VG Gelsenkirchen

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Zitieren als:
VG Gelsenkirchen, Urteil vom 29.11.2007 - 17 K 5862/02 - asyl.net: M12321
https://www.asyl.net/rsdb/M12321
Leitsatz:

1. Die Stellung als Sekretär eines Ortsvereins der Islamischen Gemeinschaft Milli-Görüs oder die bloße Mitgliedschaft in dieser Vereinigung bieten für sich allein betrachtet keine tatsächlichen Anhaltspunkte für die Annahme, dass damit Bestrebungen unterstützt werden, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtet sind (§ 11 Satz 1 Nr. 1 StAG).

2. Innerhalb der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs sind neben rechtlich unbedenklichen Aktivitäten auch eindeutig gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtete Bestrebungen anderer Teile der Vereinigung feststellbar.

 

Schlagwörter: D (A), Staatsangehörigkeitsrecht, Einbürgerung, Anspruchseinbürgerung, verfassungsfeindliche Bestrebungen, IGMR, Milli Görüs, Mitglieder, Sekretär, Funktionäre
Normen: StAG § 10; StAG § 11 Abs. 1 Nr. 1
Auszüge:

1. Die Stellung als Sekretär eines Ortsvereins der Islamischen Gemeinschaft Milli-Görüs oder die bloße Mitgliedschaft in dieser Vereinigung bieten für sich allein betrachtet keine tatsächlichen Anhaltspunkte für die Annahme, dass damit Bestrebungen unterstützt werden, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtet sind (§ 11 Satz 1 Nr. 1 StAG).

2. Innerhalb der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs sind neben rechtlich unbedenklichen Aktivitäten auch eindeutig gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtete Bestrebungen anderer Teile der Vereinigung feststellbar.

(Amtliche Leitsätze)

 

Die zulässige Verpflichtungsklage auf Erteilung einer Einbürgerungszusicherung ist begründet.

Der Einbürgerung des Klägers steht der Ausschlussgrund nach §11 Satz 1 Nr. 1 StAG nicht entgegen.

I. Es steht für das Gericht fest, dass innerhalb der IGMG sowohl Kräfte wirken, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtete Bestrebungen verfolgen (1.), als auch solche, die sich von diesen Aktivitäten distanzieren und deren politische Ziele mit der Verfassungsordnung im Einklang stehen (2.)

1. Das Tatbestandsmerkmal der freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Sinne des § 11 Satz 1 Nr. 1 StAG umfasst eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit, der Freiheit und der Gleichheit unter Ausschluss jeglicher Gewalt- und Willkürherrschaft. Hierzu gehört u.a. die Volkssouveränität und die Gewaltenteilung ebenso wie die Achtung der im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte und die Unabhängigkeit der Gerichte (vgl. OVG Koblenz, Urteil vom 24. Mai 2005 - 7 A 10953/04 - juris , m. w. N. und unter Hinweis auf § 4 Abs. 1 Satz 1 Buchst. c) in Verbindung mit Abs. 2 BVerfSchG).

Gewichtige Kräfte innerhalb der IGMG haben sich die Errichtung einer islamischen Ordnung auf der Grundlage der Scharia in der Türkei und jedenfalls auch in den Staaten - wie Deutschland -, in denen Muslime leben, zum Ziel gesetzt. Dieses Ordnungssystem strebt die Überwindung bestehender staatlicher Herrschaftssysteme und die Etablierung einer islamischen Ordnung an, die alle Lebensbereiche umfasst. Diese sollen so gestaltet werden, wie es von Gott, dem Koran, dem Propheten und der Sunna verbindlich vorgegeben ist. Die Errichtung eines solchen islamischen Gottesstaates verstößt gegen das grundgesetzlich verankerte (Art. 20 GG) Demokratieprinzip mit dem Grundsatz, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht (vgl. OVG Koblenz, Urteil vom 24. Mai 2005 - 7 A 10953/04 - a.a.O.; VG Berlin, Urteil vom 21. März 2007 - 2 A 79/04 - mit zahlreichen weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung).

Diese Bewertung folgt daraus, dass die IGMG in der Ideologie der Milli-Görüs-Bewegung verwurzelt ist und aus der damit zusammenhängenden engen Verbindung mit den vom geistigen Führer der Milli-Görüs-Bewegung - Necmettin Erbakan - dominierten islamistischen Parteien in der Türkei.

2. Diesen soeben aufgezeigten verfassungsfeindlichen Bestrebungen von Teilen der IGMG stehen Bemühungen reformorientierter Kreise innerhalb dieser Organisation mit dem Ziel gegenüber, sich von den politischen Idealen der Milli-Görus-Bewegung Erbakans abzusetzen und die Integration der türkischen Muslime in Deutschland auf der Grundlage der verfassungsrechtlichen Ordnung des Grundgesetzes zu fördern.

Die Abspaltung der AKP von der SP und deren Niederlage bei den türkischen Parlamentswahlen im November 2002 hat die Erwartung ausgelöst, der in der Türkei vollzogene Umbruch werde sich auch auf die europäische Milli-Görüs-Bewegung auswirken (vgl. VSB NRW 2005, Seite 202).

Die Kammer schließt aus diesen Erkenntnissen, dass innerhalb der IGMG auch auf Führungs- bzw. Funktionärsebene ernsthafte und nicht nur vorgeschobene Reformentwicklungen im Gange sind.

Gegen diese Bewertung spricht schließlich nicht, dass es bislang an eindeutigen offiziellen Distanzierungen der IGMG von Erbakan und seinen Ideen fehlt und gegenwärtig ein durchgreifender Wandel in der bisherigen ideologischen Ausrichtung noch nicht verzeichnet werden kann (vgl. Gutachten T. , Seite 49: "Reformvorhaben (sind) bei weitem noch nicht konsolidiert" und - deutlicher - Gutachten T1. - T2., Seite 49: "Eine Umorientierung in Richtung "Reformislam" ist nicht festzustellen".).

Eine plausible Begründung dafür kann nach Überzeugung des Gerichts der übereinstimmenden Einschätzung beider Gutachter entnommen werden, dass wegen der engen Bindung an den "spiritus rector" in der Türkei, Necmettin Erbacan, eine Abspaltung von der Milli-Görüs-Bewegung für die IGMG derzeit nicht durchgeführt werden kann. Eine Spaltung hätte die Erledigung des Anspruchs auf Hegemonisierung der islamischen Szene in Deutschland und einen Verlust des Einflusses auf einen Großteil der Erbakan treuen Anhänger zur Folge (Gutachten T1. - T2., Seite 49; vgl. auch T., "Die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs - ein Lehrstück zum verwickelten Zusammenhang von Migration, Religion und sozialer Integration" (Anhang zum Gutachten), Seite 91). Aus diesem Grunde wird ein offener Konflikt mit Necmettin Erbakan vermieden, weil das Reformvorhaben innerhalb der IGMG noch nicht als gefestigt angesehen wird; in dieser Phase würde eine Auseinandersetzung mit Necmettin Erbakan die eigene Position der Reformer schwächen, weshalb man auf Zeit setzt (Gutachten T. Seite 49). Diese Bewertung wird anscheinend auch seitens des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes geteilt.

Vgl. die Äußerung des Leiters der nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzbehörde im Dezember 2006, a. a. O., Seite 635 GA: "Die Führungsspitze sieht sich deshalb anscheinend gezwungen, sich auf einen "Spagat" einzulassen, der beiden Flügeln gerecht wird und den Zusammenhalt der IGMG gewährleistet".

II. Es fehlt an tatsächlichen Anhaltspunkten, die die Annahme rechtfertigen, dass der Kläger die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichteten Bestrebungen der IGMG unterstützt (hat). Als Unterstützung ist jede auch legale Handlung anzusehen, die für Bestrebungen im Sinne des § 11 Satz 1 Nr. 1 StAG objektiv vorteilhaft ist, wobei es auf einen tatsächlichen Nutzen für die unterstützte Organisation nicht ankommt (vgl. Bay. VGH, Urteil vom 27. Mai 2003 - 5 B 01.1805 - und Beschluss vom 8. November 2004 - 5 ZB 03.1797 -, Beschluss vom 13. Juli 2005 - 5 ZB 05.901 -, jeweils juris).

Dabei schließt § 11 Satz 1 Nr. 1 StAG die Einbürgerung nicht erst im Falle nachgewiesener verfassungsfeindlicher Unterstützungshandlungen des Einbürgerungsbewerbers aus, vielmehr genügt ein aufgrund des Vorliegens tatsächlicher Anhaltspunkte entstandener Verdacht (Vgl. OVG Koblenz, Urteil vom 24. Mai 2005 - 7 A 10953/04 - a. a. O.; Hess. VGH, Beschluss vom 6. Januar 2006 - 12 UZ 3731/04 -, InfAuslR 2006, 235).

Allerdings ergibt sich einschränkend aus der Wortbedeutung des Merkmals "Unterstützen", dass nur solche Handlungen ein Unterstützen darstellen, die eine Person für sie erkennbar und von ihrem Willen getragen zum Vorteil der genannten Bestrebungen vornimmt und die ihm deshalb zurechenbar sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 22. Februar 2007 -5 C 20.05-, NVwZ 2007, 956 und Urteil vom 15. März 2005 -1 C 26.03-, NVwZ 2005, 1091 (1093)).

Ausgehend von diesen Maßgaben vermag die Kammer ein Unterstützen im Sinne des § 11 Satz 1 Nr. 1 StAG im Falle des Klägers nicht festzustellen. Schon mit Blick auf den oben dargelegten ambivalenten Charakter der IGMG reicht weder die Mitgliedschaft des Klägers in dieser Vereinigung noch seine Stellung als Sekretär des Ortsvereinsvorstands aus, um allein daraus eine Unterstützung verfassungsfeindlicher Bestrebungen herzuleiten, ohne dass dem Kläger zugleich darüber hinaus gehende Erklärungen oder Handlungen vorgehalten werden könnten (ebenso VG Karlsruhe, Urteil vom 26. Februar 2003 -4 K 2234/01-, juris; zweifelnd auch BVerwG, Urteil vom 11. November 2004 -3 C 8.04-, NVwZ 2005, 450; vgl. ferner VGH Kassel, Urteil vom 18. Januar 2007 -11 UE 111/06-, InfAuslR 2007, 207; a.A. OVG Koblenz, Urteil vom 24. Mai 2005 -7 A 10953/04-, a. a. O., bestätigt durch BVerwG, Beschluss vom 27. Februar 2006 -5 B 67.05-, juris).

Geht man mit den oben getroffenen Feststellungen davon aus, dass auch auf Führungs- bzw. Funktionärsebene der IGMG Reformbestrebungen im Gange sind, geht das Argument, die Stellung als Sekretär des Vorstandes könne aufgrund der hierarchischen Struktur der IGMG nur in Übereinstimmung mit der politischen Linie der Führung des Dachverbandes ausgeübt werden (so OVG Koblenz, Urteil vom 24. Mai 2005 -7 A 10953/04-, a. a. O.), weitgehend ins Leere, weil es hinsichtlich des Verhältnisses des Klägers zu den fraglichen Bestrebungen ohne wirklichen Erkenntniswert ist. Vielmehr kann bei der gebotenen wertenden Gesamtbetrachtung (vgl. BVerwG, Urteil vom 15. März 2005 -1 C 26.03-, a. a .O.) unter Berücksichtigung des aufgezeigten ambivalenten Charakters der IGMG und des dem Kläger vorgeworfenen Verhaltens sowie in Würdigung der Angaben bei seiner ausführlichen Anhörung durch das Gericht in der mündlichen Verhandlung nach Überzeugung der Kammer nicht davon ausgegangen werden, der Kläger habe Aktivitäten willentlich zum Vorteil der verfassungsfeindlichen Bestrebungen in Teilen der IGMG vorgenommen.

Konkrete Aktionen der IGMG bzw. des Ortsvereins in H., an denen der Kläger mitgewirkt und erkennbar seine vorbehaltlose Unterstützung der inkriminierten Tendenzen innerhalb der Vereinigung gezeigt hat, stehen hier nicht zur Diskussion.

Allerdings geht das Gericht davon aus, dass dem Kläger die von Teilen der IGMG vertretene Ideologie Erbakans zumindest in Grundzügen bekannt ist bzw. bekannt sein muss.

Dennoch hat sich der Kammer während der Anhörung des Klägers nicht der Eindruck vermittelt, dass der Kläger gerade den verfassungsfeindlichen Charakter der politischen Ansichten Erbakans erfasst, geschweige denn mit Unterstützungswillen in sich aufgenommen hat. Aufgrund seines Wissens- und Bildungsstandes als ehemaliger Bergmann mit Hauptschulabschluss und seiner intellektuellen Fähigkeiten, soweit sie während der Anhörung in der mündlichen Verhandlung erkennbar geworden sind, hat der Kläger tatsächlich nicht für sich die Wertung nachvollzogen, hinter Erbakans Ideologie stünden Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtet sind.

Der Kläger hat sich für das Gericht überzeugend als einfacher Bürger dargestellt, der sein maßgeblich religiös begründetes Handeln in der IGMG aus seiner von der alltäglichen Praxis geprägten Sicht problemlos als mit der deutschen Verfassungsordnung im Einklang stehend sieht. Dazu passt seine in der mündlichen Verhandlung bekundete Einstellung zur Religionsfreiheit, an der zu zweifeln die Kammer keinen Anlass hat. In der Gesamtbetrachtung lässt das Engagement des Klägers in der IGMG nicht den Verdacht als gerechtfertigt erscheinen, er habe damit verfassungsfeindliche Bestrebungen von Teilen dieser Vereinigung willentlich unterstützt.