VG Ansbach

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Zitieren als:
VG Ansbach, Urteil vom 13.02.2008 - AN 11 K 07.30754 - asyl.net: M12621
https://www.asyl.net/rsdb/M12621
Leitsatz:
Schlagwörter: Afghanistan, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Untertauchen, Rechtsschutzbedürfnis, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Anerkennungsrichtlinie, Situation bei Rückkehr, Versorgungslage, Sicherheitslage, Wohnraum, Erlasslage, Abschiebungsstopp, Sippenhaft, Blutrache
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7; RL 2004/83/EG Art. 15 Bst. c; RL 2004/83/EG Art. 2 Bst. e
Auszüge:

Die vorliegend erhobene kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage auf Verpflichtung zur Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG unter sinngemäßer Aufhebung des entgegenstehenden Bescheids vom 30. November 2007, die zunächst als Untätigkeitsklage erhoben wurde, ist schon deshalb abzuweisen, weil der Kläger nach Sachlage untergetaucht ist und daher ein Rechtsschutzbedürfnis für die erhobene Klage nicht gegeben ist.

Im Übrigen ist die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage mit dem Begehren entsprechender Feststellungen zu § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG, wobei es unschädlich ist, dass das Bundesamt im angefochtenen Bescheid hierüber keine ausdrückliche Entscheidung getroffen hat, sondern nur in den Bescheidsgründen hierüber befunden hat, unbegründet, weil dem Kläger kein solcher Anspruch zukommt, § 113 Abs. 5 VwGO.

Es liegen hier aber auch die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen im engen wie im weiteren Sinne nicht vor; insoweit konnte das Bundesamt in pflichtgemäßer Ermessensausübung auch insoweit ein Wiederaufgreifen ablehnen.

Nach § 60 Abs. 7 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat ist abzusehen, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist. Gefahren nach Satz 1 oder Satz 2, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Allgemeine Gefahren können daher auch dann nicht Abschiebungshindernisse begründen, wenn sie den Ausländer konkret und in individualisierbarer Weise betreffen. Dies dürfte entsprechend dem Erwägungsgrund (26) der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (sog. Qualifikationsrichtlinie – QRL) auch mit Art. 15 c) und Art. 2 e) QRL in Einklang stehen (BVerwG vom 15.5.2007, zitiert nach juris; BT-Drucksache 16/5065 S. 187 aA VG Stuttgart InfAuslR 2007, 321; Hruschka/Lindner NVwZ 2007, 645/648). Schutz vor Abschiebung darf in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 AufenthG nur ausnahmsweise gewährt werden. Das ist dann der Fall, wenn der Ausländer in seinem Heimatstaat einer extremen Gefahrenlage dergestalt ausgesetzt wäre, dass er im Fall seiner Abschiebung dorthin gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwerster Verletzungen ausgeliefert wäre (BVerwG NVwZ 1999, 666 = InfAuslR 1999, 266 und DVBl 2001, 1772).

Eine derartige lebensgefährliche Sicherheitslage kann aber nach allgemein- und gerichtskundiger Auskunftslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht angenommen werden.

Nach alledem kann trotz der dargestellten überaus schlechten Sicherheits- und Versorgungslage ausgehend vom vorgenannten rechtlichen Maßstab – unabhängig davon, ob hier auf die subjektive Gefahr oder die objektive Bedrohung abgestellt wird – aber nicht mit der hier erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass jeder Rückkehrer aus Europa den Tod oder schwerste Gesundheitsschäden erleiden müsste. Irgendwelche besonderen Umstände, die speziell bei diesem Kläger ausnahmsweise doch eine relevante Gefährdung insbesondere wegen Zugehörigkeit zu einer der betreffenden schutzwürdigen Personengruppe, begründen würden, sind hier weder im Einzelnen geltend gemacht worden noch sonst ersichtlich.

Über eine Gefährdung aus dem Gesichtspunkt der Sippenhaft in Afghanistan berichten die Auskunftsstellen in den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln weitgehend übereinstimmend. Zunächst sind den Lageberichten und Auskünften des Auswärtigen Amts insoweit keine Erkenntnisse zu entnehmen. Nach dem Bericht des ÖRK/Accord von September 2003 sei das Vorkommen von Sippenhaft in Afghanistan zu bejahen und zwar bei Blutrachefällen. Insoweit könnten auch Familienmitglieder des Täters Zielscheibe der Vergeltung sein, was vom Charakter des Rächenden und der Schwere des Verbrechens abhänge. Dann würden auch Verwandte angegriffen, wenn auf den Täter selbst kein Zugriff möglich wäre oder dieser in einer zu starken Position sei. Nach Danesch (Gutachten vom 24.1.2004 an VG Hamburg und vom 24.7.2004 an Sächs OVG) existierten im traditionellen afghanischen Ehrenkodex weiterhin Blutrache und Sippenhaft. So wäre auch eine 18jährige Tochter stellvertretend für ihre Mutter einer Blutrache der betreffenden Familie ausgesetzt. Blutrache und Sippenhaft gebe es auch nicht nur bei privaten Streitfällen oder Stammesfehden, sondern auch in der politischen Auseinandersetzung in Afghanistan. So würden Verwandte und Ehepartner missliebiger Personen für deren angebliche oder reale Verbrechen zur Verantwortung gezogen, wobei der Gedanke der Sippenhaft auch die nächste Generation einschließe. Im Fall der früheren Unterstützung der Kommunisten durch ihren Vater würde ein politischer Gegner Rache auch an der Tochter nehmen, selbst wenn diese damals noch ein Kind war. Nach Rasuly (Gutachten vom 23.3.2005 an den Bundesasylsenat Wien) müssten auch Familienmitglieder getöteter Offiziere, die unter dem kommunistischen Regime mehr als eine Person selbst geschädigt oder getötet haben, mit einer Bestrafung durch die Opfer rechnen.

Nach Würdigung und Bewertung dieser Erkenntnismittel im Wege einer Gesamtschau der maßgeblichen Kriterien ist das Gericht der Überzeugung, dass eine Sippenhaftgefährdung primär auf familiäre oder private Auseinandersetzungen beschränkt ist und dort nur anzunehmen ist, wenn ein konkreter Blutrachefall vorliegt. Allerdings dürfte eine Sippenhaftgefährdung auch im Fall einer politischen Auseinandersetzung konkret mit einem politischen Gegner nicht auszuschließen sein. Dies setzt aber voraus, dass eine politische Auseinandersetzung von derartigem Gewicht vorliegt, dass ein Einschreiten angezeigt ist. Dafür muss ein den Blutrachefällen vergleichbarer Anlass bestehen. Weiter muss – wovon die Auskunftslage ersichtlich ausgeht – nach dem Prinzip der Blutrache überhaupt ein geeigneter Stellvertreter für den nicht greifbaren Täter vorhanden sein. Ein Kleinkind erfüllt diese Voraussetzungen nicht.