VG München

Merkliste
Zitieren als:
VG München, Urteil vom 06.11.2007 - M 24 K 07.50603 - asyl.net: M12529
https://www.asyl.net/rsdb/M12529
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, geschlechtsspezifische Verfolgung, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, Frauen, Zwangsheirat, Prostitution, Ehrenmord, Frauenhändler, Menschenhändler, soziale Gruppe, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, interne Fluchtalternative, interner Schutz, Verfolgungssicherheit, Existenzminimum
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1 Bst. d; AufenthG § 60 Abs. 7; RL 2004/83/EG Art. 8 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 8 Abs. 2
Auszüge:

Die zulässige Klage ist nur im zweiten Hilfsantrag begründet.

2. Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf die Feststellung, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegt (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

2.2. Bei seiner Entscheidung geht das Gericht von folgendem Sachverhalt aus:

Die Klägerin, die aus einem sehr kleinen, nahe der Stadt D. liegenden, türkischen Dorf stammt und nach nur dreijährigem Schulbesuch die Grundschule verlassen hat, wurde mit 18 Jahren gezwungen, ihren Cousin zu heiraten. Nach 14-jähriger Ehe, die geprägt war von gewalttätigen Übergriffen des Ehemanns, kehrte sie für kurze Zeit in ihr Elternhaus zurück, wo sie jedoch den Anfeindungen ihrer Familie, insbesondere ihrer Brüder, wegen der Auflösung der Ehe ausgesetzt war. Um dieser für die unerträglichen Situation zu entgehen, zog sie nach Is. zu einem anderen türkischen Mann, den sie auf einem Basar in D. kennen gelernt hatte. Auch dieser Mann unterdrückte sie. Um der zweiten Ehe entfliehen zu können, schloss sie sich auf Vermittlung einer Bekannten einem Frauenhändlerring an, der sie zwang, sich an verschiedene Männer zu verkaufen. Von dieser Tätigkeit als Prostituierte hat ihre Familie erfahren. Bei einer Rückkehr in die Türkei befürchtet die Klägerin Übergriffe durch Mitglieder ihrer Familie, ihre beiden ehemaligen Ehemänner und Verantwortliche des Frauenhändlerrings.

2.3 Unter Berücksichtigung der gesetzlichen Anforderungen kann sich die Klägerin bei dem von ihr erlittenen Schicksal nicht auf ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 AufenthG berufen. Ihre Gefährdung knüpft nicht an eines der dort geschützten Rechtsgüter an. In Betracht kommt hier nur eine geschlechtsspezifische Verfolgung der Klägerin, die nachWortlaut und Systematik der Vorschrift die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe voraussetzt. Eine Definition des Begriffs der "bestimmten sozialen Gruppe" findet sich nicht im Aufenthaltsgesetz, dagegen aber in Art. 10 Abs. 1 Buchst. d QRL. Eine Gruppe gilt danach insbesondere dann als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben, oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Das Merkmal der sozialen Gruppe ist damit durch identitätsprägende gemeinsame Merkmale gekennzeichnet, die so grundlegend sind, dass niemand gezwungen werden darf, sie aufzugeben, sofern es sich nicht ohnehin um unveränderliche Merkmale handelt (Hailbronner, AuslR, Stand Okt. 2007, RdNr. 48 zu § 60 AufenthG). Daneben verlangt es, dass die deutlich abgegrenzte Identität als solche von der die Gruppe umgebenden Gesellschaft wahrgenommen wird und wegen der Andersartigkeit zu einer Schutzlosigkeit bzw. Verfolgungsmaßnahmen führt (Hailbronner, a.a.O., RdNr. 49 zu § 60 AufenthG).

Die zweimalige Trennung der Klägerin und ihre Tätigkeit als Prostituierte stellen weder ein angeborenes Merkmal noch einen unveränderlichen Hintergrund oder ein(e) für die Identität oder das Gewissen bedeutsames Merkmal oder Überzeugung dar. Im Gegenteil: Die Klägerin identifiziert sich nach ihrem eigenen Bekunden nicht mit ihrem Lebenslauf, sondern betrachtet weder ihre beiden gescheiterten Ehen als Erfolg auf ihrem Lebensweg, geschweige denn ihre Zeit als Prostituierte. Gerade für diesen Lebensabschnitt findet sie lediglich umschreibendeWorte, schildert ihn aber nicht mit direkten Worten. Auch die türkische Gesellschaft nimmt "die Prostituierten" nicht als deutlich abgrenzbare Gruppe mit eigener, hergebrachter (Gruppen-)Identität wahr und knüpft daran Verfolgungshandlungen.

3. Die Klägerin kann sich jedoch auf ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG berufen.

Bei einer Rückkehr in die Türkei hat sie Nachstellungen durch ihre beiden ehemaligen Ehemänner, durch die Verantwortlichen des Frauenhändlerrings und insbesondere durch ihre männlichen Familienangehörigen zu befürchten, die in eine Gefahr für Leib und Leben münden können.

4. Die Klägerin hat auch keine Möglichkeit, internen Schutz nach Art. 8 Abs. 1 und 2 QRL zu erlangen. Nach Art. 8 Abs. 1 QRL benötigt ein Ausländer keinen internationalen Schutz, sofern in einem Teil des Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung bzw. keine tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, besteht und von dem Ausländer vernünftigerweise verlangt werden kann, dass er sich in diesem Landesteil aufhält.

Zum einen hat das Gericht schon erhebliche Zweifel daran, dass sich die Klägerin der ihr drohenden Verfolgung durch ihre beiden ehemaligen Ehemänner, die Verantwortlichen des Frauenhändlerrings und ihre männlichen Familienangehörigen durch Umsiedlung in eine westtürkische Großstadt wie Istanbul oder Ankara entziehen kann. Es erscheint nicht als sicher, dass diese Personen von ihrer Rückkehr in die Türkei und ihrem Aufenthalt in der Großstadt nicht auf irgendeine Weise Kenntnis erlangen werden, ihre Familie insbesondere dann, wenn sie den Versuch unternimmt, mangels eigener finanzieller Mittel staatliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Die Klägerin hat in den Großstädten insbesondere keine Verwandten, unter deren Schutz sie sich stellen könnte und die in der Lage wären, sie aufzunehmen und zumindest für eine Übergangszeit zu versorgen. Als Frau mit abgebrochener Schullaufbahn und ohne Berufsausbildung könnte sie sich allenfalls durch Gelegenheitsarbeiten über Wasser halten, wäre jedoch der Gefahr ausgesetzt, in Kriminalität und Prostitution abzurutschen. Dies legt bereits ihre Äußerung in der mündlichen Verhandlung nahe, in ihrer Verzweiflung nach der Trennung von ihrem ersten Ehemann wäre sie mit jedem mitgegangen, der sie mitgenommen hätte, und zeigt auch ihr bereits einmaliges Abrutschen in das Milieu der Prostitution. Die Erlangung eines wirtschaftlichen Existenzminimums könnte die Klägerin damit wohl nur unter Aufnahme einer "entwürdigenden" Tätigkeit sicherstellen, was ihr nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht zumutbar ist (BVerwG, Beschl. v. 17.5.2005, 1 B 100/05). Nach dem Fortschrittsbericht Türkei der Europäischen Union vom 8. November 2006 gibt es nach offiziellen Quellen im ganzen Land nur insgesamt 30 Zufluchtsstätten für Frauen (dort S. 18). Dass gerade die Klägerin ohne fremde Hilfe dort einen Platz findet, ist damit realistischer Weise nicht zu erwarten. Angesichts dessen kann sie nicht darauf verwiesen werden, internen Schutz in der Türkei zu suchen. Eine auf Dauer gesicherte menschenwürdige Existenz erscheint nicht möglich (vgl. auch VG Stuttgart, Urt. v. 29.1.2007, in dem vergleichbaren Fall einer 23-jährigen Türkin).

Auch der Einwand, wenn sie in Deutschland, einem fremden Land, leben könne, sei ihr dies erst recht in einer Großstadt in der Türkei, ihrem Heimatland, zuzumuten, überzeugt nicht. Anders als in einer türkischen Großstadt ist hier davon auszugehen, dass die Klägerin umfangreiche Hilfe durch soziale Einrichtungen erfahren wird, bis sie Fuß gefasst hat.