VG Stuttgart

Merkliste
Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 12.02.2008 - A 9 K 6125/07 - asyl.net: M12595
https://www.asyl.net/rsdb/M12595
Leitsatz:

Keine mittelbare Gruppenverfolgung von Yeziden in der Türkei mehr; aber in bestimmten Herkunftsregionen noch keine hinreichende Sicherheit vor Verfolgung; keine inländische Fluchtalternative.

 

Schlagwörter: Türkei, Jesiden, Widerruf, Asylanerkennung, Änderung der Sachlage, Beurteilungszeitpunkt, Verfolgung durch Dritte, mittelbare Verfolgung, Gruppenverfolgung, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, Übergriffe, Midyat, Mardin, Dorfschützer, interne Fluchtalternative, Westtürkei
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Keine mittelbare Gruppenverfolgung von Yeziden in der Türkei mehr; aber in bestimmten Herkunftsregionen noch keine hinreichende Sicherheit vor Verfolgung; keine inländische Fluchtalternative.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Klage, über die der Einzelrichter trotz Ausbleibens Beteiligter in der mündlichen Verhandlung entscheiden kann (§ 76 AsylVfG, § 102 Abs. 2 VwGO), ist zulässig und mit ihrem Hauptantrag begründet, so dass es keiner Entscheidung über den Hilfsantrag bedarf. Denn der Widerruf der Asylanerkennung ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, so dass Ziffer 1 des Bescheids vom 22.11.2007 aufzuheben ist (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Denn eine ausreichende nachträgliche Änderung der zur Anerkennung führenden tatsächlichen Umstände liegt nicht vor. Eine solche Feststellung würde voraussetzen, dass sich die Umstände, welche zur Anerkennung geführt haben (dazu a)) nachträglich (dazu b)) in relevanter Weise (dazu c)) geändert haben. Das ist hier nicht der Fall.

a) Zur Asylanerkennung hat sowohl im Bescheid des Bundesamts vom 2.3.1988 als auch im Urteil des VG Stuttgart vom 13.9.1989 die Annahme einer mittelbaren Gruppenverfolgung von Yeziden in allen Siedlungsgebieten der Türkei ohne Bestehen einer Fluchtalternative geführt.

b) Zur Bestimmung des Eintritts einer nachträglichen Änderung dieser Umstände kann jedoch nicht auf den Zeitraum nach Bekanntgabe des Bundesamtsbescheids abgestellt werden. Denn der Bescheid vom 2.3.1988 ist vom damaligen Bundesbeauftragten angefochten worden. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 8.5.2003, BVerwGE 118, 174) kommt es für den Widerruf solcher Anerkennungsbescheide, die in Erfüllung eines rechtskräftigen Verpflichtungsurteils erlassen worden sind, auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung des Tatsachengerichts an (ähnlich auch Schäfer in: GK-AsyIVfG, § 73 Rdnr. 41). Dies hat auch dann zu gelten, wenn zwar bereits das Bundesamt eine Anerkennung oder Feststellung ausgesprochen hat, diese aber angefochten worden ist. Maßgeblich ist somit hier der Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem erstinstanzlichen Verwaltungsgericht, dem Verwaltungsgericht Stuttgart, im September 1989.

c) Zwar stimmt der Einzelrichter mit der Beklagten in der Einschätzung überein, dass sich seit 1990 die Lage der Yeziden in der Türkei durchaus verändert hat (dazu aa)). Im Falle des Klägers reicht diese Feststellung für die Rechtfertigung des Widerrufs jedoch noch nicht aus (dazu bb)).

aa) Von einer mittelbaren Gruppenverfolgung der Yeziden in allen ihren Siedlungsgebieten in der Türkei kann heute nicht mehr ausgegangen werden.

Diese Schlussfolgerung, die von vielen deutschen Verwaltungsgerichten geteilt wird (vgl. nur OVG Nds., Urt. v. 17.7.2007, AuAS 2007, 275; OVG NRW, Urt. v. 14.2.2006, ZAR 2006, 215) ergibt sich jedoch nicht aus dem Ansatz des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz, das bezweifelt hat, ob die yezidische Bevölkerung überhaupt noch eine für diese Annahme ausreichend große Gruppe darstelle (so Urt. v. 5.6.2007, AuAS 2007, 213). Vielmehr ergibt sich dieser Schluss aus den vorliegenden Erkenntnismitteln der letzten Jahre zu diesem Thema und - da sich diese häufig widersprechen - ihrer Bewertung durch die Rechtsprechung. Der Einzelrichter teilt dabei die Einschätzung des Verwaltungsgerichts Hannover, wonach es in den letzten Jahren an einem überragenden unabhängigen Sachverständigen zu Fragen der Yeziden in der Türkei gefehlt habe (so Urt. v. 19.12.2007 - 1 A 2781/07 -). Zutreffend wird weiter ausgeführt, dass der Gutachter Baris diese Rolle nicht einnehmen konnte, zumal manche Ausführungen in seinen Gutachten, wie die nachfolgende aus jenem vom 17.4.2006, den Leser ratlos zurücklassen ("Der verschleiernde Bezug zum Yezidentum und die bedingte Offenheit dem Islam gegenüber ermöglichte zwar ein relativ unbehelligtes Leben zu rechtfertigen, doch verbergen sich hier unter Integration sozialpsychologischer Erkenntnisse bezüglich des Glaubens eine wahre Wahrheit und eine Art Ambivalenz der Identitätspsychose"). Vor diesem Hintergrund überzeugt die Einschätzung des Oberverwaltungsgerichts Niedersachsen (a.a.O.) und des Verwaltungsgerichts Hannover (a.a.O.), dass die Bewertungen von Vorfällen der letzten Jahre in den Siedlungsgebieten der Yeziden in vielen - wenn auch keineswegs in allen - Fällen durch die Stellungnahmen des Auswärtigen Amtes zutreffender erfolgte, als durch jene des Yezidischen Forums e.V. Daher lässt sich die Behauptung einer andauernden flächendeckenden mittelbaren Gruppenverfolgung der Yeziden in allen Siedlungsgebieten der Türkei nicht mehr aufrecht erhalten.

bb) Gleichwohl ist aus den besonderen Umständen des Einzelfalls bei einer Rückkehr des Klägers in seinen Herkunftsstaat eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit noch nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen.

Denn der Kläger stammt aus dem Dorf Yenice (kurdisch: Harabiya) aus dem Kreis Midyat, Provinz Mardin. Das ist durch die Vorlage eines türkischen Passes im Asylfolgeverfahren zum Beweis seines Familiennamens und durch zahlreiche Bundesamts- und Gerichtsverfahren seiner Familienangehörigen mit dortiger Prüfung der Herkunft hinreichend belegt (vgl. insbesondere VGH Bad.-Württ., Urt, v. 23.4.1992 - A 12 S 762/90 -). Bei diesem Dorf handelte es sich um eine in früheren Zeiten nur von Yeziden bewohnte Ansiedlung, in der es immer wieder zu Übergriffen durch die muslimische Umgebung, teilweise auch mit Todesfolge, kam (so auch VGH Bad.-Württ., Urt. v. 4.3.1991 - A 12 S 1256/89 -).

Vom Gebiet um die Kreisstadt Midyat ist aber bekannt, dass dort die Familie C. eine beherrschende Stellung besaß (vgl. dazu Aydin, Ausk. v. 13.4.1999 an VG Berlin). Sie pflegte sehr gute Beziehungen zur türkischen Regierung und unterstützte die türkischen Sicherheitskräfte in ihrem bewaffneten Kampf gegen die kurdische Guerilla. Dabei war es gerade die Familie C., die sich in den bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen zwischen den türkischen Sicherheitskräften und der PKK seit Sommer 1984 hervortat und in großem Umfang der Regierung Dorfschützer zur Verfügung stellte, die dann zusammen mit den türkischen Sicherheitskräften gegen die PKK kämpften. Das Engagement der von der Familie C. gestellten Dorfschützer war so groß, dass sie, obgleich sie eine Vielzahl von Straftaten begingen, nie zur Verantwortung gezogen wurden. Sie waren dem türkischen Staat im seinem Kampf gegen die PKK nützlich und deshalb ließ man sie schalten und walten. Die vom Staat gebilligte Dorfschützerarmee war naturgemäß auch ein Machtfaktor in der Region Midyat und hat den Einfluss und die Macht der Familie C. noch weiter gesteigert (vgl. auch zum Ganzen OVG RP, Urt. v. 5.6.2007, a.a.O. m.w.N.).

Dieser Einfluss der Familie C. besteht aber nach den verfügbaren Erkenntnisquellen noch fort. Nicht nur das Yezidische Forum e.V. berichtet von Übergriffen von dieser Seite auf rückkehrwillige Yeziden in die Umgebung von Midyat (vgl. Stellungnahme zur Situation der Yeziden in der Türkei, Stand Juni 2006), sondern auch Übergriffe auf rückkehrwillige Christen wurden gemeldet (vgl. IMK - Menschenrechtsinformationsdienst Nr. 242 - 243 v. 28.5.2005 und zum Ganzen auch nochmals OVG RP, Urt. v. 5.6.2007, a.a.O.). Das Auswärtige Amt verzeichnet für den Kreis Midyat die geringste Ansiedlung von Yeziden (vgl. Ausk. v. 27.1.2007 an OVG Nds.). Damit ist eine Ansiedlung des Klägers in seinem Heimatdorf oder in der Kreisstadt derzeit nicht realisierbar.

Es ist auch nicht erkennbar, dass sich an der bisherigen Bewertung eines Fehlens einer Fluchtalternative, etwa in den Großstädten des Westens der Türkei, etwas geändert hätte. Denn eine solche Alternative verneinen, soweit ersichtlich, alle verfügbaren Auskünfte und Urteile. Dies gilt hier jedenfalls vor dem Hintergrund, dass der Kläger in der mündlichen Verhandlung glaubhaft angegeben hat, seinen Glauben auch im Bundesgebiet weiterhin zu praktizieren. Eine solche Glaubensausübung wäre ihm aber mangels Sheikh im Westen der Türkei nicht möglich.