VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 26.11.2007 - A 11 K 5117/07 - asyl.net: M12481
https://www.asyl.net/rsdb/M12481
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Kurden, HADEP, Mitglieder, DEHAP, DTP, PKK, Verdacht der Unterstützung, Menschenrechtslage, Reformen, politische Entwicklung, Folter
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Die zulässige Klage ist begründet.

Nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG sind – vorbehaltlich des Satzes 3 – die Anerkennung als Asylberechtigter und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen.

Dem Kläger wurde Asyl und die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, da er wegen seiner HADEP-Mitgliedschaft in das Blickfeld türkischer Sicherheitskräfte geraten ist.

Das Bundesamt hat in dem angefochtenen Widerrufsbescheid ausgeführt, die Sachlage in der Türkei habe sich grundlegend geändert; die Türkei habe erhebliche Fortschritte hinsichtlich der Wahrung der Menschenrechte gemacht. Konkrete Bezüge auf den Fall des Klägers in seiner speziellen Situation enthält die Begründung des angefochtenen Widerrufsbescheids jedoch nicht. Ungeachtet des Reformprozesses in der Türkei, der in dem angefochtenen Bescheid ausführlich beschrieben wird, sind im Hinblick auf rechtsstaatliche Strukturen und die Einhaltung von Menschenrechten nach wie vor erhebliche Defizite in der tatsächlichen Umsetzung der Reformen zu verzeichnen. Ein allgemeiner gesellschaftlicher Bewusstseinswandel und eine praktische Umsetzung der Reformen in der Türkei ist noch nicht in einer Weise erfolgt, die es rechtfertigen könnte, von einer nachhaltigen Verbesserung der Menschenrechtslage – auch im Hinblick auf das Verhalten der Sicherheitsorgane – auszugehen. Trotz der von der türkischen Regierung proklamierten "Null-Toleranz-Politik" gegenüber Folter und menschenrechtswidrigen Maßnahmen in Polizeihaft kommt es nach wie vor zu Folter und Misshandlungen durch staatliche Kräfte, insbesondere in den ersten Tagen des Polizeigewahrsams, ohne dass es dem türkischen Staat bislang gelungen ist, dies wirksam zu unterbinden (vgl. Kaya, Gutachten vom 25.10.2004 an OVG Münster, Gutachten vom 10.09.2005 an VG Magdeburg und vom 08.08.2005 an VG Sigmaringen; Oberdiek, Gutachten vom 02.08.2005 an VG Sigmaringen; Aydin, Gutachten vom 25.06.2005 an VG Sigmaringen; ai, Stellungnahme vom 20.09.2005 an VG Sigmaringen; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Zur aktuellen Situation – Mai 2006 und Oktober 2007). Selbst das Auswärtige Amt weist in seinem Lagebericht vom 25.10.2007 darauf hin, dass es noch nicht gelungen sei, Folter und Misshandlungen vollständig zu unterbinden. Der EU-Fortschrittsbericht der Kommission vom 09.11.2006 attestiert der Türkei zwar Fortschritte auch im Bereich der Justiz und der Menschenrechte. Die Türkei müsse aber in einigen Bereichen die Menschenrechtslage wesentlich verbessern. Noch immer werde – insbesondere außerhalb regulärer Haft – in der Türkei gefoltert. Die Einhaltung der Menschen- und Minderheitenrechte besonders in den Kurdengebieten werde nach wie vor nicht europäischen Maßstäben gerecht.

Darüber hinaus übersieht das Bundesamt auch, dass sich die Situation von Mitgliedern der HADEP, DEHAP und nun der DTP in der Türkei keineswegs verändert hat. Die Parteien HADEP, DEHAP und DTP werden von den türkischen Sicherheitskräften weiter als der verlängerte Arm der PKK betrachtet; deren Mitgliedern wird deshalb eine Nähe zur PKK nachgesagt (vgl. Kaya, Gutachten vom 28.09.2007 an VG Düsseldorf; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Zur aktuellen Situation – Oktober 2007 – und Gutachten vom 23.02.2006). Aufgrund dieses Verdachts werden Mitglieder der HADEP/DEHAP/DTP landesweit unter Druck gesetzt, observiert, angeklagt und gefoltert (vgl. Oberdiek, Gutachten vom 28.02.2003 an OVG Greifswald; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Gutachten vom 23.02.2006).

In der Rechtsprechung wird weiter nahezu einhellig die Einschätzung vertreten, dass Folter in der Türkei noch so weit verbreitet ist, dass von einer systematischen, dem türkischen Staat zurechenbaren Praxis, nicht lediglich von Exzesstaten einzelner Angehöriger der Sicherheitskräfte auszugehen ist (vgl. OVG Münster, Urt. v. 26.05.2004 - 8 A 3852/03.A - Juris = Asylmagazin 10/2004, 30 und Urt. v. 19.04.2005 - 8 A 273/04.A - Juris; OVG Koblenz, Urt. v. 12.03.2004 - 10 A 11952/03 - Juris = Asylmagazin 7–8/2004, 27; OVG Weimar, Urt. v. 18.03.2005 - 3 KO 611/99 -, Asylmagazin 7–8/2005, 34; OVG Greifswald, Urt. v. 29.11.2004 - 3 L 66/00 -, Asylmagazin 1–2/2005, 32; OVG Saarland, Urt. v. 01.12.2004 - 2 R 23/03 -, Asylmagazin 4/2005, 30; OVG Bautzen, Urt. v. 19.01.2006 - A 3 B 304/03 -; VG Berlin, Urt. v. 01.03.2006, Asylmagazin 7–8/2006, 37; VG Frankfurt, Urt. v. 02.03.2006, Asylmagazin 6/2006, 20; VG Weimar, Urt. v. 30.06.2005 - 2 K 20643/04 -; VG Düsseldorf, Urt. v. 16.06.2006 - 26 K 1747/06 -; VG Düsseldorf, Urteil vom 24.08.2006 - 4 K 1784/06.A - juris und Urteil vom 24.01.2007 - 20 K 4697/05.A - juris; VG Ansbach, Urteil vom 06.03.2007, AuAS 2007, 141; VG Münster, Urteil vom 08.03.2007 - 3 K 2492/05.A - juris; VG Bremen, Urt. v. 30.06.2005 - 2 K 1611/04 -). Die neuerliche Zunahme von Spannungen im Südosten der Türkei hat im Übrigen dazu geführt, dass das türkische Parlament am 29.06.2006 das Anti-Terror-Gesetz verschärft hat. Danach werden mehr Taten als bisher als terroristisch eingestuft und Festgenommene erhalten später als bisher Zugang zu einem Anwalt. Die Gesetzesänderung erweitert weiter die Erlaubnis zum Schusswaffengebrauch, die Möglichkeit, Presseorgane zu verbieten sowie die Rechte von Verteidigern einzuschränken (vgl. hierzu VG Minden, Urteil v. 28.07.2006 - 8 K 275/06.A - Juris; VG Düsseldorf, Urt. v. 18.12.2006 - 4 K 5335/06.A - Juris, jew. m.w.N.). Außerdem wurde die Verschärfung der Strafbarkeit bei Folter und Misshandlung faktisch revidiert (vgl. ai, Stellungnahme v. 29.10.2006 an VG Ansbach).

Nach allem ist noch keine dauerhafte Veränderung der Lage in der Türkei eingetreten, so dass die Voraussetzungen für die seinerzeit erfolgte Zuerkennung von Asyl und der Flüchtlingseigenschaft nicht weggefallen sind. Damit ist für den angefochtenen Widerrufsbescheid des Bundesamtes kein Raum.