InfAuslR 2006, 217; Nieders.OVG, Urt. v. 27.09.2007 - 11 LB 69/07 -; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 25.04.2007 - 11 S 409/06 -, InfAuslR 2007, 357; offen gelassen im Beschl. v. 10.05.2006 - 11 S 2354/05 -, VBlBW 2006, 438; verneinend: Beschl. v. 25.10.2007 - 11 S 2091/07 -, InfAuslR 2008, 29). Die Rechtsprechung des EGMR stünde dieser rechtlichen Bewertung nicht entgegen. Der EGMR hat bisher gerade nicht endgültig geklärt, ob ein rechtmäßiger Aufenthalt Voraussetzung für eine Verwurzelung im Gaststaat ist (Urt. v. 16.09.2004 - 11103/03 -, NVwZ 2005, 1046, Rs. Ghiban). Die Entscheidung des EGMR vom 16.06.2005 (60654/00, InfAuslR 2005, 349, Rs. Sisojeva) betraf einen atypischen Sonderfall, der auch, nachdem er letztlich durch Urteil der Großen Kammer vom 15.01.2007 (InfAuslR 2007, 140) abschließend entschieden wurde, keine Entscheidungshilfe für die maßgebliche Rechtsfrage bietet. Soweit das vom 11. Senat des VGH BadenWürttemberg (Beschl. v. 25.10.2007 - 11 S 2091/07 -, InfAuslR 2008, 29), ohne sich mit der bisherigen Senatsrechtssprechung (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 25.04.2007 - 11 S 409/06 -, InfAuslR 2007, 357; Beschl. v. 10.05.2006 - 11 S 2354/05 -, VBlBW 2006, 438) auseinanderzusetzen, möglicherweise abweichend gesehen wird, vermag dies nicht zu überzeugen.

Unabhängig davon kann vorliegend auch nicht von einer "Verwurzelung" der Antragsteller ausgegangen werden, die ihre Abschiebung ins Heimatland verbieten würde.