SG Nürnberg

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Zitieren als:
SG Nürnberg, Urteil vom 12.11.2007 - S 9 EG 27/05 - asyl.net: M12382
https://www.asyl.net/rsdb/M12382
Leitsatz:

Der Ausschluss von Ausländern mit einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen vom Bundeserziehungsgeld, wenn sie zugunsten der Kindererziehung auf eine Erwerbstätigkeit verzichten, ist verfassungswidrig.

 

Schlagwörter: D (A), Erziehungsgeld, Aufenthaltsbefugnis, Aufenthaltserlaubnis, Erlaubnisfiktion, Gleichheitsgrundsatz, Verfassungsmäßigkeit, Erwerbstätigkeit, Übergangsregelung, Antrag
Normen: BErzGG § 1 Abs. 6; AuslG § 30 Abs. 3; AuslG § 69 Abs. 3; AufenthG § 25 Abs. 4; GG Art. 3 Abs. 1; BErzGG § 24
Auszüge:

Der Ausschluss von Ausländern mit einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen vom Bundeserziehungsgeld, wenn sie zugunsten der Kindererziehung auf eine Erwerbstätigkeit verzichten, ist verfassungswidrig.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Klage ist mit dem zuletzt gestellten Antrag begründet.

Der angefochtene Bescheid des Beklagten vom 28.04.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.06.2005 hält einer gerichtlichen Überprüfung für den Zeitraum von 18.10.2004 bis 09.10.2005 nicht Stand. In diesem Zeitraum steht der Klägerin BErzG für ... zu.

Für den Zeitraum von 18.10. bis 31.12.2004 galt § 1 Abs. 6 BErzGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 09.02.2004 (BGBl. I, 206), wonach Ausländer, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedsstaates zur Europäischen Union oder eines der Vertragsstaaten des Europäischen Wirtschaftsraumes (EU/EWR-Bürger) haben, anspruchsberechtigt waren, wenn sie eine Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis besaßen, unanfechtbar als Asylberechtigte anerkannt wären öder das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG unanfechtbar festgestellt waren.

Diese Voraussetzungen waren bei der Klägerin nicht erfüllt, nachdem das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG durch die Zurücknahme der ausländerrechtlichen Klage gegenüber dem VGH (Az.: 15 B 99.30429) bestandskräftig geworden war. Die Klägerin war im Zeitraum von 18.10. bis 04.11.2004 im Besitz einer Aufenthaltsbefugnis nach § 30 Abs. 3 AuslG. Sie hatte am 03.11.2004 einen Antrag auf Verlängerung einer Aufenthaltsgenehmigung gestellt, während die zuständige Ausländerbehörde die Antwort des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge hinsichtlich eines Widerrufes der Asylberechtigung des Kindes ... abwarten wollte. Demgemäß galt nach § 69 Abs. 3 AuslG der Aufenthalt der Klägerin weiterhin als erlaubt, wobei der Klägerin offenbar keine diesbezügliche Bescheinigung erteilt worden war. Der Beklagte hat somit § 1 Abs. 6 BErzGG in der bis zum 31.12.2004 gültigen Fassung seinem Wortlaut nach korrekt vollzogen.

Für den Zeitraum ab 01.01.2005 galt § 1 Abs. 6 BErzGG in der ab 01.01.2005 gültigen Fassung vom 30.07.2004 (BGBl. I, 1950), wonach Ausländer, die nicht EU/EWR-Bürger waren, anspruchsberechtigt auf BErzG waren, wenn sie im Besitz einer Niederlassungserlaubnis (Nr. 1), einer Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke der Erwerbstätigkeit (Nr. 2), einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 1 und 2., den §§ 31, 37, 38 AufenthG (Nr. 3) oder einer Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke des Familiennachzugs zu einem Deutschen oder zu einer von den Nrn. 1 bis 3 erfassten Personen waren.

Die Voraussetzungen dieser Vorschrift erfüllte die Klägerin im Zeitraum von 01.01.2005 bis 09.10.2005 (ebenfalls) nicht, weil sie weder im Besitz einer Niederlassungserlaubnis, noch einer Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke der Erwerbstätigkeit, noch einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 1 und 2, den §§ 31, 37, 38 AufenthG war und auch keine Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke des Familiennachzugs hatte. Die Klägerin war ab 26.04.2005 bis zum 04.11.2005 im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 AufenthG, der in seinem rechtlichen Gehalt allerdings § 30 Abs. 2 AuslG entspricht, während die der Klägerin nach § 30 Abs. 3 AuslG erteilte Aufenthaltsbefugnis an sich nur die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG ermöglicht hätte.

Allerdings enthält § 1 Abs. 6 Satz 1 Nr. 3 b BErzGG eine planwidrige Lücke, die von der Kammer im Wege der verfassungskonformen Auslegung zu schließen ist; dabei handelt es sich zur Überzeugung der Kammer nicht um eine (nicht zulässige) verfassungsgemäße Auslegung über den gesetzlichen Wortlaut hinaus (vgl. dazu: BSG, Urteil vom 13.08.2002 - B 2 U 30/01 R; Urteil vom 30.01.2007 - B 2 U 22/05 R).

Die Klägerin wäre in verfassungsrechtlich bedenklicher Weise auch durch die Neufassung des § 1 Abs. 6 BErzGG vom Bezug von BErzG ausgeschlossen, obwohl ihr Aufenthalt verfestigt war und eine Erwerbstätigkeit erlaubt war. Nach Auffassung der Kammer kommen zwei Varianten einer Auslegung in Betracht: Entweder ist § 1 Abs. 6 Satz 1 Nr. 3 b BErzGG (in der Fassung ab 19.12.2006) dahingehend auszulegen, dass auch diejenigen Ausländer einbezogen werden, die im Besitz einer Arbeitserlaubnis waren, aber tatsächlich nicht erwerbstätig waren, oder die Übergangsregelung im Hinblick auf die Gesetzesbegründung ("Erweist sich im Einzelfall die Anordnung des Bundesverfassungsgerichts aus seinem Beschluss, 1 BvR 2515/95 vom 06.07.2004 als anwendbar, ist das bis zum 26.06.1993 geltende Recht anzuwenden, wenn dies günstiger ist") eine verfassungskonforme erweiternde Auslegung dahingehend, dass über die konkrete Fassung der Übergangsvorschrift des § 24 BErzGG hinaus § 1 Abs. 6 BErzGG in der ab 19.12.2006 geltenden Fassung anzuwenden ist, soweit nicht das bis zum 26.06.1993 geltende Recht anzuwenden ist, wenn dies günstiger ist.

Die Kammer hat die volle Überzeugung gewonnen, dass eine Auslegung des in § 1 Abs. 6 Satz 1 Nr. 3 b BErzGG in der ab 19.12.2006 geltenden Fassung enthaltenen Tatbestandsmerkmal "Elternzeit in Anspruch nimmt" dahingehend vorzunehmen ist, dass auch bei Ausländern mit einer (uneingeschränkten) Arbeitserlaubnis BErzG zu zahlen ist, wenn sie auf die Ausübung einer Tätigkeit zugunsten der Kindererziehung verzichten. Aus folgenden Gründen: Zunächst besteht ein innerer Wertungswiderspruch der vorbezeichneten Vorschrift zu § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 BErzGG, wonach Anspruch auf Erziehungsgeld hat, wer (u.a.) keine oder keine volle Erwerbstätigkeit ausübt; bei Ausländern mit bestimmten Aufenthaltsgenehmigungsarten dann jedoch den Anspruch auf BErzG von der Ausübung einer Erwerbstätigkeit abhängig zu machen, widerspricht insoweit dem Gesetzeszweck. Es widerspricht auch deutlich der Gesetzesbegründung, in der es wörtlich heißt: "Durch die Anknüpfung an die Erlaubnis zur Ausübung einer Beschäftigung wird der Zweck des Bundeserziehungsgeldgesetzes, nämlich die Sicherung der Wahlfreiheit zwischen Familie und Erwerbstätigkeit berücksichtigt. Dieses Ziel kann jedoch nur erreicht werden, wenn dem Elternteil, der das Kind betreut, eine Erwerbstätigkeit rechtlich erlaubt ist." Die konkrete Gesetzesfassung des § 1 Abs. 6 Satz 1 Nr. 3 b BErzGG ist erkennbar dadurch zustande gekommen, dass der Gesetzgeber die für das Bundeskindergeld bzw. EStG gefundene Gesetzesfassung auf das BErzGG (in der BR-Drucks. heißt es: "Entsprechend der Systematik der Änderung des Bundeskindergeldgesetzes") übertragen hat, dabei jedoch nicht die innere Logik der Kindergeldregelung, die für das BErzG nicht passt, berücksichtigt hat. Beim Kindergeld ist die Übergangsfassung nach Auffassung der Kammer systematisch nachvollziehbar, weil Ausländer (mit bestimmten Aufenthaltsgenehmigungsarten) ohne Erwerbstätigkeit (zwangsläufig) andere Sozialleistungen (z.B. Sozialhilfe oder Arbeitslosenhilfe) bezogen haben und dann bei der Berechnung des Bedarfs Kindergeld als Einkommen der Eltern bzw. zur Bedarfsdeckung der Kinder nicht berücksichtigt werden konnte, so dass eine fehlende Kindergeldzahlung sich im Ergebnis auf die Höhe anderer Sozialleistungen (z.B. Sozialhilfe) nicht rechtlich nachteilig auswirken konnte. Dies ist beim Bezug von Erziehungsgeld jedoch anders. Im Ergebnis muss daher die Möglichkeit zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit im Rahmen des § 1 Abs. 6 Satz 1 Nr. 3 b BErzGG, die über eine entsprechende Arbeitserlaubnis nachzuweisen ist - wenn darüber hinaus der Aufenthalt des Ausländers rechtlich verfestigt ist -, genügen.

Auch der ablehnende Bescheid vom 29.10.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.11.2004, mit dem ein erster Antrag auf BErzG vom 13.10.2004 abgelehnt worden war, steht einem Anspruch der Klägerin auf BErzG nicht entgegen. Der Antrag vom 18.10.2005 ist nämlich als Neuantrag (hiermit beantrage ich Erziehungsgeld für unsere Tochter) zu werten. Dieser Neuantrag vom 18.10.2005 entfaltet die Rückwirkung des § 4 Abs. 2 Satz 3 BErzGG (vgl. dazu: BayLSG, Urteil vom 19.07.2007 - L 14 KG 3/04). In der vorbezeichneten Entscheidung hat das BayLSG - und die Kammer folgt dieser Auffassung -, unmissverständlich herausgearbeitet, dass neben einem ("dornenreichen") Antrag nach § 44 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch stets auch ein Neuantrag gestellt werden kann, über den auf der Grundlage der jeweils geltenden Gesetzesfassung auch neu zu entscheiden ist und der auch die gesetzlich geregelte Rückwirkung des § 4 Abs. 2 Satz 3 BErzGG entfalten kann.