VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 09.11.2007 - 9 K 3199/07 - asyl.net: M12073
https://www.asyl.net/rsdb/M12073
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Ausweisung, zwingende Ausweisung, besonderer Ausweisungsschutz, atypischer Ausnahmefall, Europäische Menschenrechtskonvention, Privatleben, Verhältnismäßigkeit, Wiederholungsgefahr, Integration, Situation bei Rückkehr
Normen: AufenthG § 53 Nr. 1; AufenthG § 56 Abs. 1; EMRK Art. 8
Auszüge:

I. Die Ausweisung des Klägers ist rechtmäßig.

1. Von den im Aufenthaltsgesetz enthaltenen Vorschriften vermag nur § 56 Abs. 1 Satz 1 dem Kläger Ausweisungsschutz zu vermitteln.

2. Eine Widerlegung der im Falle des Klägers bestehenden doppelten Regelvermutung des § 56 Abs. 1 Satz 3 und 4 AufenthG ist ihm nicht gelungen.

Der nach § 56 Abs. 1 Satz 1 AufenthG bestehende besondere Ausweisungsschutz erhöht sich nicht deswegen, weil der Kläger wohl mehrere in Satz 1 genannten Tatbestände verwirklicht (vgl. dazu VGH Bad.-Württ., Urt. v. 31.3.2003, VBlBW 2004, 66 zur Rechtslage unter Geltung des AuslG). Er löst aber zwei Folgen aus: Zum einen kann der Kläger nach § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit ausgewiesen werden, deren Vorliegen nach § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG vermutet wird, zum anderen wird die nach § 53 AufenthG zwingende Ausweisung über die Bestimmung des § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG zur Regelausweisung herabgestuft. Beruft sich ein Ausländer in dieser Fallkonstellation auf das Vorliegen eines atypischen Ausnahmefalles, ist zu beachten, dass er sich einer zweifachen gesetzlichen Regelvermutung gegenüber sieht: Sofern atypische Ausnahmefälle nicht erkennbar sind, wird sowohl das Vorliegen "schwerwiegender Gründe" im Sinne eines schwerwiegenden Ausweisungsanlasses vermutet, als auch die Gebotenheit einer Ausweisung ohne Ermessensausübung. Bei der Prüfung eines atypischen Ausnahmefalls von der (ersten) Regelvermutung des § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG finden (nur) solche besonderen (tatbezogenen) Umstände des Einzelfalles Berücksichtigung, die dazu führen, dass die spezial- und generalpräventiven Zwecke des § 53 AufenthG nicht im erforderlichen Ausmaß zum Tragen kommen. Demgegenüber sind alle sonstigen Besonderheiten, also persönliche Umstände wie etwa familiäre Bindungen, im Rahmen der Prüfung nach § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG zu berücksichtigen (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 18.1.2006 - 11 S 2370/05 -; Urt. v. 16.3.2005 - 11 S 2885/04 -, FamRZ 2005, 1907 <LS> zur Rechtslage unter Geltung des Ausländergesetzes).

a) Wird diese Systematik beachtet, ist festzuhalten, dass der Kläger tatbezogene Umstände, welche die Regelvermutung des § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG widerlegen könnten, schon nicht geltend macht.

b) Persönliche Umstände, die eine Ausnahme von der Regelvermutung des § 56 Abs. 1 Satz 4 i.V.m. § 54 AufenthG rechtfertigen könnten, liegen nicht vor.

Das bedarf an dieser Stelle keiner Ausführungen, da insoweit keine strengeren Kriterien gelten können, als bei der Prüfung der Vereinbarkeit der Ausweisung des Klägers mit Art. 8 EMRK (vgl. dazu nachfolgend 3.). Die Voraussetzungen dieser Norm der Menschenrechtskonvention sind nicht etwa bei der Prüfung der Regel-Ausnahmevermutung des § 54 AufenthG vorzunehmen. In der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 10.5.2007 (InfAuslR 2007, 275) wird zwar ausgeführt:

"Bei der daran anschließenden Frage, ob ein Regelfall im Sinne des § 54 AufenthG vorliegt, ist zu prüfen, ob eine Regel-Ausweisung einen verhältnismäßigen Eingriff in das Recht des Beschwerdeführers auf Achtung seines Privatlebens im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK darstellt; wenn dies zu verneinen ist, liegt ein Ausnahmefall im Sinne des § 54 AufenthG vor und eine Ausweisung muss unterbleiben (vgl. Discher, GK-AufenthG, Vor §§ 53 ff., Januar 2007, Rn. 886; Hailbronner, Ausländerrecht, § 54 AufenthG, 43. Aktualisierung Oktober 2005, Rn. 55 f.; s. auch Oldenburg, InfAuslR 1999, S. 174 <177>)."

Diese Auffassung verkennt jedoch, dass das Vorliegen eines Ausnahmefalles nach ganz überwiegender Auffassung gerade nicht zu einem Ausweisungsverbot führt, sondern nur zur Eröffnung eines sonst nicht gegebenen Ermessens (vgl. dazu etwa BVerwG, Beschl. v. 13.11.1995, InfAuslR 1996, 103 zu § 47 Abs. 2 AuslG; VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 5.10.1994 - 11 S 1202/94 - zu § 47 Abs. 2 AuslG; Discher in GK-AufenthG, § 54 Rn. 117; Albrecht in: Storr/Wenger u.a., Komm. z. ZuwG, § 54 Rn. 3.). Dagegen ergibt sich aus einer Unvereinbarkeit einer Ausweisung mit Art. 8 EMRK deren unbedingte Unzulässigkeit. Daher ist die Vereinbarkeit einer Ausweisung mit Art. 8 EMRK jeweils außerhalb des Systems der §§ 53 ff. AufenthG zu prüfen, gerade um dieser Bestimmung umfassend Rechnung tragen zu können.

3. Die Ausweisung des Klägers ist auch unter Berücksichtigung seiner persönlichen Situation mit Art. 8 EMRK vereinbar.

a) Ohne Frage greift die Ausweisung des Klägers in sein Recht auf Privatleben (Art. 8 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. EMRK) ein.

b) Ebenso fraglos ist die Ausweisung eine in der Bundesrepublik gesetzlich vorgesehene Maßnahme.

c) Zu prüfen bleibt jedoch, ob die Ausweisung in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist und in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten Ziel steht. Anerkannte Prüfungskriterien sind hierbei (vgl. nochmals die genannten Urteile des EGMR):

- die Art und Schwere der vom Ausländer begangenen Straftat,

- die Dauer des Aufenthalts des Ausländers in dem Land, aus dem er ausgewiesen werden soll,

- die Festigkeit der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland und zum Zielland,

- die seit der Tatzeit verstrichene Zeitspanne und das Verhalten des Ausländers in dieser Zeit,

- die Staatsangehörigkeit der verschiedenen Betroffenen,

- die familiäre Situation des Ausländers, wie die Dauer der Ehe und andere Faktoren, die die Effektivität des Familienlebens eines Paares zum Ausdruck bringen,

- den Umstand, ob der Gatte bzw. die Gattin über die Straftat informiert war, als die familiäre Beziehung aufgenommen wurde,

- den Umstand, ob aus der Ehe Kinder hervorgegangen sind, und wenn ja, deren Alter, und

- das Ausmaß der Schwierigkeiten, denen der Gatte bzw. die Gattin in dem Land, in das der Ausländer abgeschoben werden soll, voraussichtlich begegnen wird.

Im Blick auf diese Kriterien ist die Ausweisung des Klägers noch verhältnismäßig, auch wenn nicht verkannt werden darf, dass der Start zu einem vorübergehenden Aufenthalt auf den Philippinen überaus schwierig werden kann. Denn zunächst hat der Kläger - neben anderen Straftaten - eine schwere Straftat begangen, die einen anderen Menschen an den Rand des Todes gebracht hat. Er ist auch nicht im Bundesgebiet geboren und aufgewachsen, sondern verbrachte die ersten 9 Jahre seines Lebens auf den Philippinen und besuchte dort die ersten drei Schulklassen. Im Einklang mit der Rechtsprechung des EGMR (vgl. dazu insbes. Urt. v. 22.3.2007 - Maslov -, a.a.O.) und auch nach Vernehmung seiner Mutter als Zeugin in der mündlichen Verhandlung geht der Berichterstatter davon aus, dass auf Grund dieser Sozialisation nicht jede Kenntnis der Herkunftssprache Philippino (Tagalog) verschüttet sein kann.

In Deutschland hat er inzwischen zwar den Hauptschulabschluss erreicht, aber noch keine Berufsausbildung. Die strafgerichtlichen Urteile und Haftbefehle heben hervor, dass die soziale Integration des Klägers weitgehend in der später kriminellen Clique stattgefunden habe.