VG Aachen

Merkliste
Zitieren als:
VG Aachen, Urteil vom 22.10.2007 - 6 K 146/07.A - asyl.net: M12061
https://www.asyl.net/rsdb/M12061
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Folgeantrag, Änderung der Rechtslage, Anerkennungsrichtlinie, Religion, religiös motivierte Verfolgung, Christen, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung
Normen: GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; AsylVfG § 71 Abs. 1; VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1
Auszüge:

Die Kläger haben nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung - vgl. § 77 des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG) - weder Anspruch auf die Anerkennung als Asylberechtigte noch Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 60 Abs. 1 Sätze 1 und 2 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) i.V.m. der Richtlinie 2004/83/EG über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (RL 2004/83).

Das Gericht hat auch unter Berücksichtigung des Vortrags der Kläger, aufgrund der Reichweite des mit der Richtlinie 2004/83 gewährten Schutzes der Religion und des Glaubens stehe ihnen wegen der bereits erlittenen Beeinträchtigungen in der Religionsausübung Asyl zu und ihnen sei die Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG zuzuerkennen, keine Veranlassung von der in den Urteilen vom 22. November 2001 in der Sache 6 K 1795/95.A und vom 22. Mai 2006 in der Sache 6 K 892/03.A getroffenen Wertung, die Kläger könnten sich weder auf das Asylrecht noch auf die Vorschrift des § 60 Abs. 1 AufenthG, berufen, abzuweichen. Die Kläger haben keinen Anspruch auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens. Es fehlt am Vorliegen der Voraussetzungen des § 71 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 51 Abs. 1 bis 3 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG). Zwar können die Kläger das Vorliegen einer neuen Rechtslage geltend machen und sie haben dies auch fristgerecht getan. Der nunmehr vom Asylgrundrecht und von der § 60 Abs. 1 AufenthG i.V.m. der Richtlinie 2004/03 geschützte Bereich umfasst die Religion als Glauben, als Identität und als Lebensform. Religion als Glaube bedeutet, dass theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensformen erfasst sind. Dabei können Glaubensformen Überzeugungen oder Weltanschauungen über göttliche oder letzte Wahrheit oder die spirituelle Bestimmung der Menschheit sein. Die Asylsuchenden können ferner als Ketzer, Abtrünnige, Spalter, Heiden oder Abergläubige angesehen werden. Religion als Identität ist weniger im theologischen Sinne als Glaube zu verstehen. Gemeint ist vielmehr die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, die aufgrund von gemeinsamem Glauben, gemeinsamer Tradition, ethnischer Abstammung, Staatsangehörigkeit oder gemeinsamen Vorfahren ihr Selbstverständnis entwickeln. Religion als Lebensform bedeutet, dass für den Asylsuchenden die Religion einen zentralen Aspekt seiner Lebensform und einen umfassenden oder teilweisen Zugang zur Welt darstellt. Generell darf niemand gezwungen werden, seine Religion zu verstecken, zu ändern oder aufzugeben, um der Verfolgung zu entgehen. Die Glaubenspraxis wird - insoweit gegenüber der früheren Rechtslage erweitert - auch im öffentlichen Bereich geschützt, so dass Sanktionen, die an die öffentliche Glaubenspraxis anknüpfen, erheblich sind. Nicht jede Diskriminierung stellt allerdings notwendigerweise religiöse Verfolgung dar. Zu unterscheiden ist insoweit zwischen Diskriminierungen, die lediglich zu einer bevorzugten Behandlung anderer führen, und Diskriminierungen die Verfolgungen gleichzusetzen sind, weil sie zusammengenommen oder für sich allein eine ernstliche Einschränkung der Religionsfreiheit bewirken. Das ist etwa der Fall, wenn Diskriminierungen dazu führen, dass damit eine ernstliche Einschränkung des Rechts, den Lebensunterhalt zu verdienen, oder des Zugangs zu normalerweise verfügbaren Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen verbunden ist. Diskriminierungen können auch in Form von Einschränkungen oder Begrenzungen der religiösen Glaubensrichtung oder Bräuche erfolgen. Ein bestehende diskriminierende Gesetzgebung stellt ggf. zwar ein Indiz, aber für sich genommen keine Verfolgung dar. Gemessen hieran gibt die allgemeine, verfolgungsrelevante Situation von Angehörigen christlicher Glaubensgemeinschaften in der Türkei keine Anhaltspunkte für das Vorliegen einer beachtlich wahrscheinlichen Gefahr religiös motivierter, ernstlicher Verfolgungsmaßnahmen. Jedenfalls in den westlichen Metropolen, insbesondere in Istanbul, können Christen auch öffentlich ihre Religion ausüben. Auch die Kläger, die nach ihren eigenen Angaben Verwandte in Istanbul haben, haben nicht behauptet, dass diese in ihre Religionsausübung beeinträchtigt würden. Dass sich die Lage in der Zeit seit dem Urteil vom 22. Mai 2006 signifikant verschlechtert hätte, haben die Kläger nicht behauptet und ist auch sonst - etwa aus dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 11. Januar 2007 - nicht ersichtlich.