VG München

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Zitieren als:
VG München, Urteil vom 07.02.2008 - M 24 K 07.50978 - asyl.net: M12592
https://www.asyl.net/rsdb/M12592
Leitsatz:

Keine verfestigte und nachhaltige Verbesserung der Menschenrechtslage in der Türkei, die hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung gewährleistet; der Widerruf ist gem. § 73 Abs. 2 a AsylVfG nur auf dem Ermessensweg möglich, wenn das Bundesamt vor dem 1.1.2005 den Widerruf geprüft und die Einleitung des Widerrufsverfahrens aktenkundig abgelehnt hat.

 

Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Asylanerkennung, Flüchtlingsanerkennung, Wahrscheinlichkeitsmaßstab, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Kurden, Menschenrechtslage, Reformen, politische Entwicklung, Verfolgungssicherheit, Ermessen, Altfälle, Zuwanderungsgesetz, Übergangsregelung
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; AsylVfG § 73 Abs. 2a
Auszüge:

Keine verfestigte und nachhaltige Verbesserung der Menschenrechtslage in der Türkei, die hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung gewährleistet; der Widerruf ist gem. § 73 Abs. 2 a AsylVfG nur auf dem Ermessensweg möglich, wenn das Bundesamt vor dem 1.1.2005 den Widerruf geprüft und die Einleitung des Widerrufsverfahrens aktenkundig abgelehnt hat.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Klage ist auch begründet. Der Bescheid des Bundesamtes vom 16. Oktober 2007, mit dem die Asylanerkennung des Klägers widerrufen wurde, ist rechtswidrig und verletzt ihn in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Im vorliegenden Fall ergibt sich die Rechtswidrigkeit des Widerrufs aus dem Fehlen der in § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG vorgesehenen tatbestandlichen Voraussetzungen (unter 1.) sowie auch aus dem Unterbleiben einer Ermessensentscheidung (unter 2.).

1. Zwischen den Beteiligten des vorliegenden Verfahrens, die auch die Beteiligten im durch das Verwaltungsgericht Regensburg entschiedenen Erstverfahren waren, steht rechtskräftig fest, dass der Kläger nach den damaligen Erkenntnissen einen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter hatte (§ 121 VwGO). Das Gericht teilt hier nicht die Meinung des Bundesamtes, die Flüchtlingsanerkennung des Klägers sei deshalb zu widerrufen, weil sich die erforderliche Prognose drohender politischer Verfolgung im Falle seiner Rückkehr in die Türkei nicht mehr treffen lasse.

Dabei ist im Rahmen der Widerrufsentscheidung derselbe Prognosemaßstab zu Grunde zu legen, der bereits im Rahmen der Anerkennungsentscheidung maßgeblich war.

Diese Grundsätze auf den vorliegenden Fall bezogen, ergibt sich, dass der Kläger, der nach den Feststellungen des verwaltungsgerichtlichen Urteils vom 26. Mai 1997 die Türkei vorverfolgt verlassen hat, in den Genuss des herabgesetzten Wahrscheinlichkeitsmaßstabes kommt. Das Gericht geht dabei heute - anders als das Bundesamt - nicht davon aus, dass derzeit im Falle einer Rückkehr des Klägers in die Türkei keine ernsthaften Zweifel an erneut einsetzender Verfolgung bestehen.

Zwar hat sich die Menschenrechtslage in der Türkei - wie allgemein bekannt und zuletzt im Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Türkei vom 25. Oktober 2007 dokumentiert - erheblich verbessert. Die Türkei hat insbesondere die sog. Kopenhagener Kriterien für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen nach der Feststellung des Europäischen Rates hinreichend erfüllt. Es wurden nachdrückliche Anstrengungen unternommen, die Anwendung von Folter zu unterbinden.

Gleichwohl geht das Gericht derzeit noch nicht davon aus, dass der Reformprozess bereits weit genug fortgeschritten ist, um eine menschenrechtswidrige Behandlung des Klägers durch türkische Sicherheitsorgane in der Praxis mit ausreichender Wahrscheinlichkeit ausschließen zu können (vgl. auch VG München, Urt. v. 9.3.2006, M 24 K 05.50902, Urt. v. 20.7.2006, M 24 K 06.50238, Urt. v. 24.5.2007, M 24 K 07.50151 und Urt. v. 19.7.2007, M 24 K 07.50054; OVG Lüneburg, Urt. v. 18.7.2006, 11 LB 264/05 nach juris). Auch nach dem jüngsten Lagebericht vom 25. Oktober 2007 hat der Mentalitätswandel noch nicht alle Teile von Polizei, Verwaltung und Justiz vollständig erfasst. Dabei ist eine der Hauptursachen für die immer noch vorkommende Folter nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes die nicht effiziente Strafverfolgung von folternden staatlichen Kräften. Im Lagebericht wird darauf hingewiesen, dass der Ruf nach entschiedeneren Maßnahmen zur Terrorbekämpfung mit dem aktuellen Wiedererstarken des PKK-Terrorismus lauter werde, nachdem es im Osten und Südosten der Türkei verstärkt zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen türkischen Sicherheitskräften und der PKK komme. Trotz aller Maßnahmen der Regierung gegen Folter und Misshandlungen im Rahmen ihrer "Null-Toleranz-Politik" und eines weiteren Rückgangs von bekannt gewordenen Fällen sei die Strafverfolgung von Foltertätern immer noch unbefriedigend. Auch derzeit noch würden türkische Gerichte in politischen Strafverfahren auf der Grundlage von erfolterten Geständnissen verurteilen. Es lägen auch keine zuverlässigen Erkenntnisse darüber vor, in welchem Umfang es zu inoffiziellen Festnahmen durch Sicherheitskräfte in Zivil mit anschließender Misshandlung und Folter komme (vgl. zum Gesamten: Lagebericht, S. 29 bis 33).

Das Gericht sieht daher noch keine verfestigte und nachhaltige Veränderung der Menschenrechtssituation in der Türkei, die aber Voraussetzung für einen Widerruf der Asylanerkennung ist (so auch: VG Ansbach, Urt. v. 6.3.2007, Asylmagazin 2007, 26; a.A.: VG Ansbach, Urt. v. 20.12.2006, Asylmagazin 2007, 28). In der Person des Klägers kommt konkret hinzu, dass er nach Ansicht des Verwaltungsgerichts Regensburg den türkischen Sicherheitsbehörden bekannt war und es deshalb die Wahrscheinlichkeit einer weiteren Überwachung und eventuellen Festnahme durch türkische Sicherheitsbehörden angenommen hat. Gerade nach dem Wiederaufflammen der Kämpfe gegen die PKK und der Einleitung eines Verbotsverfahrens gegen die DTP bedeutet allein der Verdacht des türkischen Staates hinsichtlich der Zugehörigkeit zur oder Unterstützung der PKK eine besondere Gefahr für den türkischen Staatsbürger. Das Verwaltungsgericht Regensburg ist in seiner Entscheidung vom 26. Mai 1997 davon ausgegangen, dass der Kläger vorverfolgt aus der Türkei ausgereist ist. Will die Beklagte ihm die Asylanerkennung nun wieder entziehen, hätte sie eindeutig darlegen müssen, dass sich die damals maßgeblichen Verhältnisse in der Türkei gerade in Bezug auf den Kläger nunmehr erheblich und dauerhaft geändert haben. Nur im Fall des Wegfalls der Umstände, aufgrund derer er als Asylberechtigter anerkannt worden ist, könnte es der Kläger nicht länger ablehnen, den Schutz des Staates seiner Staatsangehörigkeit (wieder) in Anspruch zu nehmen (vgl. BVerwG, Urt. v. 1.11.2005, a.a.O.). Dass eine Wiederholung der erlittenen Verfolgungsmaßnahmen mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen ist, hat die Beklagte jedoch nicht dargetan und ist auch nicht ohne weiteres ersichtlich.

2. Zur Frage der Anwendbarkeit von § 73 Abs. 2a AsylVfG auf vor und nach dem 1. Januar 2005 wirksam gewordene Widerrufsentscheidungen stellte das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG, Urt. v. 1.11.2005, DVBl 2006, 511) zunächst fest, dass sich diese Vorschrift nicht auf solche Altfälle bezieht, in denen bei Inkrafttreten der Bestimmung bereits ein Widerruf erfolgt war. In einer weiteren Entscheidung (Urt. v. 20.3.2007, NVwZ 2007, 1089 ff.) bejahte das Bundesverwaltungsgericht die Frage, ob § 73 Abs. 2a AsylVfG auch für den nach dem 1. Januar 2005 ausgesprochenen Widerruf einer vor diesem Zeitpunkt unanfechtbar gewordenen Anerkennung gilt mit der Maßgabe, dass die in Satz 1 der Vorschrift vorgesehene neue Drei-Jahres-Frist, nach deren Ablauf das Bundesamt spätestens erstmals die Widerrufsvoraussetzungen zu prüfen hat, bei einer Alt-Anerkennung erst ab 1. Januar 2005 zu laufen beginnt. Dies bedeute allerdings nicht, dass bei Alt-Anerkennungen nach Ablauf von drei Jahren nach Unanfechtbarkeit - ohne vorherige Negativentscheidung des Bundesamtes - ein Widerruf gleichsam automatisch nur noch im Wege der Ermessensentscheidung möglich sei. Vielmehr knüpfe die Neuregelung den Übergang zu einer Ermessensentscheidung nicht an den bloßen Zeitablauf von drei Jahren, sondern verlange eine vorherige sachliche Prüfung und Verneinung der Widerrufsvoraussetzungen durch das Bundesamt im Wege einer sog. Negativentscheidung.

Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat weiter mit Beschlüssen vom 4. Juli 2007 und 19. Oktober 2007 (23 B 07.30069 und 13a ZB 07.30427) unter Berufung auf diese Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts die Notwendigkeit einer Ermessensentscheidung des Bundesamtes über den Widerruf dann festgestellt, wenn es über die Alt-Anerkennung des Klägers in einem von der Ausländerbehörde angeregten Widerrufsverfahren bereits eine sachliche Prüfung durchgeführt, das Vorliegen der Widerrufsvoraussetzungen mit schriftlicher Begründung verneint und die getroffene Negativentscheidung der Ausländerbehörde mitgeteilt hatte. Habe aber eine vorausgegangene erste Prüfung stattgefunden und nicht zu einem Widerruf geführt, sei nach dem in § 73 Abs. 2a AsylVfG vorgesehenen neuen zweistufigen Verfahren eine Ermessensausübung in einem weiteren Widerrufsverfahren eröffnet und geboten.

Mit Beschluss vom 27. November 2007 (10 B 86/07) bestätigte das Bundesverwaltungsgericht, dass eine Ermessensentscheidung über den Widerruf nach § 73 Abs. 2a AsylVfG bei Alt-Anerkennungen erst in Betracht kommt, wenn das Bundesamt in einem vorangegangenem Verfahren die Widerrufsvoraussetzungen sachlich geprüft und verneint hat. Allerdings hat das Bundesverwaltungsgericht mit Beschluss vom 6. Dezember 2007 (10 B 146/07) die Beschwerde der Bundesrepublik gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 4. Juli 2007 für zulässig und begründet erachtet. Es hat die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache im Hinblick auf die Frage bejaht, ob § 73 Abs. 2a Satz 4 AsylVfG eine Ermessensentscheidung bei Widerrufsbescheiden des Bundesamtes, die nach dem 1. Januar 2005 ergehen, auch dann verlangt, wenn eine Prüfung der Widerrufsvoraussetzungen vor dem 1. Januar 2005 zu dem Ergebnis geführt hat, dass von dem Widerruf abgesehen wurde.

Hier hat das Bundesamt bereits auf Anfrage der Ausländerbehörde mit Schreiben vom 15. Dezember 2003 Anfang des Jahres 2004 die sachliche Prüfung durchgeführt, ob ein Widerrufsverfahren eingeleitet wird und das (damalige negative) Ergebnis der Ausländerbehörde mit Schreiben vom 16. Februar 2004 mitgeteilt. Damit kann ein Widerruf nach der derzeitigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs nur nach Ermessen vorgenommen werden.