VG Dessau-Roßlau

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Zitieren als:
VG Dessau-Roßlau, Urteil vom 22.01.2008 - 3 A 273/06 DE - asyl.net: M12539
https://www.asyl.net/rsdb/M12539
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Ausweisung, zwingende Ausweisung, Bewährung, Strafrestaussetzung, besonderer Ausweisungsschutz, schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, Wiederholungsgefahr, Generalprävention, Deutschverheiratung, deutsche Kinder, Stiefkinder, Ermessen
Normen: AufenthG § 53 Nr. 1; AufenthG § 53 Nr. 2; AufenthG § 56 Abs. 1 S. 1 Nr. 4; AufenthG § 56 Abs. 1 S. 2; AufenthG § 56 Abs. 1 S. 3; GG Art. 6 Abs. 1; EMRK Art. 8
Auszüge:

Die Klage ist auch begründet. Der angefochtene Bescheid des Landkreises Anhalt-Zerbst vom 09. Mai 2006 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ausweisungsverfügung ist jedenfalls dann, wenn - wie hier - bis zur Entscheidung des Gerichts kein Widerspruchsbescheid ergangen ist, der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung.

Ausgangspunkt der rechtlichen Beurteilung ist die Feststellung, dass der Kläger die Ausweisungstatbestände nach § 53 Nr. 1 und § 53 Nr. 2 AufenthG erfüllt.

Allerdings genießt der Kläger wegen der familiären Lebensgemeinschaft mit seiner Ehefrau und seiner Tochter besonderen Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG. Nach § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG wird ein Ausländer, der besonderen Ausweisungsschutz nach Satz 1 genießt, nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen. Schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung liegen dabei in der Regel u.a. in den Fällen des § 53 AufenthG vor (§ 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG).

Von der regelmäßigen Rechtsfolge des § 56 Abs. 1 Satz 3, also der zwingenden Ausweisung in Fällen des § 53 bzw. der Regelausweisung in Fällen des § 54 Nr. 5, 5 a und 7 AufenthG, ist daher nur dann abzusehen, wenn ein Ausnahmefall sowohl im Hinblick auf spezialpräventive wie auch auf generalpräventive Ausweisungsgründe vorliegt (vgl. Hailbronner, a.a.O., § 56 RdNr. 23 m.w.N.).

Im Fall des Klägers besteht zunächst kein atypischer Sonderfall dergestalt, dass für ihn eine Wiederholungsgefahr ausgeschlossen werden könnte.

Sind demnach unter spezialpräventiven Gesichtspunkten gleichwohl keine atypischen Besonderheiten erkennbar, so ist auch in generalpräventiver Hinsicht nicht ersichtlich, dass es sich in Bezug auf den Kläger um einen besonders gelagerten Fall handelt. Wegen der vom illegalen Rauschgifthandel ausgehenden schwerwiegenden Gefahren ist eine Ausweisung in Fällen dieser Art aus generalpräventiven Gründen grundsätzlich gerechtfertigt. Die vom Kläger begangenen Betäubungsmittelstraftaten wiegen auch besonders schwer, weshalb ein erhebliches Bedürfnis dafür besteht, im Rahmen einer kontinuierlichen Ausweisungspraxis andere Ausländer von der Begehung derartiger Straftaten abzuhalten.

Damit liegt ein Tatbestand vor, der nach § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG in der Regel zur Ausweisung des Klägers führen muss. Von dieser Regel kann nur abgewichen werden, wenn ein Ausnahmefall vorliegt. Dabei ist zu beachten, dass das Vorliegen eines schwerwiegenden Ausweisungsgrundes bereits feststeht, da dies Voraussetzung für die Anwendung des Satzes 4 ist. Es ist daher nur noch zu prüfen, ob ausnahmsweise private Interessen des Ausländers an seinem Verbleib im Bundesgebiet überwiegen, wobei namentlich auf die im § 55 Abs. 3 AufenthG genannten Aspekte einzugehen ist (vgl. Hailbronner, a.a.O., § 56 Rdnr. 51). Zu den im Rahmen des § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG zu prüfenden Umständen gehören insbesondere auch die Folgen der Ausweisung für die Familienangehörigen des Ausländers, die sich rechtmäßig in Deutschland aufhalten und mit ihm in einer Lebensgemeinschaft leben (vgl. § 55 Abs. 3 Nr. 2 AufenthG). Ob ein Ausnahmefall vorliegt, der das Absehen von der Regelausweisung rechtfertigt, ist ein gerichtlich voll nachprüfbarer Umstand (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 31. Juli 1996 - 13 S 466/96 -, InfAuslR 1996, 333, 335 m.w.N.; VGH Kassel, Urt. v. 10. August 1992 - 12 UE 2254/89 -, NVwZ-RR 1993, 432, 436).

Im zugrunde liegenden Fall ist zunächst nicht übersehbar, dass die Ausweisung des Klägers voraussichtlich auch für seine Ehefrau sehr negative Folgen haben dürfte; als Mutter von drei kleinen Kindern dürfte ihr die Fortsetzung ihrer Ausbildung ohne die Unterstützung und Hilfe durch den Kläger sehr schwer fallen, wenn nicht unmöglich werden. Allerdings handelt es sich insoweit um rein berufliche Nachteile, die typischerweise mit der Ausweisung des ausländischen Ehepartners verbunden sein können und die daher noch keinen Ausnahmefall im obigen Sinne begründen.

Einen solchen Ausnahmefall sieht die Kammer hier aber aufgrund des geringen Lebensalters der drei deutschen Kinder des Klägers als gegeben an, für die dessen Ausweisung eine ungewöhnliche Härte bedeuten würde. Bei der Frage, weiche Folgen die Ausweisung des Klägers für seine Familienangehörigen hätte (vgl. § 55 Abs. 3 Nr. 2 AufenthG), sind neben der Beziehung zu seiner leiblichen Tochter auch die Beziehungen des Klägers zu seinen 6 und 7 Jahre alten Stiefsöhnen zu berücksichtigen. Denn Art. 6 Abs. 1 GG, der Ehe und Familie unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stellt, umfasst auch die Beziehung des Stiefvaters zu den aus einer früheren Verbindung seiner jetzigen Ehefrau stammenden Kindern. Das verfassungsrechtliche Gebot, Ehe und Familie als Gemeinschaft von Eltern und Kindern zu schützen, kann nicht davon abhängen, ob das Kind vom Ehemann seiner Mutter abstammt. Unter den Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG fallen daher auch solche Beziehungen, die trotz fehlender Blutsverwandtschaft ein der familiären Verantwortlichkeit nachgebildetes Verhältnis darstellen. Entscheidend ist nur, ob die Beziehung am Bild der im Normalfall auf Verwandtschaft beruhenden Familie orientiert ist (vgl. VGH Bad.-Württemberg, Beschl. v. 29. März 2001 - 13 S 2643/00 -, InfAuslR 2001, 283, 284; OVG Hamburg, Beschl. v. 10. November 1997 - OVG Bs VI 170/96 - InfAuslR 1998, 104, 105 m.w.N.), was hier unzweifelhaft zu bejahen ist.

Für die 6 bzw. 7 Jahre alten Stiefsöhne sowie die fünfjährige leibliche Tochter des Klägers würde dessen Ausweisung eine besondere, die Annahme eines Ausnahmefalls rechtfertigende Härte begründen. Durch das Gesetz zur Reform des Kindschaftsrechts von 1997 wurde das Kindeswohl in den Mittelpunkt gestellt und die Beziehung jedes Elternteils zu seinem Kind als grundsätzlich schutz- und förderungswürdig anerkannt. Die gewachsene Einsicht in die Bedeutung des Rechts des Kindes auf Umgang mit beiden Elternteilen hat auch Auswirkungen auf die Auslegung und Anwendung der ausländerrechtlichen Bestimmungen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 08. Dezember 2005 - 2 BvR 1001/04 - Juris). Im Falle der Ausweisung des Klägers käme es zu einer langfristigen Trennung der Kinder von ihrem (Stief-)Vater, der für diese offenbar auch eine wichtige Bezugsperson darstellt. Bei einem kleinen Kind - wie auch den Kindern des Klägers - schreitet aber die Entwicklung sehr schnell voran, so dass selbst eine verhältnismäßig kurze Trennungszeit im Lichte von Art. 6 Abs. 2 GG für das Kind schon unzumutbar lang sein kann. Ein kleines Kind kann möglicherweise den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung nicht begreifen und diese rasch als endgültigen Verlust erfahren (vgl. BVerfG, Beschl. v. 23. Januar 2006 - 2 BvR 1935/05 -, NVwZ 2006, 682, 683 m.w.N.; v. 31. August 1999 - 2 BvR 1523/99 -, NVwZ 2000, 59, 60). Aufgrund des geringen Lebensalters der Kinder des Klägers und ihrer sehr schnell voranschreitenden Entwicklung lässt sich diese Härte auch nicht ohne Weiteres durch eine auf Antrag in der Regel zu erfolgende sachgerechte Befristung der Wirkungen der Ausweisung (vgl. § 11 Abs. 1 Satz 1 und 3 AufenthG) oder durch Besuchserlaubnisse (vgl. § 11 Abs. 2 Satz 1 AufenthG) ausreichend mildern.

Ist - wie hier - das Vorliegen eines Ausnahmefalles zu bejahen, so wird die Regelausweisung zu einer Ausweisung nach Ermessen herabgestuft (vgl. VGH Baden-Württemberg, a.a.O. m.w.N.). Die Behörde hat also im Ermessenswege darüber zu entscheiden, ob sie die Ausweisung verfügt. Eine solche Ermessensentscheidung ist hier weder mit dem angefochtenen Bescheid des Landkreises Anhalt-Zerbst noch zu einem späteren Zeitpunkt erfolgt, da auf den vom Kläger erhobenen Widerspruch kein Widerspruchsbescheid ergangen ist.