Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II verstößt gegen das Europäische Fürsorgeabkommen und ist insoweit nicht anwendbar; der Ausschluss ist ferner nicht anwendbar, wenn das Aufenthaltsrecht des Ausländers auf einer weiteren, dort nicht genannten Rechtsgrundlage fußt (hier: Ehegattennachzug).
Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II verstößt gegen das Europäische Fürsorgeabkommen und ist insoweit nicht anwendbar; der Ausschluss ist ferner nicht anwendbar, wenn das Aufenthaltsrecht des Ausländers auf einer weiteren, dort nicht genannten Rechtsgrundlage fußt (hier: Ehegattennachzug).
(Leitsatz der Redaktion)
Das Begehren der Antragstellerin auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ist in dem in der Beschlussformel festgelegten Umfang erfolgreich. Der vorläufige Rechtsschutz richtet sich bei der vorliegenden Fallgestaltung nach § 86b Abs. 2 SGG.
Der Antragstellerin stehen bei der in Verfahren dieser Art gebotenen summarischen Prüfung Leistungen nach dem SGB II zu.
Die Antragstellerin erfüllt die Anspruchsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II.
Gemäß § 30 Abs. 3 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - (SGB I) hat jemand den gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Diese Voraussetzungen sind bei der Antragstellerin zu bejahen. Ihr Aufenthaltsrecht als Unionsbürgerin mit niederländischer Staatsangehörigkeit ergibt sich aus § 2 Abs. 2 Nr. 1 Freizügigkeitsgesetz/EU. Die Vorschrift des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II, auf welche die Ablehnung gestützt wurde, ist hier anwendbar in der Fassung, die es durch das Gesetz zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze (vom 24. März 2006, BGBl I Seite 558) erhalten hat. Danach sind von der Anspruchsberechtigung nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II ausgenommen Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, ihre Familienangehörigen sowie Leistungsberechtigte nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes.
Wegen des europarechtlichen Hintergrundes der vorgenannten Regelung wird von Teilen der sozialgerichtlichen Rechtsprechung darin ein möglicher Verstoß gegen das in Artikel 12 EG-Vertrag verankerte Diskriminierungsverbot gesehen, während dem entgegengehalten wird, dass sich aus Artikel 24 der Richtlinie 2004/38 EG (Amtsblatt der Europäischen Union L 158, Seite 77) selbst ergebe, dass für derartige Fallgestaltungen der Aufnahmemitgliedstaat nicht verpflichtet sei, dem sich zur Arbeitsuche in dem jeweiligen Staat befindlichen Unionsbürger Sozialleistungen zu gewähren (vgl LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 3. November 2006 - L 20 B 248/06 AS ER - Informationsbrief Ausländerrecht 2007, Seite 114; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 14. November 2006 - L 14 B 663/06 AS ER - FEVS 58, Seite 311; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 25. April 2007 - L 19 B 116/07 AS ER - Informationsbrief Ausländerrecht 2007, Seite 317; dasselbe, Beschluss vom 5. September 2007 - L 29 B 828/07 AS ER -; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 17. September 2007 - L 7 SO 3970/07 ER - B; Hessisches LSG, Beschluss vom 13. September 2007 - L 9 AS 44/07 ER -; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 27. Juni 2007 - L 9 B 80/07 AS ER -; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 25. Juli 2007 - L 6 AS 444/07 ER -; derselbe Senat, Beschluss vom 2. November 2007 - L 6 AS 664/07 ER -; siehe auch Gutmann, Rosstäuscherei im Ausländersozialrecht, Informationsbrief Ausländerrecht 2007, Seite 309, 311 ff).
Der Ausschließungsgrund des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II - seine Vereinbarkeit mit dem Diskriminierungsverbot des Artikel 12 EG-Vortrag unterstellt - greift allerdings nur, wenn sich das Aufenthaltsrecht ausschließlich auf den Grund "zur Arbeitsuche" stützt. Das Aufenthaltsrecht der Antragstellerin beruht demgegenüber auf einem weiteren Grund, nämlich dem des Ehegattennachzuges, §§ 27 ff AufenthG. Nach § 30 AufenthG ist dem Ehegatten eines Ausländers eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn der Ausländer eine Niederlassungserlaubnis besitzt. Diese Fallgestaltung liegt hier vor. Denn der Ehemann der Antragstellerin, der Ausländer im Sinne des § 30 Abs. 1 AufenthG ist, besitzt eine Niederlassungserlaubnis. Demnach beruht das Aufenthaltsrecht der Antragstellerin nicht allein auf dem Grund "Arbeitsuche", sondern auf dem Grund Ehegattennachzug. Damit greift der Ausschlussgrund des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II nicht mehr ein.
Darüber hinaus steht ein weiterer Grund der Anwendung der Ausschlussnorm des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II entgegen. Dieser folgt aus dem Europäischen Fürsorgeabkommen (EFA) (vom 11. Dezember 1953, BGBl II 1956, Seite 564, dazu Gesetz zum EFA vom 11. Dezember 1953 und zu dem Zusatzprotokoll zu dem Europäischen Fürsorgeabkommen vom 15. Mai 1956, BGBl II Seite 563). Das EFA ist innerstaatlich anwendbares, Rechte und Pflichten des einzelnen begründendes Recht (vgl BVerwG, Urteil vom 18. Mai 2000 - 5 C 29/98 - BVerwGE 111, Seite 200 = FEVS 51, Seite 433). Die Anwendbarkeit des EFA ergibt sich weiterhin aus § 30 Abs. 2 SGB I, wonach Regelungen des über- und zwischenstaatlichen Rechts unberührt bleiben. Das EFA ist daher von den Sozialleistungsträgern und den Gerichten zu beachten (vgl Timme in Lehr- und Praxiskommentar - SGB I, 2. Aufl. 2007, § 30 Rdnr 11). Zu den Mitgliedstaaten des EFA gehören u.a. die Niederlande und die Bundesrepublik Deutschland (BGBl II 1958, Seite 18).
Artikel 1 EFA bestimmt, dass jeder der Vertragsschließenden sich verpflichtet, den Staatsangehörigen der anderen Vertragschließenden, die sich in irgendeinem Teil seines Gebietes, auf das dieses Abkommen Anwendung findet, erlaubt aufhalten und nicht über ausreichende Mittel verfügen, in gleicher Weise wie seinen eigenen Staatsangehörigen und unter den gleichen Bedingungen die Leistungen der sozialen und Gesundheitsfürsorge (im folgenden als "Fürsorge" bezeichnet) zu gewähren, die in der in diesem Teil seines Gebietes geltenden Gesetzgebung vorgesehen sind. In Artikel 2a (i) EFA wird der Begriff der Fürsorge näher erläutert; als "Fürsorge" wird jede Fürsorge bezeichnet, die jeder der Vertragschließenden nach den in dem jeweiligen Teile seines Gebietes geltenden Rechtsvorschriften gewährt und wonach Personen ohne ausreichende Mittel die Mittel für ihren Lebensbedarf sowie die Betreuung erhalten, die ihre Lage erfordert.
Danach erfasste das EFA ohne Zweifel die Sozialhilfe - Hilfe zum Lebensunterhalt - wie sie jetzt im SGB XII geregelt ist (bis zum 31. Dezember 2004 im BSHG).
Doch auch die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts aus den §§ 19 ff SGB II sind dem Begriff der Fürsorge im Sinne des EFA zuzurechnen. Das zum 1. Januar 2005 eingeführte Arbeitslosengeld II steht gemäß § 19 SGB II erwerbsfähigen Hilfebedürftigen zu. Die Leistung ist in Anlehnung an die Sozialhilfe nach dem SGB XII gestaltet. Sie sieht eine - pauschalierte - dem Regelsatz in der Sozialhilfe vergleichbare Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhaltes vor, sowie die tatsächliche Übernahme der angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung, §§ 20, 22 SGB II. Ähnlich wie in der Sozialhilfe werden für verschiedene Situationen Leistungen für Mehrbedarfe vorgehalten, § 21 SGB II. Das Arbeitslosengeld II weist daher eine sozialhilferechtliche Konzeption auf.
Im Anhang 1 zum EFA (Stand 1. März 2000, siehe Bekanntmachung der Neufassung der Anhänge I, II und III zum EFA vom 20. September 2001, BGBl II 2001, Seite 186 ff) wird als Fürsorgegesetz im Sinne des Artikel 1 EFA u.a. das BSHG in der Fassung der Bekanntmachung vom 23. März 1994 (BGBl I Seite 646, 2975) aufgeführt. Eine Neufassung dieses Anhangs im Hinblick auf die Ablösung des BSHG durch das SGB XII und das SGB II zum 1. Januar 2005 ist - soweit ersichtlich - bislang nicht erfolgt. Nach Artikel 16a und b EFA haben die Vertragschließenden den Generalsekretär des Europarates über jede Änderung der Gesetzgebung zu unterrichten, die den Inhalt von Anhang I und III berührt und dem Generalsekretär alle neuen Rechtsvorschriften mitzuteilen, die in Anhang I noch nicht aufgeführt sind.
Daraus folgt keine Einschränkung der völkervertragsrechtlichen Fürsorgegewährleistung. Denn eine solche Mitteilung nach Artikel 16 EFA hat nur klarstellende Bedeutung, um die übrigen Vertragsstaaten über den Stand der Fürsorgegesetzgebung im mitteilenden Vertragsstaat zu informieren (so BVerwG aaO, Rdnr 19 im juris-Abdruck). Da das BSHG zum 1. Januar 2005 abgelöst worden ist durch das SGB XII und für erwerbsfähige Hilfebedürftige durch das SGB II treten diese Rechtsvorschriften an die Stelle des im Anhang I genannten BSHG als Fürsorgegesetz im Sinne des Artikel 1 EFA.
Zum Teil wurde die Ansicht vertreten, dass das EFA nur auf diejenigen Ausländer anwendbar sei, die sich zur Zeit der Hilfebedürftigkeit bereits in dem um Hilfe angegangenen Staat erlaubt aufhielten und nicht auf diejenigen, die als bereits bedürftige Personen in einen Vertragsstaat einreisten, womit eine Wanderung aus einem Sozialleistungssystem in ein anderes vermieden werden sollte (vgl OVG Berlin, Beschluss vom 22. April 2003 - 16 S 9.03 - FEVS 55, Seite 186). Bei Berücksichtigung dieser Ansicht wäre das EFA auf die Antragstellerin anwendbar. Denn zur Zeit ihres Übertritts aus den Niederlanden in die Bundesrepublik Deutschland verfügte sie über ausreichende existenzsichernde Mittel, und zwar aufgrund des Erwerbseinkommens ihres Ehemannes.
Die Leistung des ALG II ist weiterhin beitragsunabhängig und knüpft an die Bedürftigkeit des arbeitslosen Antragstellers an. Daraus ergibt sich, dass das EFA auch auf die Grundsicherung für Arbeitsuchende Anwendung findet (vgl Fuchs, Deutsche Grundsicherung und europäisches Koordinationsrecht, Neue Zeitschrift für Sozialrecht <NZS> 2007, Seite 1, 3 ff; Schumacher aaO, Rdnr 11).
Die Vorschrift des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II geht auch nicht als späteres Recht dem Artikel 1 EFA vor. Der gewohnheitsrechtlich anerkannte Rechtssatz, dass das später erlassene Gesetz, das den gleichen Sachverhalt regelt, das früher erlassene verdrängt (lex posterior derogat legi priori - vgl hierzu BSG, Urteil vom 21. März 1991 - 4/1 RA 51/89 - SozR 3-2200 § 1259 Nr 5 = NZA 1991, 830) führt hier nicht zur Unanwendbarkeit des EFA. Denn die Regelungen des EFA sind insoweit spezieller als die fragliche Norm des SGB II, mit anderen Worten: das spezielle Gesetz geht der allgemeineren Regelung vor (lex posterior generalis non derogat legi priori speciali). Das ergibt sich bereits daraus, dass sich § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II allein auf bestimmte Ausländer bezieht und daher keine Aussage über den Umfang der nach den völkerrechtlichen Bestimmungen gebotenen Gleichbehandlung mit Deutschen trifft. Im Übrigen ist nicht anzunehmen, dass der Gesetzgeber, sofern er dies nicht klar bekundet hat, von völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland abweichen oder die Verletzung solcher Verpflichtungen ermöglichen will, sodass der Vorrang späteren Gesetzes - hier das SGB II - nur dann eingreifen kann, wenn der Gesetzgeber seinen Willen zur Nichtbeachtung des transformierten völkervertraglichen Rechts mit aller Deutlichkeit herausgestellt hat (vgl BVerwG, aaO Rdnr 27 im juris-Abdruck).
Mithin ist der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II für die vom EFA erfassten Staatsangehörigen wirkungslos.
Weitere Voraussetzung für die Anwendung des EFA ist der erlaubte Aufenthalt der Antragstellerin im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland, Artikel 1, Artikel 11 EFA und Anhang III zum EFA. Bereits oben wurde dargelegt, dass die Antragstellerin sich aufgrund des Freizügigkeitsgesetzes/EU bzw aufgrund ihrer Nachzugsberechtigung als Ehefrau erlaubt in der Bundesrepublik Deutschland aufhält. Das EFA ist daher auf die Fallgestaltung der Antragstellerin anzuwenden. Dies führt dazu, dass ihr der Ausschlussgrund des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II erfolgreich nicht entgegengehalten werden kann und sie wie ein Inländer Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II hat.