BVerfG

Merkliste
Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 10.12.2007 - 2 BvR 1033/06 - asyl.net: M12298
https://www.asyl.net/rsdb/M12298
Leitsatz:

Zur Sachaufklärungspflicht des Haftrichters bei Rückübernahme nach der Dublin II-Verordnung.

 

Schlagwörter: D (A), Abschiebungshaft, Verfassungsbeschwerde, Rechtswegerschöpfung, Anhörungsrüge, rechtliches Gehör, Haftbefehl, weitere Beschwerde, sofortige weitere Beschwerde, Erledigung, Freiheitsentziehung, Verfassungsmäßigkeit, Sachaufklärungspflicht, Verordnung Dublin II, Asylantrag
Normen: BVerfGG § 80 Abs. 2; FGG § 29a Abs. 1; GG Art. 103 Abs. 1; GG Art. 2 Abs. 2 S. 2; GG Art. 104 Abs. 2; FGG § 12; FreihEntzG § 5 Abs. 1; AufenthG § 62
Auszüge:

Zur Sachaufklärungspflicht des Haftrichters bei Rückübernahme nach der Dublin II-Verordnung.

(Leitsatz der Redaktion)

 

1. Die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts ist zulässig.

b) Der Grundsatz der Subsidiarität steht der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde ebenfalls nicht entgegen.

aa) Dieser Grundsatz erfordert über die Rechtswegerschöpfung im engeren Sinne hinaus, dass ein Beschwerdeführer alle ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ergreift, um eine Grundrechtsverletzung zu verhindern oder um eine Korrektur der geltend gemachten Verfassungsverletzung zu erwirken (BVerfGE 74, 102 113>; 77, 381 401>; 81, 22 27>). Insbesondere ist ein Beschwerdeführer gehalten, sich entsprechend den Vorgaben der jeweiligen Prozessordnung zu verhalten, um den Gerichten die Möglichkeit zu geben, die geltend gemachte Verfassungsverletzung zu untersuchen und gegebenenfalls zu korrigieren.

bb) Der Betroffene muss daher bereits im gerichtlichen Verfahren die Feststellung der Rechtswidrigkeit einer erledigten Haftanordnung begehren, wenn er diese in der Folge mit einer Verfassungsbeschwerde geltend machen will. Nicht abschließend geklärt ist allerdings, in welchem Stadium des Verfahrens ein solcher Antrag gestellt sein muss.

Die bundesrechtlichen Bestimmungen über die Freiheitsentziehung (FGG, FreihEntzG) regeln die nachträgliche Feststellung der Rechtswidrigkeit einer freiheitsentziehenden Maßnahme nicht ausdrücklich. Da das Recht auf Freiheit der Person unter den grundrechtlich verbürgten Rechten einen besonders hohen Rang hat (vgl. BVerfGE 32, 87 92>; 65, 317 322>; 104, 220 234>), ist ein Interesse an der nachträglichen Feststellung der Rechtswidrigkeit einer solchen Maßnahme auch nach Erledigung des Eingriffs in aller Regel schutzwürdig. Dem haben die Gerichte im Rahmen von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG Rechnung zu tragen (BVerfGE 104, 220 233 f.>; BVerfGK 6, 303 308 f.>). Die fachgerichtliche Rechtsprechung dazu wird den verfassungsrechtlichen Vorgaben grundsätzlich gerecht (vgl. nur OLG Saarbrücken, Beschluss vom 5. September 2007 - 5 W 201/07 -, juris, Rn. 12; OLG Rostock, Beschluss vom 10. Juli 2007 - 3 W 92/07 -, juris, Rn. 9; OLG Naumburg, Beschluss vom 6. Juli 2007 - 8 Wx 22/07 -, juris, Rn. 5; KG Berlin, Beschluss vom 23. Januar 2007 - 1 W 430/03 -, BtPrax 2007, S. 82; OLG München, Beschluss vom 19. September 2006 - 34 Wx 80/06 -, FGPrax 2006, S. 280 281>; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 14. Juni 2006 - 3 W 98/06 -, FGPrax 2006, S. 235 236>).

Noch nicht geklärt ist allerdings die Frage, unter welchen Bedingungen die Feststellung der Rechtswidrigkeit der zwischenzeitlich erledigten Freiheitsentziehung in der (sofortigen) weiteren Beschwerde begehrt werden kann. Der Bundesgerichtshof vertritt die Auffassung, die Möglichkeit zur Feststellung der Rechtswidrigkeit einer Freiheitsentziehung solle keinen (zusätzlichen) Rechtsschutz eröffnen, der dem Betroffenen ohne das erledigende Ereignis nicht zugestanden habe; es komme also im Verfahren der weiteren Beschwerde darauf an, ob mit dem Rechtsmittel die Aufhebung der Haftentscheidung hätte erreicht werden können, ob also die Beschwerdeentscheidung zutreffend, sei, nicht aber - unabhängig von dieser Voraussetzung - ob in der ersten Instanz Verfahrensfehler festzustellen seien (BGH, Beschluss vom 8. März 2007 - V ZB 149/06 -, MDR 2007, S. 971; ebenso die in diesem Verfassungsbeschwerdeverfahren eingeholte Stellungnahme). Nach dieser - nicht unumstrittenen (vgl. BVerfGK 6, 303, 310> m.w.N.) - Auffassung kann mit der (sofortigen) weiteren Beschwerde die Feststellung, dass die Haftanordnung zu einem früheren Zeitpunkt als demjenigen der Beschwerdeentscheidung rechtswidrig war, nur dann begehrt werden, wenn dieses Rechtsschutzgesuch bereits in der Beschwerdeinstanz angebracht worden ist. Verfassungsprozessual folgt daraus, dass ein Angriff gegen Haftentscheidungen bezogen auf einen anderen Zeitpunkt als denjenigen der Entscheidung der Beschwerdeinstanz aus Gründen der materiellen Subsidiarität nur zulässig sein kann, wenn die Rechtswidrigkeit der Haft bezogen auf den nunmehr geltend gemachten Zeitpunkt bereits im Beschwerdeverfahren zum Gegenstand gemacht worden ist.

cc) Hier kann offen bleiben, ob die Auffassung des Bundesgerichtshofs den Anforderungen aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG an die Möglichkeit gerichtlicher Klärung schwerwiegender Grundrechtseingriffe gerecht wird (vgl. dazu BVerfGE 104, 220 234 ff.>; BVerfGK 6, 303 310 f.>). Denn der Förtsetzungsfeststellungsantrag ist beim Oberlandesgericht nicht aus Gründen erfolglos geblieben, die sich auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs beziehen; dieser stand der Zulässigkeit des Fortsetzungsfeststellungsantrags im Übrigen auch nicht entgegen. Das Oberlandesgericht hat den Fortsetzungsfeststellungsantrag nicht als unzulässig behandelt, sondern ihn als unbegründet zurückgewiesen.

2. Die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet. Die Entscheidung des Oberlandesgerichts verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 104 Abs. 2 GG.

Die freiheitssichernde Funktion des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG setzt auch Maßstäbe für die Aufklärung des Sachverhalts und damit für Anforderungen in Bezug auf die tatsächliche Grundlage der richterlichen Entscheidungen. Es ist unverzichtbare Voraussetzung rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht (vgl. BVerfGE 70, 297 308>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 23. März 1998 - 2 BvR 2270/96 -, NJW 1998, S. 1774 1775>). Angesichts des hohen Ranges des Freiheitsgrundrechts gilt dies in gleichem Maße, wenn die nachträgliche Feststellung der Rechtswidrigkeit einer freiheitsentziehenden Maßnahme in Rede steht (BVerfGK 7, 87 100>).

b) Diesen Maßstäben wird der angegriffene Beschluss nicht gerecht. Die Ansicht des Oberlandesgerichts, das Landgericht habe sich schon deswegen nicht mit dem Vortrag des Beschwerdeführers zur rechtlichen Bedeutung seines in Belgien gestellten Asylantrags beschäftigen müssen, weil es die Einlassung des Beschwerdeführers vor dem Amtsgericht dahin habe verstehen dürfen, dass der Asylantrag in Belgien abgelehnt worden sei, ist mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Sachverhaltsaufklärung bei Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, nicht zu vereinbaren.

Eine Beschränkung der Pflicht zur Sachverhaltsermittlung aufgrund der offensichtlich nicht juristischen Kategorien folgenden Einlassung des Beschwerdeführers, dass der Asylantrag "nicht geklappt" habe, wird den erhöhten Pflichten zur genauen Sachverhaltserforschung gemäß § 12 FGG nicht gerecht. Die nach § 5 Abs. 1 FreihEntzG notwendige Anhörung des Betroffenen dient der Aufklärung von Tatsachen und gibt ihm die Möglichkeit zu rechtlichen Ausführungen, die rechtliche Bewertung der Tatsachen bleibt aber Aufgabe des Gerichts. Aus den Akten der Ausländerbehörde, welche bei einer Entscheidung über eine Haftanordnung regelmäßig beizuziehen sind (vgl. Beichel-Benedetti/Gutmann, NJW 2004, S. 3015 3017 f.>), um den Anforderungen aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 104 Abs. 2 GG zu genügen, ergibt sich, dass der Beschwerdeführer aufgrund einer Rücküberstellung in Anwendung der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 nach Deutschland zurückgekehrt war. Daraus ist zwingend zu folgern, dass die beteiligten belgischen und deutschen Behörden zu der Überzeugung gelangt waren, die deutschen Behörden seien für die Bearbeitung eines Asylantrags des Beschwerdeführers zuständig. Dies hatte der Beschwerdeführer mit seiner Beschwerde auch ausdrücklich vorgetragen. Hätte das Landgericht den Sachverhalt im verfassungsrechtlich gebotenen Umfang ermittelt und sich eingehend mit dem Vortrag des Beschwerdeführers auseinandergesetzt, hätte es dies erkennen können und müssen. Indem das Oberlandesgericht, das sich zu den an die gerichtliche Sachaufklärung anzulegenden Maßstäben nicht äußert, die unzureichende Befassung des Landgerichts mit der Einlassung des Beschwerdeführers gebilligt hat, gibt es zu erkennen, dass es von zu niedrigen, verfassungsrechtlich nicht zu billigenden Maßstäben ausgegangen ist.

3. Der angegriffene Beschluss beruht auf der Grundrechtsverletzung. Es ist nicht auszuschließen, dass das Oberlandesgericht bei hinreichender Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Vorgaben zu einer anderen, dem Beschwerdeführer günstigeren Entscheidung gelangt wäre. Insbesondere ist - soweit ersichtlich - die Frage, welche Bedeutung einem im Ausland gestellten (Erst-) Asylantrag nach der Rücküberstellung des Antragstellers in Anwendung der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 zukommt, noch nicht geklärt, so dass ein solcher Antrag der Anordnung von Abschiebungshaft - jedenfalls bis zu einem etwaigen Erlöschen einer auf ihm beruhenden Aufenthaltsgestattung - entgegenstehen könnte.