VG Braunschweig

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Zitieren als:
VG Braunschweig, Urteil vom 12.12.2007 - 5 A 234/07 - asyl.net: M12290
https://www.asyl.net/rsdb/M12290
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Kurden, PKK, Verdacht der Unterstützung, Menschenrechtslage, Reformen, politische Entwicklung, Haftbefehl, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, Änderung der Sachlage
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Die zulässige Klage ist begründet. Die angefochtene Widerrufsverfügung ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. In der angefochtenen Widerrufsverfügung wird der Widerruf darauf gestützt, dass aufgrund der Änderung der Verhältnisse in der Türkei die Notwendigkeit des Schutzes vor politischer Verfolgung nicht mehr gegeben sei. Dieser Auffassung folgt das Gericht nicht.

Rechtsgrundlage der angefochtenen Widerrufsverfügung ist § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG. Danach ist die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen, unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen.

Hinsichtlich der Situation von Kurden, die in der Türkei in den Verdacht der Unterstützung der PKK geraten sind und zur Menschenrechtslage nach Einleitung des Reformprozesses in der Türkei hat das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht grundlegend (Urteil vom 18.07.2006 - 11 LB 75/06 -, Rechtsprechungsdatenbank des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts im Internet) festgestellt, dass auch nach der Einleitung bzw. Durchführung des Reformprozesses und der Neufassung der Vorschriften des Anti-Terror-Gesetzes weiterhin im Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine politische Verfolgung angenommen werden muss. Zwar würden auch von den Menschenrechtsorganisationen die Erfolge dieser Reformpolitik, die auf Demokratisierung und Stärkung der Rechtsstaatlichkeit setze, grundsätzlich anerkannt. Allerdings gehe die Umsetzung einiger Reformen langsamer als erwartet voran. Der erforderliche Mentalitätswandel habe noch nicht alle Teile der türkischen Sicherheitskräfte, der Verwaltung und der Justiz vollständig erfasst. Dies führe dazu, dass die Menschenrechtspraxis nach wie vor hinter den - wesentlich verbesserten - rechtlichen Rahmenbedingungen zurück bleibe. Die Bekämpfung von Folter und Misshandlung sowie ihre lückenlose Strafverfolgung seien noch nicht in der Weise zum Erfolg gelangt, dass solche Fälle überhaupt nicht mehr vorkommen. Ungünstig auf die innenpolitische Entwicklung wirke sich auch das Wiederaufflammen der bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den staatlichen Sicherheitskräften im Südosten der Türkei aus. Hierzu gebe es Informationen über gewaltsame Auseinandersetzungen und eine große Anzahl von Festnahmen. Noch Ende März 2006 sei es in Diyarbakir und anderen Orten im Südosten bei Zusammenstößen zwischen kurdischen Demonstranten aus dem Umfeld der PKK und staatlichen Sicherheitskräften zu mindestens 15 Todesopfern und mehreren hunderten Verletzten gekommen. Die Unruhen weiteten sich auf die Städte im Westen der Türkei aus. Noch hätten sich die Hoffnungen der kurdischen Minderheit im Südosten der Türkei auf Verbesserung ihrer politischen, sozialen und wirtschaftlichen Lage weitgehend nicht erfüllt. Es gebe weiterhin Festnahmen wegen mutmaßlicher Verbindungen zur PKK. Aufgrund der neu gefassten Vorschriften des Anti-Terror-Gesetzes bestehe die Gefahr, dass die strafrechtliche Verfolgung von Personen, die Sympathie für die kurdische Sache äußern, künftig erleichtert würde. Darüber hinaus könnten Angeklagte in der Türkei, die eines politischen Delikts beschuldigt werden, nach Gutachtenlage auch weiterhin nicht mit einem fairen Strafverfahren rechnen.

Diesen Feststellungen schließt sich das erkennende Gericht in ständiger Rechtsprechung (beginnend mit Urteil vom 24.10.2006 - 5 A 490/03 -) an und stellt auf der Grundlage des aktuellen Lageberichts des Auswärtigen Amtes und allgemein zugänglicher Zeitungsberichte ausdrücklich fest, dass sich an der beschriebenen Lage nichts verbessert hat. Es bestehen danach bereits erhebliche Zweifel daran, ob in der Türkei generell eine grundlegende dauerhafte Veränderung des politischen Systems stattgefunden hat, wie sie nach dem oben Gesagten Voraussetzung für den Widerruf der Asylanerkennung nach § 73 AsylVfG i.V.m. Art 1 C Ziff. 5 GFK ist. Insbesondere hinsichtlich der Verfolgung von kurdischen Volkszugehörigen, die in den Verdacht der Unterstützung der PKK geraten sind, kann eine politische Verfolgung im Einzelfall nicht ausgeschlossen werden.

Unter diesen Voraussetzungen ist der Kläger nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit vor politischer Verfolgung sicher. Der Kläger ist bei den türkischen Sicherheitskräften als aktiver Unterstützer aktenkundig geworden. Die türkischen Sicherheitskräfte verdächtigen ihn bedeutender und nicht lediglich marginaler Unterstützungshandlungen für die PKK. Dem steht nicht entgegen, dass der Kläger in der Türkei nicht durch Haftbefehl gesucht wird, denn der Erlass eines Haftbefehls ist aufgrund des Aufenthalts des Klägers in der Bundesrepublik Deutschland nicht notwendig und zweckmäßig.