LSG Niedersachsen-Bremen

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Zitieren als:
LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 17.10.2007 - L 11 AY 12/07 ER u.a - asyl.net: M12088
https://www.asyl.net/rsdb/M12088
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Asylbewerberleistungsgesetz, Aufenthaltsdauer, Rechtsmissbrauch, Zumutbarkeit, freiwillige Ausreise, Abschiebungshindernis, Privatleben, Europäische Menschenrechtskonvention, Verhältnismäßigkeit, Integration, Falschangaben, Kausalzusammenhang, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), einstweilige Anordnung, Eilbedürftigkeit, Vorwegnahme der Hauptsache
Normen: SGG § 86b Abs. 2; AsylbLG § 2 Abs. 1; EMRK Art. 8
Auszüge:

Die gemäß §§ 172 ff. Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässigen Beschwerden sind begründet. Zu Unrecht hat das SG Aurich den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung und auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für den Antragsteller abgelehnt. Dem Antragsteller stehen vorläufig - unter dem Vorbehalt der Rückforderung - und unter Anrechnung bereits erbrachter Leistungen ab 18. November 2006 sog. Analogleistungen gemäß § 2 AsylbLG zu.

Im Streit steht allerdings, ob der Antragsteller die Dauer seines Aufenthalts in der Bundesrepublik rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst hat. Unter der rechtsmissbräuchlichen Selbstbeeinflussung der Aufenthaltsdauer ist ein subjektiv vorwerfbares, für die Verlängerung des Aufenthalts ursächliches Handeln des Asylbewerbers zu verstehen. Vorwerfbar in diesem Sinne ist es regelmäßig, wenn Ausländer nicht ausreisen, obwohl ihnen dies möglich und zumutbar ist (vgl. BSG, Urteil vom 8. Februar 2007, Az: B 9 b AY 1/06 R). Der Antragsteller hat im Beschwerdeverfahren glaubhaft dargelegt, dass wichtige Gründe in seiner Person wahrscheinlich einer Ausreise in das Kosovo derzeit entgegenstehen. Die Frage der Zumutbarkeit beantwortet sich nicht allein danach, ob zielstaatsbezogene Gefahren, also beim Vorliegen von Abschiebungshindernissen im Sinne des § 60 Abs. 7 des AufenthG vorliegen (vgl. BSG a.a.O.).

Auch unterhalb dieser Grenze liegende Gründe können die Ausreise unzumutbar machen. Der Antragsteller hat sich im Beschwerdeverfahren auf seine "faktische Inländereigenschaft" als Folge des 20jährigen Aufenthalts in der Bundesrepublik und einer schulischen und sozialen Integration berufen. Er hat sich auch darauf berufen, keine Beziehungen zum Kosovo und zu Serbien zu haben.

Eine - vom Antragsteller behauptete - erfolgreiche Integration in die deutsche Gesellschaft kann ein rechtliches Hindernis i.S.v. Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) begründen. Die Unzumutbarkeit der freiwilligen Ausreise eines ausreisepflichtigen aber geduldeten Ausländers ist auch maßgeblich für die Feststellung der Rechtsmissbräuchlichkeit des Aufenthalts im Sinne von § 2 Abs. 1 AsylbLG und für die damit verbundene Rechtsfolge einer möglichen leistungsrechtlichen Privilegierung. Denn erst das Nichtwahrnehmen zumutbarer Ausreisemöglichkeiten begründet den Rechtsmissbrauch (vgl. BSG a.a.O.)

Artikel 8 Abs. 1 EMRK schützt das Recht auf Achtung des Privatlebens. Dieses Recht umfasst die Summe der persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind und die angesichts der zentralen Bedeutung dieser Bindungen für die Entfaltung der Persönlichkeit eines Menschen bei fortschreitender Dauer des Aufenthalts wachsende Bedeutung zukommt. Ein Eingriff in diese Rechte muss gemäß Artikel 8 Abs. 2 EMRK eine notwendige Maßnahme darstellen und mit Blick auf das verfolgte legitime Ziel auch im engeren Sinne verhältnismäßig sein (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Mai 2007, Az: 2 BvR 304/07 m.w.N. für die Rspr. des EuGH).

Eine Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ist bei Ausländern in Betracht gezogen worden, die aufgrund ihrer gesamten Entwicklung faktisch zu Inländern geworden sind und denen wegen der Besonderheiten des Falles ein Leben im Staat ihrer Staatsangehörigkeit, zu dem sie keinen Bezug haben, nicht zuzumuten ist (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 23. Februar 2007, Az: OVG 11 S 87.06, InfAuslR 2007, S. 236, 238; Nds, OVG, Beschluss vom 29. Juni 2007. Az: 10 MC 147/07). Vorliegend ist unstreitig, dass der Antragsteller als Kind im Alter von einem Jahr in die Bundesrepublik eingereist ist. Nach den ausländerbehördlichen Feststellungen liegt seit diesem Zeitpunkt ein ununterbrochener Aufenthalt in Deutschland vor. Nach dem unwidersprochenen Vortrag hat der Antragsteller den Hauptschulabschluss erreicht. Über eine berufliche Integration ist derzeit nichts bekannt. Dem Antragsteller ist die Aufnahme einer unselbständigen Erwerbstätigkeit nur mit gültiger Arbeitsgenehmigung gestattet worden. Eine Arbeitsgenehmigung lässt sich aus dem Aktenmaterial nicht feststellen. Es kann hierbei nicht außer acht gelassen werden, dass der fehlende ausländerrechtliche Status wie auch die befristeten "Kettenduldungen" eine wirtschaftliche Integration des Antragstellers bislang ungleich erschwert haben.

Die hinreichende soziale Integration des Antragstellers in die deutsche Gesellschaft wird im Hauptsacheverfahren weiter aufzuklären und ggfs. mit der notwendigen richterlichen Überzeugungsbildung festzustellen sein.

Das dem Antragsteller vom SG und vom Antragsgegner vorgeworfene rechtsmissbräuchliche Verhalten, das im gezielten Verschweigen der Roma-Volkszugehörigkeit bis zum Jahr 2000 begründet ist, führt hier zu keinem anderen Ergebnis. Sollte im Hauptsacheverfahren festgestellt werden, dass die Ausreise dem Antragsteller aus den oben genannten Gründen unzumutbar ist, hätte das in der Vergangenheit liegende Verhalten angesichts des aktuellen Bleibegrundes keine maßgeblich kausale Relevanz mehr. Hierbei war auch zu berücksichtigen, dass sich der Antragsteller das rechtmissbräuchliche Verhalten seiner Eltern als Kind hat zurechnen lassen müssen und dass er seit dem Jahr 2000 keine falschen Angaben zur Herkunft und Identität mehr gemacht hat.

Der erkennende Senat hat bereits entschieden, dass er sich der sog. "abstrakten Betrachtungsweise", wonach es für die Beurteilung der rechtsmissbräuchlichen Beeinflussung der Dauer des Aufenthaltes darauf ankommen soll, ob das rechtsmissbräuchliche Verhalten generell geeignet ist, die Dauer des Aufenthalts zu beeinflussen, und zwar unabhängig davon, ob sich die Verlängerung des Aufenthalts bereits realisiert hat oder der kausale Zusammenhang dadurch weggefallen ist, dass zwischen dem rechtsmissbräuchlichen Verhalten und dem Leistungsantrag die Abschiebung vorübergehend ausgesetzt worden ist, nicht anzuschließen vermag (vgl. die Rspr. des 7. Senats des LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 20. Dezember 2005, Az: L 7 AY 40/05). Nach, Auffassung des erkennenden Senates kommt es darauf an, ob sich das rechtsmissbräuchliche Verhalten konkret und kausal verlängernd auf die Dauer des Aufenthalts in der Bundesrepublik ausgewirkt hat bzw. noch auswirkt. Nur wenn ein solcher kausaler Zusammenhang mit der notwendigen richterlichen Überzeugungsbildung festgestellt werden kann, kann sich das rechtsmissbräuchliche Verhalten auch leistungseinschränkend auswirken. Das kausale, vorwerfbare Verhalten muss aber im streitgegenständlichen Leistungszeitraum noch fortwirken (vgl. Senatsbeschluss vom 11. Juli 2007, Az: L 11 AY 12/06 ER).

Der Antragsteller hat auch einen Anordnungsgrund hinreichend glaubhaft gemacht. Er bezieht seit Jahren sog. Grundleistungen gemäß § 3 AsylbLG. Diese Leistungen dienen der Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens. Gegenüber den Leistungen der Sozialhilfe sind diese Leistungen aber deutlich abgesenkt. Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass dem Antragsteller derzeit Leistungen auf Sozialhilfeniveau zustehen, spricht auch für die Eilbedürftigkeit dieser Regelungsanordnung. Sie dient der Beseitigung einer existenziellen Notlage (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 8. Februar 2001, Az: 4 M 3889/00). Eine Vorwegnahme der Hauptsache liegt nicht vor, da die Leistungen nur vorläufig zugesprochen worden sind.