VG Koblenz

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Zitieren als:
VG Koblenz, Urteil vom 15.10.2007 - 4 K 775/07.KO - asyl.net: M12127
https://www.asyl.net/rsdb/M12127
Leitsatz:

Keine direkte oder mittelbare Gruppenverfolgung von Anhängern der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft in Pakistan.

 

Schlagwörter: Pakistan, Ahmadiyya, Gruppenverfolgung, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, Verfolgungsdichte, Anerkennungsrichtlinie, Glaubwürdigkeit, Religion, religiös motivierte Verfolgung, religiöses Existenzminimum, Religionsfreiheit, Strafrecht, Strafverfolgung, Diskriminierung, Verfolgungshandlung, Kumulierung, interne Fluchtalternative
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 9 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1 Bst. b; RL 2004/83/EG Art. 9 Abs. 2 Bst. b
Auszüge:

Keine direkte oder mittelbare Gruppenverfolgung von Anhängern der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft in Pakistan.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Klage, über die der Einzelrichter gemäß § 76 Abs. 1 AsylVfG entscheiden kann, ist zulässig, aber unbegründet.

Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Dem Kläger drohte vor seiner Ausreise keine Gefahr für Leben oder Freiheit wegen seiner Religion.

Eine individuelle staatliche Vorverfolgung wegen der behaupteten Inhaftierung im Anschluss an die geplante Veranstaltung am 25. September 2006 ist bereits unglaubhaft.

Eine Gruppenverfolgung lässt sich ebenfalls nicht feststellen.

Dies gilt zunächst im Hinblick auf eine etwaige staatliche Gruppenverfolgung. Die Einführung der §§ 298 b), 298 c) und 295 c) in das pakistanischen Strafgesetzbuch in den Jahren 1984 und 1986 bedeutet für sich genommen noch keinen Eingriff in Leben und Freiheit im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG. Erst der Gesetzesvollzug kann zu einem solchen Eingriff führen. Das Gesetz selbst erzeugt lediglich einen Anpassungsdruck, weil die Normadressaten bei Vermeidung von Strafe gezwungen werden, ihr Verhalten der Norm anzupassen. Das Unterlassen der strafbewehrten Handlungen berührt allenfalls die Religionsfreiheit. Diese wird von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG aber nicht geschützt, denn "Freiheit" im Sinne dieser Vorschrift meint stets nur die physische (Bewegungs-)Freiheit und nicht die allgemeine Handlungsfreiheit oder speziell die Religionsfreiheit. Ob neben den Schutzgütern Leben und Freiheit subsidiär auch andere Schutzgüter, etwa die Religionsfreiheit im Sinne des Art. 4 Abs. 1 GG, in Betracht kommen, bedarf hier keiner Entscheidung. Denn gemäß § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG n.F. ist nunmehr ergänzend auf Art. 9 und 10 der Richtlinie zurück zu greifen. Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie erfasst in Buchstabe a) Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen. Buchstabe b) erfasst Handlungen, die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte bestehen, sofern die Kumulierung so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher Weise wie in Buchstabe a) betroffen ist. Diese zusätzlichen Schutzgüter werden jedoch durch die genannten Strafgesetze als solche nicht tangiert.

Art. 9 Abs. 1 Buchstabe a) der Richtlinie schützt nicht jedes Menschenrecht, sondern nur grundlegende Menschenrechte im Sinne der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, insbesondere die in Art. 15 Abs. 2 EMRK genannten Rechte, aber auch diese nur dann, wenn eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung vorliegt. Die Religionsfreiheit nach Art. 9 EMRK gehört nicht zu den in Art. 15 Abs. 2 EMRK genannten Rechten. Gleichwohl hat das Gericht keine Bedenken, die Religionsfreiheit des Art. 9 ERMK zu den grundlegenden Menschenrechten zu zählen, zumal dieses Recht auch den Wechsel der Religion oder der Weltanschauung und damit unausgesprochen auch den Wechsel zum Nicht-Glauben umfasst. Der von den pakistanischen Strafgesetzen ausgelöste Anpassungsdruck stellt jedoch keine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung dar. Insoweit ist nach Überzeugung des Gerichts zu berücksichtigen, dass eine gesetzliche Unterlassenspflicht von vornherein weniger gravierend ist als eine gesetzliche Handlungspflicht. So erscheint z.B. das Verbot, ein bestimmtes Abzeichen zu tragen, nicht so einschneidend wie ein Gebot, ein bestimmtes Abzeichen tragen zu müssen. Auch wenn die genannten pakistanischen Strafgesetze es den Ahmadis verbieten, sich wie Moslems zu gerieren, läge darin allenfalls dann eine "schwerwiegende" Verletzung der Religionsfreiheit, wenn es zum unverzichtbaren Selbstverständnis der Ahmadis – und insbesondere des Klägers – gehören würde, die verbotenen Betätigungen gleichwohl auszuüben. Der Kläger hat aber mit keinem Wort vorgetragen, dass für ihn z.B. das Tragen der Kalima, das Rufen des Azans, die Bezeichnung ihrer Gebetshäuser als Moscheen, usw. zum unverzichtbaren religiösen Selbstverständnis gehört, und dass ein Verzicht auf diese Betätigungsformen ihn in seiner religiösen Existenz ernsthaft gefährdet würde.

Art. 9 Abs. 1 Buchstabe b) der Richtlinie erfasst zwar grundsätzlich jede Verletzung der Menschenrechte, aber nur, wenn sie im Zusammenhang mit einer "Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen" einhergeht und zu einer ähnlich gravierenden Betroffenheit wie bei Buchstabe a) führt. Nach der amtlichen Begründung des Gesetzesentwurfs der Bundesregierung ist bereits im Rahmen des Buchstabens a) eine Gesamtschau aller relevanten Maßnahmen durchzuführen. "Dies bedeutet allerdings nicht, dass die bloße Addition von für sich genommen noch nicht verfolgungserheblichen Eingriffen ab einer bestimmten Häufigkeit Verfolgung darstellt". Auch im Rahmen des Buchstabens b) liege eine Verfolgung nur vor, wenn die unterschiedlichen Eingriffshandlungen im Wege einer Gesamtschau aller erheblichen Umstände einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte gleich komme (Bundestags-Drucksache 16/5065, S. 185). Daraus folgt, dass der gesetzliche Anpassungsdruck auch nicht kumulativ mit Behinderungen im Studium oder im Beruf zur einer relevanten Verfolgungshandlung wird. Denn letzteres ist für sich genommen irrelevant, solange damit keine wirtschaftliche Existenzvernichtung verbunden ist (so schon BVerwG, Urteil vom 20.10.1987 - 9 C 42.87 -). Im Übrigen ist der Kläger nicht im Studium behindert worden, denn er besitzt nur den Hauptschulabschluss und eine wirtschaftliche Existenzvernichtung durch staatliche Maßnahmen oder durch Maßnahmen nichtstaatlicher Akteure hat er nicht vorgetragen.

Da nach Auffassung des Gerichts ein durch die Strafgesetze erzeugter Anpassungsdruck – von der hier nicht vorliegenden Ausnahme vielleicht abgesehen – schon keine Verfolgungshandlung darstellt, kommt es auch nicht darauf an, ob sich der (nicht vorhandene) Eingriff in ein relevantes Schutzgut im privaten oder öffentlichen Bereich abspielt. Insoweit verdient es festgehalten zu werden, dass Art. 10 Abs. 1 Buchstabe b) der Richtlinie nur den Verfolgungsgrund der Religion erläutert; er erweitert nicht die Schutzgüter des Art. 9 der Richtlinie. Aus diesem Grunde vermag das Gericht nicht den inzwischen bekannt gewordenen anderen Auffassungen zu folgen, die diese Unterscheidung gerade nicht durchführen (vgl. Strieder, Paradigmenwechsel beim religiösen Existenzminimum? InfAuslR 2007, 360; VG Trier, Urteile vom 18.10.2006 - 5 K 1627/05.TR – und – 5 K 670/06.TR –; VG Leipzig vom 18. Mai 2007 – A 1 K 30313/04 –).

Denkbar ist jedoch, dass der Vollzug der genannten Strafgesetze zu einem Eingriff in die Schutzgüter Leben und Freiheit führt. Denn insoweit bestimmt Art. 9 Abs. 2 Buchstabe b) der Richtlinie, dass gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden, als Verfolgungshandlung gelten "können". Dies kommt zumindest bei dem Vollzug der §§ 298 b) und c) in Betracht, denn diese Vorschriften richten sich ausdrücklich gegen die Ahmadis. Hinzu kommt, dass die zuletzt genannten Vorschriften bestimmte religiöse Verhaltensweisen der Ahmadis (egal ob in der Öffentlichkeit oder im privaten Bereich) mit Gefängnisstrafen bis zu drei Jahren bedrohen und somit einen Eingriff in die persönliche Freiheit "wegen" der Religion nach sich ziehen können. Dies allein genügt aber noch nicht. Denn entscheidend ist stets die Praxis der Rechtsanwendung.

Nach den Ausführungen im Asylbescheid, die der ständigen Auskunftspraxis entsprechen, und denen der Kläger nichts Substantiiertes entgegengesetzt hat, wird landesweit nur eine relativ geringe Anzahl von Ahmadis nach den §§ 298 b) und c) verfolgt. Das Auswärtige Amt hat noch in der Auskunft vom 19. Januar 2007 an das Verwaltungsgericht Münster festgestellt, dass von den ca. 4 Millionen Ahmadis in Pakistan weniger als 1 % von § 298 c) betroffen sind (und dass jährlich ca. 20 bis 30 Ahmadis wegen § 295 c) angeklagt werden). Dies lässt zwei Erklärungsmöglichkeiten zu. Entweder verzichten mehr als 99 % der Ahmadis inzwischen auf ein Verhalten, das gegen die religiösen Strafvorschriften verstößt, oder der Staat verzichtet in mehr als 99 % der festgestellten Verstöße auf eine strafrechtliche Ahndung.

Auch eine mittelbare Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure ist nicht feststellbar. Insoweit trägt der Kläger lediglich vor, dass die Voraussetzungen für eine Gruppenverfolgung der Ahmadis in Pakistan "zumindest als offen anzusehen" seien. Dies genügt auf keinen Fall. Selbst wenn er positiv behauptet hätte, dass eine mittelbare Gruppenverfolgung der Ahmadis tatsächlich stattfinde, hätte er die dazu erforderliche Verfolgungsdichte – soweit er sie selbst erlebt hat (BVerwG, Urteil vom 10.05.1994, NVwZ 94, 1123) – darlegen müssen. Es entspricht im Gegenteil der ständigen Auskunftspraxis, dass die meisten Ahmadis und Moslems friedlich zusammen leben (zuletzt Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 19. Januar 2007 an VG Münster). Dementsprechend hat die Beklagte unter Auswertung der in den letzten Jahren bekannt gewordenen Übergriffe und in Relation zu der Gesamtzahl der Ahmadis in Pakistan ausführlich dargelegt, dass keine hinreichende Verfolgungsdichte gegeben sei, weder für eine staatliche noch für eine private Gruppenverfolgung. Hiergegen hat der Kläger nichts Substantiiertes eingewandt.

Soweit der Kläger für seine gegenteilige Auffassung zwei Urteile des Verwaltungsgerichts Trier (Urteile vom 18.10.2006 - 5 K 1627/05.TR - und - 5 K 670/06.TR -) und ein Urteil des Verwaltungsgerichts Leipzig (vom 18.05.2007 - A 1 K 30313/04 -) zitiert, vermag das erkennende Gericht dem nicht zu folgen.

Unabhängig von der Frage der Verfolgungsdichte bei unmittelbarer oder mittelbarer Verfolgung ist ferner darauf hinzuweisen, dass das Verwaltungsgericht Trier auch den zweiten von ihm aufgestellten Rechtssatz nicht begründet hat, wonach die Gefahr der Gruppenverfolgung landesweit bestehe. Letzteres widerspricht eindeutig der ständigen Auskunftspraxis, wonach grundsätzlich die Möglichkeit gegeben ist, in den Schutz der Ahmadiyya-Gemeinden in den größeren Städten Pakistans zu fliehen, sofern der Betroffene noch keine überregionale Bekanntheit erlangt hat (vgl. zuletzt den Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 18.05.2007, Seite 23). Auch aus diesem Grunde kommt vorliegend keine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für den Kläger in Betracht (vgl. § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG n.F. und Art. 8 der Richtlinie).