OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Beschluss vom 05.11.2007 - 2 1 B 252/07 - asyl.net: M12116
https://www.asyl.net/rsdb/M12116
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Grundsicherung für Arbeitssuchende, Unionsbürger, Arbeitssuche, Selbständige, Familienangehörige, Unionsbürgerrichtlinie, Gleichheitsgrundsatz, Diskriminierungsverbot, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), einstweilige Anordnung, Vorwegnahme der Hauptsache
Normen: SGB II § 7 Abs. 1 S. 2; FreizügG/EU § 2 Abs. 1; FreizügG/EU § 2 Abs. 2 Nr. 2; FreizügG/EU § 3 Abs. 1; FreizügG/EU § 2 Abs. 2 Nr. 2; EG Art. 12; EG Art. 18 Abs. 1; RL 2004/38/EG Art. 24 Abs. 2
Auszüge:

Die Beschwerde ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.

I. 1. Die Antragsteller haben für die Zeit ab 01.09.2007 einen Anspruch auf (ergänzende) Leistungen zur Grundsicherung nach dem SGB II.

Der Antragsteller zu 2. ist unstreitig erwerbsfähiger Hilfebedürftiger im Sinne von § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Sein Aufenthaltsrecht ergibt sich nicht allein aus dem Zweck der Arbeitssuche, sondern (auch) daraus, dass er einer selbständigen Erwerbstätigkeit nachgeht. Nach § 2 Abs. 1 i. V. m. Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU sind Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union (Unionsbürger) freizügigkeitsberechtigt, wenn sie zur Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit berechtigt sind. Diese Berechtigung folgt aus der Niederlassungsfreiheit in Art. 43 EG. Der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II greift daher nicht ein (vgl. Beschl. des Senats vom 20.04.2007 – S1 B 123/07).

Auch das Aufenthaltsrecht der Antragstellerin zu 1. ergibt sich nicht allein aus dem Zweck der Arbeitssuche. Es folgt vielmehr (auch) daraus, dass sie Familienangehörige des erwerbstätigen Antragstellers zu 2. ist (§ 3 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 2 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU).

II. Für die Zeit vom 30.04. bis zum 31.08.2007 schließt § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II zwar einen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II aus, weil sich das Aufenthaltsrecht der Antragsteller allein aus dem Zweck der Arbeitsuche der Antragsteller zu 1. und 2. ergab. Es ist aber fraglich und im Rahmen dieses Eilverfahrens nicht abschließend zu klären, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen dieser Ausschlusstatbestand auch auf Unionsbürger anzuwenden ist (1.). Über den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist deshalb aufgrund einer Folgenabwägung zu entscheiden (2.).

1. Mit dem Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II hat der Gesetzgeber Art. 24 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 14 Abs. 4 Buchst. b) der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und sich aufzuhalten, umsetzen wollen (vgl. die Begründung in BT-Drs. 16/688, S. 13).

Die Regelungen der RL 2004/38/EG sind mit der Freizügigkeit der Unionsbürger nach Art. 18 Abs. 1 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG) vereinbar.

Die Vereinbarkeit der genannten Regelungen mit Art. 12 EG wird in Rechtsprechung und Literatur unterschiedlich beurteilt. Zum Teil wird Art. 7 Abs. 2 Satz 1 SGB II unter Berufung auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes wegen Verstoßes gegen das Diskriminierungsverbots als unanwendbar angesehen (LSG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 25.04.2007 – L 19 B 116/07 AS ER – InfAuslR 2007, 317; SG Köln, Beschl. v. 13.02.2007 – S 6 AS 30/07 ER - ; Brühl/Schoch, in: LPK-SGB II, 2. Aufl. 2007, Rn 19 zu § 7; Valgolio, in: Hauck/Noftz <Hg>, SGB II, Rn 30 zu § 7 <Stand 2007>; Schreiber, ZESAR 2006, 423ff); zum Teil wird die Vorschrift angewandt, weil den Entscheidungen des europäischen Richtliniengesetzgebers und des nationalen Gesetzgebers jedenfalls bei der im Eilverfahren gebotenen Interessenabwägung die größere Bedeutung zukomme als der durch "Unschärfen" gekennzeichneten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 15.06.2007 – L 20 B 59/07 AS ER - ; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschl. v. 02.08.2007 – L 9 AS 447/07 ER - ). Nach Auffassung des beschließenden Senats ist bisher nicht hinreichend geklärt, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen Unionsbürger, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, generell von den Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende ausgeschlossen werden dürfen. Fraglich ist insbesondere, ob ein zeitlich unbeschränkter Leistungsausschluss auch für solche Unionsbürger, die sich ernsthaft um Arbeit bemühen, noch verhältnismäßig ist. In einem Hauptsacheverfahren bedarf es dazu voraussichtlich der Vorabentscheidung durch den Europäischen Gerichtshof nach Art. 234 EG.

2. Über den Erlass einer vorläufigen Regelung ist daher aufgrund einer Folgenabwägung zu entscheiden. Dabei kommt einerseits dem Respekt vor der Entscheidung des Gesetzgebers, der sich auf das sekundäre Gemeinschaftsrecht beruft, große Bedeutung zu. Er steht – ähnlich wie in den Fällen, in denen im Hauptsacheverfahren eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nach Art. 100 Abs. 1 GG einzuholen ist (vgl. dazu BVerfGE 86, 382 <389>) - einer Vorwegnahme der Hauptsache entgegen. Andererseits dienen Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende der Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens, und diese Sicherstellung ist eine verfassungsrechtliche Pflicht des Staates, die aus dem Gebot zum Schutz der Menschenwürde in Verbindung mit dem Sozialstaatsgebot folgt (vgl. BVerfG, NVwZ 2005, 927 <928>). Der Senat hält es deshalb – auch unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls, insbesondere auch des in Streit stehenden Zeitraums - für notwendig, dass die Antragsgegnerin den Antragstellern für den streitigen Zeitraum Leistungen der Grundsicherung darlehnsweise gewährt, dabei aber die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts auf das zur Sicherung des Existenzminimums Unerlässliche beschränkt. Insoweit ist daher ein Abschlag (zur grundsätzlichen Zulässigkeit eines Abschlags bei Erlass einer einstweiligen Anordnung vgl. BVerfG, NVwZ 2005, 927 <928>) in Höhe von 30% vorzunehmen.