VG Sigmaringen

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Zitieren als:
VG Sigmaringen, Beschluss vom 12.01.2008 - 6 K 2712/07 - asyl.net: M12386
https://www.asyl.net/rsdb/M12386
Leitsatz:

Es spricht vieles dafür, dass der Fall der "Scheinehe" nunmehr abschließend in § 27 Abs. 1 a Nr. 1 AufenthG geregelt ist, so dass die Beweislast die Behörde trägt (im Ergebnis offengelassen).

 

Schlagwörter: D (A), Aufenthaltserlaubnis, Familienzusammenführung, Ehegattennachzug, Deutschverheiratung, Verlängerung, Scheinehe, eheliche Lebensgemeinschaft, Beweislast, Sachaufklärungspflicht, Vorhalt, Glaubwürdigkeit, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren)
Normen: AufenthG § 27 Abs. 1; AufenthG § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 1; AufenthG § 28 Abs. 2; GG Art. 6 Abs. 1; AufenthG § 27 Abs. 1a Nr. 1; RL 2003/86/EG Art. 16 Abs. 2; VwGO § 80 Abs. 5
Auszüge:

Es spricht vieles dafür, dass der Fall der "Scheinehe" nunmehr abschließend in § 27 Abs. 1 a Nr. 1 AufenthG geregelt ist, so dass die Beweislast die Behörde trägt (im Ergebnis offengelassen).

(Leitsatz der Redaktion)

 

Der nur teilweise zulässige Antrag ist – soweit zulässig – begründet.

Die Kammer hält es im Rahmen der summarischen Prüfung der Sachlage im Eilverfahren bei Abwägung der widerstreitenden Interessen nach Aktenlage zur Annahme offener Erfolgsaussichten für hinreichend wahrscheinlich, dass der Antragsteller zumindest einen Anspruch auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis nach §§ 27 Abs. 1, 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 2 Satz 2 AufenthG, was für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs hinsichtlich der Abschiebungsandrohung und der Ablehnungsentscheidungen genügt. Die besonderen Umstände des hier zu beurteilenden – noch nicht zur Gänze aufgeklärten – Sachverhalts lassen die Zweifel am Bestehen einer ehelichen Lebensgemeinschaft zwischen dem Antragsteller und Frau W. jedenfalls im gerichtlichen Eilverfahren in den Hintergrund treten.

Die Schutzwirkung des Art. 6 Abs. 1 GG und der auf das Vorliegen einer ehelichen Lebensgemeinschaft abstellenden ausländerrechtlichen Vorschriften greift nicht schon dann ein, wenn der Ausländer auf den bloßen Bestand einer formal ordnungsgemäß eingegangenen Ehe, also auf die schlichte Tatsache seines Verheiratetseins, verweisen kann. Vielmehr kommt es entscheidend darauf an, ob die durch das Institut der Ehe miteinander verbundenen Personen auch der Sache nach in einer ehelichen Lebensgemeinschaft im Sinne einer die persönliche Verbundenheit der Eheleute zum Ausdruck bringenden Beistandsgemeinschaft leben. Diese eheliche Lebensgemeinschaft, die sich nach außen im Regelfall in einer gemeinsamen Lebensführung, also in dem erkennbaren Bemühen dokumentiert, die alltäglichen Dinge des Lebens miteinander in organisatorischer, emotionaler und geistiger Verbundenheit zu bewältigen, dreht sich im Idealfall um einen gemeinsamen Lebensmittelpunkt und wird daher regelmäßig in einer von den Eheleuten gemeinsam bewohnten Wohnung gelebt. Allerdings ist es nicht Sache des Staates, Eheleuten die Art und Weise des persönlichen Umgangs miteinander sowie die organisatorische Gestaltung des zu bewältigenden Alltags vorzuschreiben. Vielmehr steht es grundsätzlich im Belieben des Einzelnen, eine eigenverantwortliche Entscheidung darüber zu treffen, wie er das gemeinsame Leben mit seinem Ehegatten im Einzelnen gestaltet, so dass der Staat seiner Schutz- und Gewährleistungsfunktion auch dann nachzukommen hat, wenn sich die Eheleute etwa dazu entschließen, aus bestimmten sachlichen oder persönlichen Gründen, beispielsweise wegen einer Berufstätigkeit an verschiedenen Orten, ihre Lebensgemeinschaft nicht ständig in einer gemeinsamen Wohnung zu leben, sondern einen Teil ihrer Zeit an verschiedenen Orten verbringen. Voraussetzung ist aber, dass hierdurch die persönliche und emotionale Verbundenheit der Eheleute, ihr "Füreinander-Dasein" nicht in einer so nachhaltigen Weise aufgegeben wird, dass nicht mehr von einer Beistandsgemeinschaft, sondern allenfalls noch von einer bloßen Begegnungsgemeinschaft gesprochen werden kann, im Rahmen derer selbst regelmäßige Treffen und Freizeitaktivitäten nur noch den Charakter gegenseitiger Besuche miteinander befreundeter Personen haben (vgl. zu alledem nur Hess. VGH, Beschluss vom 16.01.2007 - 7 TG 2879/06 -, NVwZ-RR 2007, 491; Göbel-Zimmermann, ZAR 2006, 81, 85).

Für das Ausländerrecht bedeutet dies, dass Eheleute im Regelfall allein durch Vorlage ihrer Heiratsurkunde und durch den Nachweis, dass sie beide gemeinsam eine Wohnung bewohnen und dort einen gemeinsamen Haushalt führen, das Bestehen einer ehelichen Lebensgemeinschaft belegen können. Je mehr sich die individuelle Gestaltung einer Ehe indes nach dem äußeren Erscheinungsbild von diesem Regelfall entfernt, desto mehr bedarf es im Zweifelsfall zusätzlicher tatsächlicher Anhaltspunkte, um die Annahme zu rechtfertigen, dass die Beziehung der Ehegatten trotz der Zweifel auslösenden objektiven Umstände gleichwohl den inhaltlichen Kriterien entspricht, wie sie für eine eheliche Lebensgemeinschaft typisch sind. Derartige Anhaltspunkte sind vorrangig durchaus alltägliche, aber eine eheliche Beistandsgemeinschaft eben wesentlich prägende Umstände, die den Schluss rechtfertigen, dass im konkreten Fall trotz einer in ihrem äußeren Ablauf untypischen Gestaltung der ehelichen Beziehung dennoch die spezifische Verbundenheit der Ehegatten unverkennbar vorhanden ist. Solche Umstände können beispielsweise Zeiten gemeinsamer Freizeitbeschäftigung sein, gemeinsame Besuche bei Verwandten, Freunden und Bekannten, zusammen unternommene Reisen, gegenseitige Unterstützungshandlung in Fällen von Krankheit oder sonstiger Not, gemeinsames Wirtschaften, Einkaufen, Essen, gemeinsame Kindererziehung oder sonstige praktisch gelebte, deckungsgleiche Interessen der Eheleute, die einen Schluss auf ihre intensive persönliche Verbundenheit zulassen.

Nach den zum Aufenthaltsgesetz in seiner bis zum 28.08.2007 geltenden Fassung entwickelten Grundsätzen traf dabei den Ausländer im auf die Erteilung eines Aufenthaltstitels gerichteten Vornahmefall – wie hier betreffend Nrn. 2 und 3 des angefochtenen Bescheids – die objektive Beweislast (Feststellungslast) für das Bestehen einer ehelichen Lebensgemeinschaft, sodass er die nachteiligen Folgen der Nichterweislichkeit einer ehelichen Lebensgemeinschaft zu tragen hat(te). Im Abwehrfall, in dem sich der Ausländer gegen die behördliche Aufhebung eines ihm im Hinblick auf das Bestehen einer ehelichen Lebensgemeinschaft erteilten Aufenthaltstitels wendet – wie hier betreffend Nr. 1 des angefochtenen Bescheids –, traf bislang hingegen die Feststellungslast für das Nichtbestehen einer ehelichen Lebensgemeinschaft als tatsächliche Voraussetzung der Rechtswidrigkeit des erteilten Aufenthaltstitels die Behörde bzw. den Behördenträger (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 11.01.1995 - 13 S 2512/93 -, NVwZ 1995, 720; Hess. VGH, a.a.O.). Bei atypischer Gestaltung des ehelichen (Zusammen-)Lebens bestand dabei jedoch für den Ausländer die Obliegenheit, diejenigen tatsächlichen Umstände zu benennen, die den Schluss auf eine durch die persönliche Verbundenheit der Eheleute geprägte Beistandsgemeinschaft erlauben. Genügte der Ausländer dieser Darlegungslast, so griff wiederum die objektive Beweislast der Behörde ein, d. h. des Beweises bedurfte dann etwa die behördliche Behauptung, die vom Ausländer vorgebrachten – rechtlich erheblichen – Umstände lägen nicht vor. Die vorbezeichnete Obliegenheit des Ausländers (§ 82 Abs. 1 Satz 1 AufenthG, § 86 Abs. 1 Satz 1, 2. Halbsatz VwGO) beruhte auf der Erwägung, dass Ausländerbehörde – wie auch Gericht – als Außenstehende keine näheren Kenntnisse von den Abläufen innerhalb der Ehe des Ausländers haben, während dieser über sie verfügt und ihm nähere Angaben über die genannten alltäglichen, eine eheliche Beistandsgemeinschaft wesentlich prägenden Umstände zumutbar sind.

Die Kammer neigt bereits zu der Annahme, dass die dargelegten Maßgaben nach Inkrafttreten des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19.08.2007 (BGBl. S. 1970) nicht mehr uneingeschränkt gelten und dass nunmehr erhöhte Anforderungen an die behördlichen Darlegungen zum Verdacht einer sog. Scheinehe zu stellen sind. Die durch das Richtlinienumsetzungsgesetz in das AufenthG neu eingefügte Bestimmung des § 27 Abs. 1a Nr. 1 statuiert nämlich nunmehr ausdrücklich für den Fall der Scheinehe unter nahezu wörtlicher Übernahme der Formulierung aus Art. 16 Abs. 2 lit. b der Richtlinie 2003/86/EG des Rates betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. EU L 251/12) einen Ausschlussgrund. Nach § 27 Abs. 1a Nr. 1 AufenthG n.F. wird ein Familiennachzug nicht zugelassen, wenn "feststeht, dass die Ehe (...) ausschließlich zu dem Zweck geschlossen oder begründet wurde, dem Nachziehenden die Einreise ins und den Aufenthalt im Bundesgebiet zu ermöglichen". Anders als etwa bei sog. "Zwangsehen" (§ 27 Abs. 1a Nr. 2 AufenthG n.F.: "tatsächliche Anhaltspunkte") fordert der Gesetzgeber nunmehr für den speziellen Anwendungsbereich der Scheinehen bewusst (vgl. BT-Ds. 16/5065, S. 170, re. Sp.) und trotz der im Gesetzgebungsverfahren ausdrücklich vorgetragenen "Warnungen" in Bezug auf eine mit der Gesetzesänderung ggf. verbundene Verlagerung der Darlegungslasten (vgl. nur Dienelt, Sachverständigenanhörung des Innenausschusses vom 21.03.2007 A-Drs. 16(4)209 H -, S. 2 f.), dass die missbilligte Zweckbestimmung der Eheschließung "feststeht". Auch wenn die Gesetzesänderung die in § 27 Abs. 1 AufenthG niedergelegten Grundsätze unverändert gelassen hat, spricht nunmehr vieles dafür, dass für den speziell geregelten Fall der Scheinehen abschließend die Voraussetzungen des § 27 Abs. 1a AufenthG vorliegen müssen (a.A. VG Berlin, Urteil vom 05.09.2007 - 9 V 10.07). Dass das Vorliegen einer Scheinehe zwischen dem Antragsteller und Frau W. "feststeht", vermag die Kammer – trotz aller Zweifel – derzeit (das strafrechtliche Ermittlungsverfahren ist nach Aktenlage noch nicht abgeschlossen) nicht anzunehmen.

Die Auswirkungen der dargelegten Gesetzesänderung bedürfen aber keiner abschließenden Entscheidung. In Anbetracht der besonderen Umstände des hier zu beurteilenden Sachverhalts bewertet die Kammer die Interessen des Antragstellers an einem vorläufigen Verbleib im Bundesgebiet bereits nach den bislang geltenden Maßgaben höher als das öffentliche Interesse am Vollzug des Bescheids vom 09.11.2007.

Maßgebend für diese Einschätzung ist in erster Linie der Umstand, dass die Beziehung zwischen dem Antragsteller und seiner Ehefrau – unstreitig – bereits deshalb von der "typischen" Ausgestaltung einer Scheinehe abweicht, weil das Ehepaar und zudem auch die dazugehörigen Familien eng miteinander befreundet sind und – ebenfalls unstreitig – jeweils viel Zeit miteinander verbringen.

Darüber hinaus hat der Staat – wie dargelegt – die Vielgestaltigkeit der Ausgestaltung von (ehelichen) Lebensverhältnissen zu respektieren und zu akzeptieren. Eine Ehe geht des aus Art. 6 GG folgenden Schutzes weder durch das Fehlen einer Geschlechtsgemeinschaft verlustig noch durch den Umstand, dass in der Ehewohnung (auch) Dritte wohnen. Die rechtliche Ausgestaltung der ehelichen Lebensgemeinschaft in § 1353 Abs. 1 Satz 2 BGB verzichtet angesichts der heutigen Auffächerung früher wie selbstverständlich befolgter Ehemodelle darauf, fest umrissene Eheinhalte vorzuschreiben oder auch nur leitbildartig zu empfehlen, vielmehr bestimmen die Ehegatten für ihre Ehe den Inhalt des der Ausfüllung bedürftigen Begriffs der Lebensgemeinschaft weitgehend selbst (vgl. dazu Hahn, in: Bamberger/Roth, BeckOK BGB, § 1353, Rn 2).

Hinzu kommt, dass den Eheleuten die aufgedeckten Widersprüchlichkeiten nicht unmittelbar bei der Befragung vorgehalten worden sind, wodurch sich die Antragsgegnerin der Möglichkeit begeben hat, spontane – und damit in der Regel aussagekräftige – Äußerungen, Erklärungen und ggf. Richtigstellungen zu erhalten.