VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 16.11.2007 - 11 S 695/07 - asyl.net: M12296
https://www.asyl.net/rsdb/M12296
Leitsatz:

1. Der Ausweisungsgrund des § 54 Nr. 6 AufenthG entfällt nicht deshalb, weil der Ausländer nach Abschluss der Sicherheitsbefragung durch die Ausländerbehörde im Rahmen eines weiteren - durch das Ergebnis der ersten Befragung veranlassten - Sicherheitsgesprächs zunächst verheimlichte Tatsachen doch noch offenbart.

2. Die Umstände der Offenlegung und die konkrete Sicherheitsrelevanz der verheimlichten Tatsachen (hier: Aufenthalte in Ausbildungslagern der Mudjahedin) sind allerdings für die Frage erheblich, ob nach § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung für eine Ausweisung vorliegen.

 

Schlagwörter: D (A), Ausweisung, Regelausweisung, Terrorismus, Unterstützung, Ermittlungsverfahren, Einstellung, terroristische Vereinigung, Wiederholungsgefahr, Zukunftsprognose, besonderer Ausweisungsschutz, Schutz von Ehe und Familie, schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, Falschangaben, Sicherheitsbefragung, Offenbarung, Ausbildungslager, Islamisten, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren)
Normen: StPO § 170 Abs. 2; AufenthG § 54 Nr. 5; AufenthG § 56 Abs. 1 S. 1; AufenthG § 56 Abs. 1 S. 4; AufenthG § 56 Abs. 1 S. 2;K VwGO § 80 Abs. 5; GG Art. 6; EMRK Art. 1; AufenthG § 54 Nr. 6
Auszüge:

1. Der Ausweisungsgrund des § 54 Nr. 6 AufenthG entfällt nicht deshalb, weil der Ausländer nach Abschluss der Sicherheitsbefragung durch die Ausländerbehörde im Rahmen eines weiteren - durch das Ergebnis der ersten Befragung veranlassten - Sicherheitsgesprächs zunächst verheimlichte Tatsachen doch noch offenbart.

2. Die Umstände der Offenlegung und die konkrete Sicherheitsrelevanz der verheimlichten Tatsachen (hier: Aufenthalte in Ausbildungslagern der Mudjahedin) sind allerdings für die Frage erheblich, ob nach § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung für eine Ausweisung vorliegen.

(Amtliche Leitsätze)

 

Die zulässige, insbesondere fristgerecht erhobene und den inhaltlichen Anforderungen des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO entsprechend begründete Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 08.03.2007 hat keinen Erfolg. Ebenso wie das Verwaltungsgericht misst der Senat bei der nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO zu treffenden eigenständigen Interessenabwägung dem privaten Interesse des Antragstellers, vorläufig vom Vollzug der angefochtenen Verfügung vom 13.11.2006 verschont zu bleiben, größere Bedeutung zu als dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung seiner Ausweisung.

1. a) Zwar wendet sich der Antragsgegner zu Recht gegen die Erwägung des Verwaltungsgerichts, die nach § 170 Abs. 2 StPO erfolgten Einstellungen der Ermittlungsverfahren des Generalbundesanwalts und der Staatsanwaltschaft München I gegen den Antragsteller begründeten die Vermutung dafür, dass der Regelausweisungsgrund des Verdachts der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung (§ 54 Nr. 5 AufenthG) nicht gegeben und die hierauf gestützte Ausweisung des Antragstellers schon deshalb voraussichtlich rechtswidrig sei. Rechtliche Bedenken gegen diese Erwägung ergeben sich entgegen der Auffassung des Antragsgegners allerdings nicht schon daraus, dass diese Ermittlungsverfahren - wie der Antragsgegner meint - allein auf die Frage der Mitgliedschaft des Antragstellers in einer Organisation um den Mitbeschuldigten Y. M. Y. bezogen gewesen wären, während die Ausweisung darüber hinaus auch auf Unterstützungshandlungen des Antragstellers zugunsten der Ansar al Islam, des internationalen Netzwerks der Mudjahedin und der Stiftung "Al Haramain" gestützt worden sei. Denn das Ermittlungsverfahren des Generalbundesanwalts umfasste auch den Vorwurf der Unterstützung des internationalen Netzwerks der Mudjahedin und der Stiftung "Al Haramain" (vgl. etwa den Sachstandsbericht zum Ermittlungsverfahren des Generalbundesanwalts vom 15.07.2005, S. 6, 41, 45, 48 ff). Daneben befasste sich das Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft München I ausdrücklich mit den - ebenfalls der Ausweisungsentscheidung zugrunde gelegten - Vorwürfen, dass sich der Antragsteller im Dezember 2003 gegenüber M. M. bereit erklärt habe, eine Spende von etwa 50 Euro an die terroristische Vereinigung Ansar al Islam weiterzuleiten und dass er im Jahr 1999 versucht haben soll, A. B. in Bezug auf die Gewaltanwendung gegenüber Nichtmoslems zu desensibilisieren und als "Mudjahedin" für einen Einsatz in Dagestan zu werben. Der Senat teilt jedoch nicht die Ansicht des Verwaltungsgerichts, dass mit der Einstellung der Ermittlungsverfahren voraussichtlich keine Tatsachen mehr gegeben seien, die im Sinne des § 54 Nr. 5 AufenthG die Schlussfolgerung rechtfertigten, dass der Antragsteller eine terroristische Vereinigung unterstützt oder unterstützt hat. Denn in diesen Verfahren wurden Verhaltensweisen des Antragstellers ermittelt, die - wie etwa die Beteiligung an der Schleusung von Ausländern, die Entgegennahme von Geldern der Stiftung "Al Haramain" oder die teilweise konspirative Kontaktpflege zu anderen verdächtigen Personen und der Versuch der Desensibilisierung und der Anwerbung des A. B. als Mudjahedin in Dagestan - auf eine Unterstützung terroristischer Vereinigungen hinweisen. Die Ermittlungsverfahren wurden zwar nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt, weil diesen Verhaltensweisen auch eine andere - etwa rein kriminelle, geschäftliche oder gesellschaftliche - Zielrichtung beigelegt und deshalb nach der Prognose der Staatsanwaltschaft nicht davon ausgegangen werden konnte, dass die Förderung des Fortbestands einer terroristischen Vereinigung oder der Verwirklichung ihrer kriminellen

oder terroristischen Ziele durch den Antragsteller tatsächlich zur Überzeugung des Strafgerichts bewiesen werden kann (zum Maßstab des hinreichenden Tatverdachts nach § 170 Abs. 2 StPO vgl. Meyer-Goßner, StPO, Kommentar, 50. Aufl. 2007, § 170 Rn. 1f. m.w.N.). Anders als für die Strafbarkeit nach §§ 129, 129a StGB bedarf es jedoch für den Ausweisungsgrund nach § 54 Nr. 5 AufenthG nicht der vollen Überzeugung von einer geleisteten Unterstützung, sondern es reicht aus, dass die einzeln festgestellten Tatsachen, und sei es in einer Gesamtschau, eine hinreichende (so BayVGH, Urteil vom 09.05.2005 - 24 B 03.3295 -, EZAR-NF 042 Nr. 2) oder große (so Marx, ZAR 2004, 275, 277; Hailbronner, Ausländerrecht, § 54 Rn. 31; Discher in:

GK AufenthG, § 54 Rn. 542) Wahrscheinlichkeit für die Unterstützung einer terroristischen Vereinigung begründen.

Gleichwohl ist die Ausweisung, soweit sie auf den Regelausweisungsgrund des § 54 Nr. 5 AufenthG gestützt ist, nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nur möglichen summarischen Prüfung nicht ohne weiteres rechtmäßig. Vielmehr erscheint der Ausgang des Hauptsacheverfahrens offen. Dies gilt auch unter Berücksichtigung der vom Antragsgegner über den Umfang der Ermittlungsverfahren des Generalbundesanwalts und der Staatsanwaltschaft München I hinaus zusammengetragenen weiteren Umstände in der Person des Antragstellers, die - wie etwa die lange verheimlichten Aufenthalte des Antragstellers in Ausbildungslagern für Mudjahedin in Afghanistan und Pakistan in den Jahren 1989 und 1991, die bei der technischen Überwachung der von ihm genutzten Mietwagen festgestellten antiamerikanischen und antiisraelischen Äußerungen oder der Besitz verschiedener Bücher und Filme zum bewaffneten Djihad - auf eine besondere Nähe des Antragstellers zu militant islamistischem Gedankengut hinweisen und deshalb grundsätzlich geeignet sind, die Schlussfolgerungen des Antragsgegners zu untermauern. Schließlich stellt sich der Ausgang des Hauptsacheverfahrens auch deshalb als offen dar, weil der Antragsteller nach § 56 Abs.1 Satz 1 Nr. 1 und 4 AufenthG besonderen Ausweisungsschutz genießt und er deshalb nach § 56 Abs. 1 Satz 2 und 4 AufenthG nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nach Ermessen ausgewiesen werden kann. Dabei kann offen bleiben, unter welchen Voraussetzungen die im Falle des § 54 Nr. 5 AufenthG nach § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG gegebene gesetzliche Regelvermutung für das Vorliegen schwerwiegender Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung entfällt. Denn selbst wenn sich tatsächlich herausstellen sollte, dass die Schlussfolgerung des Antragsgegners auf die Gefahr der Unterstützung terroristischer Vereinigungen gerechtfertigt ist, bedürfte es zumindest im Zusammenhang mit der zu treffenden Ermessensentscheidung noch einer konkreten Bewertung des Maßes der hierdurch geschaffenen Gefährdungslage, die dann im Rahmen der Verhältnismäßigkeit den persönlichen Belangen des Antragstellers gegenüber zu stellen wäre. Hierbei fallen zugunsten des Antragstellers dann insbesondere der Schutz seiner familiären Lebensgemeinschaft mit seinen beiden deutschen Kindern nach Art. 6 Abs. 1 GG und der langjährige rechtmäßige Aufenthalt mit den hierbei entstandenen und über Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützten persönlichen Bindungen im Bundesgebiet ebenso ins Gewicht wie die - vom Antragsgegner bislang nicht in den Blick genommene - körperliche Beeinträchtigung des Antragstellers durch seine Kriegsverletzung und die hiermit verbundenen Schwierigkeiten beim Aufbau einer neuen Existenz in dem als Zielstaat der Abschiebung benannten Herrschaftsbereich der Palästinensischen Autonomiebehörde.

b) Eine andere Bewertung der Erfolgsaussichten der Klage gegen die Ausweisungsverfügung vom 13.11.2006 ergibt sich nicht daraus, dass der Antragsgegner die Ausweisungsentscheidung zusätzlich auf den Ausweisungsgrund der fehlenden oder falschen Angaben bei einer ausländerrechtlichen Sicherheitsbefragung (§ 54 Nr. 6 AufenthG) gestützt hat.

Zwar hat das Verwaltungsgericht zu Unrecht angenommen, dass die Verheimlichung zweier Aufenthalte des Antragstellers in Afghanistan und Pakistan in den Jahren 1989 und 1991 im Rahmen der Sicherheitsbefragung durch die Stadt Freiburg vom 14.02.2006 den Tatbestand dieses Regelausweisungsgrundes nicht erfüllt. Die Offenbarung dieser Aufenthalte im Rahmen des - durch die Antworten bei der Sicherheitsbefragung veranlassten - weiteren Sicherheitsgesprächs vom 27. und 28.04.2007 lässt die zuvor eingetretene Erfüllung des Tatbestandes des § 54 Nr. 6 Alt. 1 AufenthG nicht wieder entfallen (so auch Discher in: GK-AufenthG, § 54 Rn. 757). Mit der Anordnung einer Regelausweisung für den Fall einer - hier unzweifelhaft gegebenen - bewussten Verheimlichung von Auslandsaufenthalten soll neben der Ermöglichung einer umfassenden Ermittlung und Bewertung der von dem einzelnen Ausländer ausgehenden Gefahr für die innere und äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland auch sichergestellt werden, dass Ausländer allgemein im Rahmen von Sicherheitsbefragungen gegenüber der Ausländerbehörde oder der deutschen Auslandsvertretung stets möglichst vollständige Angaben insbesondere zu Aufenthalten in "Problemstaaten" machen. Der Gesetzgeber geht davon aus, dass der Verheimlichung früherer Aufenthalte in Deutschland oder in anderen Staaten ebenso wie der in wesentlichen Punkten falschen oder unvollständigen Angabe über Verbindungen zu Personen oder Organisationen, die der Unterstützung des internationalen Terrorismus verdächtig sind, unlautere sicherheitsrelevante Motive zugrunde liegen und der Aufenthalt eines solchen Ausländers deshalb regelmäßig ein Sicherheitsrisiko in sich birgt. Würde einem Ausländer die Möglichkeit eröffnet, einen im Rahmen der Sicherheitsbefragung zunächst verheimlichten Auslandsaufenthalt ohne die Gefahr weiterer Konsequenzen zu offenbaren, wenn es später zu einer weiteren Befragung kommt, würde der Druck erheblich eingeschränkt, in der ersten Sicherheitsbefragung vollständige Angaben zu machen. Der Ausländer könnte dann versucht sein, etwa gerade zur Vermeidung einer weiteren Überprüfung, sicherheitsrelevante Umstände zunächst zu verheimlichen und erst dann zu offenbaren, wenn er aufgrund der Anordnung einer weiteren Befragung damit rechnen muss, dass die verheimlichten Umstände nunmehr aufgedeckt werden oder gar bereits anderweitig bekannt geworden sind.

Allerdings erscheint die Rechtmäßigkeit der Ausweisungsverfügung trotz des hiermit gegebenen Regelausweisungsgrunds des § 54 Nr. 6 AufenthG dennoch offen. Denn der Antragsteller genießt - wie dargelegt - besonderen Ausweisungsschutz und kann deshalb nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden (§ 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 4; Satz 2 AufenthG). Da die Erfüllung des Ausweisungstatbestands des § 54 Nr. 6 AufenthG nicht über § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG dazu führt, dass schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Regelfall vorliegen, müssen die öffentlichen Interessen an der Erhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nach den konkreten Umständen des Einzelfalles im Vergleich zu dem vom Gesetz bezweckten Schutz des Ausländers vor Ausweisungen deutlich überwiegen (vgl. BVerwG, Urteil vom 11.06.1996 - 1 C 24.94 -, InfAuslR 1997, 8, 10). Dies dürfte hier weder in Bezug auf den spezialpräventiven noch im Hinblick auf den generalpräventiven Zweck des § 54 Nr. 6 AufenthG der Fall sein. Zwar haben Aufenthalte in Ausbildungslagern der Mudjahedin in Afghanistan und Pakistan grundsätzlich eine hohe Relevanz für die Beurteilung der von einem Ausländer ausgehenden Gefährdung, so dass der Verheimlichung solcher Aufenthalte regelmäßig sowohl in spezial- als auch in generalpräventiver Hinsicht ein besonderes Gewicht beizumessen ist. Hieran dürfte sich - entgegen der Auffassung des Antragstellers - nicht schon deshalb etwas ändern, weil der Antragsteller seine Aufenthalte in den Trainingslagern später im Rahmen des Sicherheitsgesprächs offenbart hat. Denn es spricht viel dafür, dass diese Ergänzung durch die Erkenntnis motiviert war, dass die Aufenthalte in den Ausbildungslagern der Mudjahedin in Afghanistan und Pakistan bereits aufgrund der Vernehmung der Ehefrau des Antragstellers in den staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren gegen ihn bekannt geworden waren.