VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 10.09.2007 - 11 K 2187/06 - asyl.net: M12036
https://www.asyl.net/rsdb/M12036
Leitsatz:

1. Bei der Betreuung von drei und mehr Kindern ist eine Arbeitsaufnahme unzumutbar und die Inanspruchnahme von Leistungen nach dem Zweiten oder Zwölften Buch Sozialgesetzbuch nicht zu vertreten (§ 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StAG).

2. Eine in Deutschland erfolgte Einbürgerung hat kraft angolanischem Recht den automatischen Verlust der bisherigen angolanischen Staatsangehörigkeit zur Folge, sofern der Einbürgerungsbewerber erklärt, nicht (mehr) Angolaner sein zu wollen. Diese Erklärung kann nach dem angolanischen Staatsangehörigkeitsgesetz vom 01.07.2005 in jeglicher formlosen Art und Weise abgegeben werden.

3. Die 2. Alternative des § 12 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StAG setzt die Stellung eines Entlassungsantrages nicht voraus; sie erfasst vornehmlich die Fälle erkennbar aussichtsloser Anträge.

4. Die Forderung der Einbürgerungsbehörde, der Ausländer solle zunächst seine pass- und personenstandsrechtlichen Angelegenheiten ordnen, ist eine unzumutbare Bedingung i.S.d. § 12 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 2. Alt. StAG, wenn für die geforderte Ordnung der pass- und personenstandsrechtlichen Angelegenheiten längere, unter Umständen mehrjährige Verfahrenszeiten zu erwarten sind.

 

Schlagwörter: D (A), Staatsangehörigkeitsrecht, Einbürgerung, Anspruchseinbürgerung, Lebensunterhalt, Vertretenmüssen, Zumutbarkeit, Eltern, Kinder, Aufgabe der Staatsangehörigkeit, Staatenlose, Angola, Angolaner, Hinnahme der Mehrstaatigkeit, Mitwirkungspflichten, Passbeschaffung
Normen: StAG § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 3; StAG § 10 Abs. 1 S. 3; SGB § 10 Abs. 1 Nr. 3; StAG § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 4; StAG § 12 Abs. 1 S. 2 Nr. 3
Auszüge:

1. Bei der Betreuung von drei und mehr Kindern ist eine Arbeitsaufnahme unzumutbar und die Inanspruchnahme von Leistungen nach dem Zweiten oder Zwölften Buch Sozialgesetzbuch nicht zu vertreten (§ 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StAG).

2. Eine in Deutschland erfolgte Einbürgerung hat kraft angolanischem Recht den automatischen Verlust der bisherigen angolanischen Staatsangehörigkeit zur Folge, sofern der Einbürgerungsbewerber erklärt, nicht (mehr) Angolaner sein zu wollen. Diese Erklärung kann nach dem angolanischen Staatsangehörigkeitsgesetz vom 01.07.2005 in jeglicher formlosen Art und Weise abgegeben werden.

3. Die 2. Alternative des § 12 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StAG setzt die Stellung eines Entlassungsantrages nicht voraus; sie erfasst vornehmlich die Fälle erkennbar aussichtsloser Anträge.

4. Die Forderung der Einbürgerungsbehörde, der Ausländer solle zunächst seine pass- und personenstandsrechtlichen Angelegenheiten ordnen, ist eine unzumutbare Bedingung i.S.d. § 12 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 2. Alt. StAG, wenn für die geforderte Ordnung der pass- und personenstandsrechtlichen Angelegenheiten längere, unter Umständen mehrjährige Verfahrenszeiten zu erwarten sind.

(Amtliche Leitsätze)

 

Die Klagen sind als Untätigkeitsklagen gemäß § 75 VwGO zulässig. Der Beklagte hat über die Anträge der Kläger vom 21.05.2003 in angemessener Frist sachlich nicht entschieden.

Die Klagen sind auch begründet. Die Kläger haben Anspruch auf Verpflichtung des Beklagten zur Einbürgerung in den deutschen Staatsverband.

Grundlage des Anspruchs der Kläger auf Einbürgerung in den deutschen Staatsverband ist § 10 StAG 1999.

Zwar nimmt der Kläger zu 1 seit dem Jahr 2005 Arbeitslosengeld II in Anspruch. Von dem Erfordernis der eigenständigen Sicherung des Lebensunterhaltes nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StAG 1999 ist jedoch nach § 10 Abs. 1 Satz 3 StAG 1999 abzusehen. Nach dieser Bestimmung ist von der in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StAG 1999 bezeichneten Voraussetzung abzusehen, wenn der Ausländer aus einem von ihm nicht zu vertretenden Grund den Lebensunterhalt nicht ohne Inanspruchnahme von Leistungen nach dem zweiten oder zwölften Buch Sozialgesetzbuch bestreiten kann. Diese Voraussetzung liegt hier vor. Es würde dem Wohl der minderjährigen Kinder des Klägers zu 1 widersprechen, wenn der Kläger zu 1 derzeit einer (Teilzeit)arbeit nachgehen würde. Bei der Betreuung von drei (und mehr) Kindern ist eine Arbeitsaufnahme unzumutbar (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschl. vom 18.05.1998 - 7 S 933/98 - juris -). Diese zum früheren Sozialhilferecht ergangene Rechtsprechung ist auch im vorliegenden Fall von Bedeutung, in dem die Nachfolgevorschrift des § 10 Abs. 1 Nr. 3 SGB II einbürgerungsrechtlich grundsätzlich Geltung beansprucht (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschl. vom 06.08.2007 - 13 S 2838/06 -). Unter Berücksichtigung seiner Sorgerechtspflichten und der ihm obliegenden familienrechtlichen Pflichten ist dem Kläger zu 1 damit zumindest gegenwärtig eine Arbeitsaufnahme nicht zumutbar (vgl. auch BVerfG, Beschl. vom 29.12.2005, NJW 2006, 2317 = FamRZ 2006, 469 und Beschl. vom 14.12.2006, FamRZ 2007, 273).

Entgegen der Ansicht des Beklagten steht § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StAG 1999 der Einbürgerung des Klägers zu 1 nicht entgegen. Das Erfordernis der Aufgabe oder des Verlustes der bisherigen Staatsangehörigkeit greift im Falle des Klägers zu 1 nicht (mehr), da er nach Überzeugung des Gerichtes mittlerweile staatenlos ist. Der Kläger hat mit der Erklärung der angolanischen Botschaft in Berlin vom 04.08.2005 seine angolanische Staatsbürgerschaft verloren. Ob diese Entlassung aus der angolanischen Staatsbürgerschaft durch die angolanische Botschaft in Berlin unter Verstoß gegen angolanische Verfahrensbestimmungen erfolgte, kann dahingestellt bleiben. Anhaltspunkte dafür, dass ein eventueller Verfahrensverstoß zur Nichtigkeit der Erklärung vom 04.08.2005 führt, hat der Beklagte nicht aufgezeigt und solche sind auch nicht erkennbar.

Darüber hinaus erfüllt der Kläger zu 1 aber auch die in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StAG 1999 genannte Voraussetzung, sofern er noch angolanischer Staatsangehöriger sein sollte. Denn der Kläger zu 1 verliert mit der Einbürgerung in den deutschen Staatsverband automatisch seine bisherige angolanische Staatsangehörigkeit. Nach Art. 15 Abs. 1 a des angolanischen Staatsangehörigkeitsgesetzes vom 01.07.2005 verliert die angolanische Staatsangehörigkeit, wer freiwillig eine fremde Staatsangehörigkeit erwirbt und erklärt, nicht Angolaner sein zu wollen. Damit hat eine in Deutschland erfolgte Einbürgerung kraft angolanischem Recht den automatischen Verlust der bisherigen angolanischen Staatsangehörigkeit zur Folge, sofern der Einbürgerungsbewerber erklärt, nicht Angolaner sein zu wollen.

Unabhängig von der Erfüllung der Voraussetzung des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StAG 1999 kann sich der Kläger zu 1 auf die in § 12 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 2. Alternative StAG 1999 genannte Fallgruppe berufen. Danach ist die Einbürgerung unter Hinnahme der Mehrstaatigkeit vorzunehmen, wenn der ausländische Staat die Entlassung aus der Staatsangehörigkeit von unzumutbaren Bedingungen abhängig macht. Die 2. Alternative des § 12 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StAG 1999 setzt die Stellung eines Entlassungsantrages nicht voraus; sie erfasst vornehmlich die Fälle erkennbar aussichtsloser Anträge (vgl. BVerwG, Urt. vom 03.05.2007 - 5 C 3/06 - juris -). Dass der Beklagte den Kläger zu 1 aufgefordert hat, zunächst seine pass- oder personenstandsrechtlichen Angelegenheiten zu ordnen, ist an sich nicht zu beanstanden. Dieses Verlangen setzt jedoch voraus, dass der Einbürgerungsbewerber eine realistische Chance hat, die ihm angesonnene Entlassungsvoraussetzung unter zumutbaren Bedingungen erfüllen zu können (vgl. BVerwG, Urt. vom 03.05.2007 aaO.). Sind längere, unter Umständen mehrjährige Verfahrenszeiten für die Ordnung der pass- oder personenstandsrechtlichen Angelegenheiten zu erwarten, so begründet dies für sich allein schon die Unzumutbarkeit (vgl. BVerwG, Urt. vom 03.05.2007 aaO.). So aber liegt der Fall hier. Der Kläger zu 1 ist weder im Besitz eines angolanischen Passes noch einer Geburtsurkunde. Er hat im Klageverfahren substantiiert und in der mündlichen Verhandlung glaubhaft dargelegt, dass er bei der angolanischen Botschaft in Berlin um die Ausstellung eines Reisepasses nachgesucht hat, ihm jedoch mitgeteilt worden sei, dass er kein Bürger Angolas (mehr) sei und keine Möglichkeit bestehe, ihm einen Pass zu erteilen. Selbst wenn der Kläger zu 1 - entsprechend der Aufforderung des Beklagten - beim zentralen Standesamt eine neue Geburtsurkunde beantragen und einen Antrag beim angolanischen Justizministerium auf Entlassung aus der angolanischen Staatsangehörigkeit stellen würde, wären die Erfolgsaussichten dieser Anträge nach der eingeholten Auskunft des Auswärtigen Amtes offen. Angesichts der zu erwartenden mehrjährigen Verfahrenszeiten und der völlig offenen Erfolgsaussichten ist jedenfalls im vorliegenden Fall die Forderung des Beklagten, der Kläger zu 1 solle zunächst seine pass- und personenstandsrechtlichen Angelegenheiten ordnen, eine unzumutbare Bedingung im Sinne des § 12 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 2. Alternative StAG 1999.