VG Lüneburg

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Zitieren als:
VG Lüneburg, Urteil vom 21.09.2007 - 3 A 288/05 - asyl.net: M12120
https://www.asyl.net/rsdb/M12120
Leitsatz:

Eine 16-jährige Ausländerin, die eine dreijährige Schulausbildung "als Fernstudium" in dem Land ihrer Staatsangehörigkeit durchlaufen will, verlässt Deutschland nur vorübergehend, wenn sie nur zu den Prüfungen ins Ausland fährt und dort beengt bei Verwandten wohnt, sonst aber bei ihren seit 35 Jahren in Deutschland wohenden Eltern in Deutschland lebt. Ihr Aufenthaltsrecht in Deutschland erlischt nicht.

 

Schlagwörter: D (A), Erlöschen, Aufenthaltstitel, freiwillige Ausreise, Auslandsaufenthalt, Schulbesuch, Ausbildung, Fernstudium
Normen: § 51 Abs. 1 Nr. 6; § 51 Abs. 1 Nr. 7
Auszüge:

Eine 16-jährige Ausländerin, die eine dreijährige Schulausbildung "als Fernstudium" in dem Land ihrer Staatsangehörigkeit durchlaufen will, verlässt Deutschland nur vorübergehend, wenn sie nur zu den Prüfungen ins Ausland fährt und dort beengt bei Verwandten wohnt, sonst aber bei ihren seit 35 Jahren in Deutschland wohenden Eltern in Deutschland lebt. Ihr Aufenthaltsrecht in Deutschland erlischt nicht.

(Amtlicher Leitsatz)

 

Die Klage ist zulässig und begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 1. Juni 2005 ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten. Der Bescheid ist daher nach § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO aufzuheben.

Nach § 51 Abs. 1 Nr. 6 und 7 des im Wesentlichen zum 1. Juli 2005 in Kraft getretenen Aufenthaltsgesetzes - AufenthG - erlischt der Aufenthaltstitel, wenn der Ausländer aus einem seiner Natur nach nicht vorübergehenden Gründe ausreist oder wenn der Ausländer ausgereist und nicht innerhalb von sechs Monaten (oder einer von der Ausländerbehörde bestimmten längeren Frist) wieder eingereist ist. Diese Vorschrift entspricht der Vorgängernorm des § 44 Abs. 1 Nr. 2 und 3 AuslG.

Ob die Voraussetzung des § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG oder des § 44 Abs. 1 Nr. 2 AuslG erfüllt ist - nicht nur vorübergehende Ausreise -, beurteilt sich nicht (allein) nach dem inneren Willen des Ausländers, sondern aufgrund einer Würdigung der gesamten Umstände des jeweiligen Einzelfalls (vgl. BVerwG, Beschl. v. 30. 12. 1988 - 1 B 135/88 -, Buchholz 402.24, § 9 AuslG Nr. 4 = InfAuslR 1989, 114). Wenn ein Ausländer im Heimatstaat eine Schule besucht, hängt es ebenfalls von einer Gesamtwürdigung der Einzelfallumstände ab, ob eine nur vorübergehende Abwesenheit vom Bundesgebiet vorliegt oder aber eine längerfristige dauerhafte Abwesenheit. Grundsätzlich kann davon ausgegangen werden, dass Auslandsaufenthalte zu bloßen kurzfristigen - und nicht längerfristigen langjährigen - Schul- oder Studienzwecken als vorübergehend angesehen werden müssen (Hailbronner a.a.O. Rdnr. 18). Von einer dauerhaften Abwesenheit wird auszugehen sein, wenn das Ende der Ausbildung nicht absehbar ist, und der Ausländer erklärtermaßen seine Rückkehr nach Deutschland von der Art und dem Zeitpunkt des Erfolges seiner Ausbildung abhängig macht (OVG Münster, Beschl. v. 26.08.1988 - 18 B 1063/88 -, NVWZ RR 1989 Seite 104). Der Ausländer kann deshalb sein einmal in Deutschland erworbenes Aufenthaltsrecht nicht "in Reserve halten" für den Fall, dass seine im Heimatland erfolgten Pläne scheitern (GK-AuslR, a.a.O. Rdnr. 34).

Obwohl die Klägerin in Serbien eine Schulausbildung durchlaufen hat, ergibt die Gesamtwürdigung der Einzelfallumstände, dass sie das Bundesgebiet nur vorübergehend verlassen hat, da mit Schulausbildung nur eine vorübergehende Abwesenheit vom Bundesgebiet verbunden gewesen ist und nicht eine längerfristige dauerhafte Abwesenheit von Deutschland. Sie hat dargelegt, dass es an der Schule zwei Möglichkeiten der Ausbildung gegeben hat: Den regulären Schulbesuch mit Anwesenheitspflicht an jedem Schultage auf der einen Seite und ein Fernstudium auf der anderen Seite. Beim Fernstudium etwa hätten auch Senioren mitgemacht. Für die externen Fernstudenten hätte es keine Anwesenheitspflicht gegeben. Sie selber - die Klägerin - habe die Ausbildung nicht als reguläre Schülerin, sondern als Fernstudentin durchlaufen. Sie habe sich den Unterrichtsstoff zuhause in Deutschland selbst erarbeiten müssen und sei dann nur zu den Prüfungen nach Serbien gereist. Die Schulausbildung der Klägerin ist damit nicht mit einer längerfristigen Abwesenheit aus Deutschland einhergegangen. Die Klägerin hat ihre Abwesenheit aus Deutschland auch nicht vom Erfolg oder Misserfolg ihrer Ausbildung in Serbien abhängig machen wollen. Sie wollte ihr in Deutschland erworbenes Aufenthaltsrecht auch nicht "in Reserve halten" für den Fall, dass ihre Schulausbildung in Serbien scheitert.

Auch die Würdigung der übrigen Umstände des Einzelfalles belegen deutlich, dass die Abwesenheit der Klägerin aus Deutschland immer nur vorübergehender Natur gewesen ist. Die Absicht der Klägerin, nur vorübergehend im Ausland zu bleiben, ist in objektiv nachprüfbarer Weise in vielen anderen Punkten zum Ausdruck gekommen:

Die Klägerin hat sich in C. polizeilich niemals abgemeldet. Sie hat auch keinen Hausrat nach Serbien mitgenommen und hat dort auch keinen neuen Hausstand gegründet. Die Klägerin ist nach ihren nachvollziehbaren Angaben immer nur mit einem kleinen Koffer nach Serbien gereist. Sie hat bei ihrer Tante gewohnt. Dort war sie die siebte Person in einer 2 ½-Zimmer-Wohnung. Dieser Aufenthalt in beengten Verhältnissen ist von vornherein weder von der Klägerin noch von der Tante als eine Dauerlösung angesehen worden oder als eine Lösung bis zu einem Zeitpunkt, zu dem die Klägerin in Serbien eine andere Wohnmöglichkeit findet.

Letztlich sprechen auch das Alter der Klägerin und der Umstand, dass ihre Eltern seit 35 Jahren in Lüneburg leben, dafür, dass sie Deutschland nur vorübergehend und nicht dauerhaft hat verlassen wollen. Die Klägerin ist im November 1984 geboren worden. Sie ist, als sie ihre Schulausbildung in Serbien im Jahr 2001 aufgenommen hat, noch 16 Jahre alt gewesen. Ihre Minderjährigkeit und ihr junges Alter sprechen dagegen, dass sie durch den Schulbesuch in Serbien eine dauerhafte Entscheidung für ihr Leben treffen und Deutschland und die in Lüneburg seit 35 Jahren lebenden Eltern längerfristig oder für immer hat verlassen wollen.