VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 23.05.2007 - 2 A 211/05 - asyl.net: M12031
https://www.asyl.net/rsdb/M12031
Leitsatz:

Die Gefahr der Retraumatisierung stellt keine allgemeine Gefahr dar; zu den Anforderungen an ärztliche Gutachten zur posttraumatischen Belastungsstörung.

 

Schlagwörter: Serbien, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Krankheit, psychische Erkrankung, posttraumatische Belastungsstörung, Glaubwürdigkeit, Retraumatisierung, allgemeine Gefahr, fachärztliche Stellungnahme, medizinische Versorgung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Die Gefahr der Retraumatisierung stellt keine allgemeine Gefahr dar; zu den Anforderungen an ärztliche Gutachten zur posttraumatischen Belastungsstörung.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Ferner sind die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 AufenthG in der Person des Klägers nicht gegeben.

Nach Maßgabe dieser Grundsätze ist die Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegend nicht durch § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG gesperrt. Denn die hier im Kern geltend gemachte Gefahr einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Klägers im Heimatland hinsichtlich der geltend gemachten bürgerkriegsbedingten Traumatisierung stellt keine allgemeine Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG dar (vgl. OVG Münster, Beschl. v. 10.01.2007 – 13 A 1138/04.A –, zitiert nach juris; anderer Auffassung wohl noch OVG Hamburg, Beschl. v. 18.08.2004 – 3 Bs 308/04 –; offen gelassen im Beschl. v. 10.11.2006 – 3 Bs 197/05 –). Auch wenn eine größere Bevölkerungsgruppe der vom Bürgerkrieg betroffenen Gebiete des ehemaligen Jugoslawien an sog. posttraumatischen Belastungsstörungen leiden sollte, ist diese Krankheit doch durch ihren individuellen Charakter geprägt, so dass allein die Gefahr der Verschlimmerung einer psychischen oder sonstigen Krankheit als maßgebliches allgemeines Abgrenzungskriterium für Menschen in ansonsten vergleichbarer Situation nicht ausreicht (vgl. OVG Münster, Beschl. v. 10.01.2007, a.a.O.). Der starke Individualbezug der posttraumatischen Belastungsstörung spiegelt sich nicht nur in den unterschiedlichsten traumatisierenden Ereignissen, sondern auch an der Unterschiedlichkeit der Intensität der Symptome und des Krankheitsverlaufs wider.

Ungeachtet dessen setzt die Gefahr einer Verschlimmerung der vorhandenen Krankheit im Heimatland denknotwendig voraus, dass der Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit an einer posttraumatischen Belastungsstörung mit der Gefahr einer Retraumatisierung im Falle seiner Rückkehr in sein Heimatland leidet. Hiervon kann im Fall des Klägers aufgrund der mitunter erheblich abweichenden Schilderung der traumatisierenden Ereignisse nicht ausgegangen werden. Denn ist schon ein Trauma auslösendes Ereignis nicht glaubhaft gemacht, kann mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auch eine darauf beruhende posttraumatische Belastungsstörung mit der Gefahr einer Retraumatisierung bei der Rückkehr in das Heimatland nicht bestehen. Ein Wiedererleben von traumatischen Ereignissen setzt insoweit voraus, dass diese tatsächlich stattgefunden haben (vgl. VG Düsseldorf, Urt. v. 24.05.2006 – 5 K 1970/06.A –, zitiert nach juris). Dabei unterliegt das Vorbringen des Klägers im Verwaltungsverfahren und im gerichtlichen Verfahren der freien richterlichen Beweiswürdigung (vgl. § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

An dieser Einschätzung vermögen auch die vorgelegten ärztlichen Atteste nichts zu ändern. Die vom Kläger zum Nachweis einer posttraumatischen Belastungsstörung bzw. schweren depressiven Störung, Somatisierungsstörung und andauernder Persönlichkeitsveränderung dem Gericht vorgelegten Atteste der vorgenannten Ärzte sind nicht geeignet, ein Abschiebungshindernis glaubhaft zu machen. Denn die vorgelegten Atteste genügen nicht den wissenschaftlichen Mindestanforderungen an ein eine posttraumatische Belastungsstörung feststellendes ärztliches Gutachten.

Bei der posttraumatischen Belastungsstörung handelt es sich um ein komplexes psychisches Krankheitsbild. Anders als im rein somatisch-medizinischen Bereich, wo äußerlich feststellbare objektive Befundtatsachen im Mittelpunkt stehen, geht es bei der posttraumatischen Belastungsstörung um ein innerpsychisches Erlebnis, das sich einer Erhebung äußerlich-objektiver Befundtatsachen weitgehend entzieht. Entscheidend kommt es deshalb auf die Glaubhaftigkeit und Nachvollziehbarkeit eines geschilderten inneren Erlebens und der zugrunde liegenden faktischen äußeren Erlebnistatsachen an. Es bestehen demgemäß der Eigenart dieses Krankheitsbildes entsprechende Anforderungen an das ärztliche Vorgehen, die ärztliche Diagnostik und die ärztliche Therapie, welchen von vornherein nur Fachärzte für Psychiatrie oder Fachärzte für psychotherapeutische Medizin erfüllen können.

Die Komplexität und Schwierigkeit des behandelnden psychosomatischen Krankheitsbildes posttraumatische Belastungsstörung erfordert zunächst einen längeren Zeitraum der Befassung des Arztes mit dem Patienten. Tragfähige Aussagen zur Traumatisierung sind regelmäßig erst nach mehreren Sitzungen über eine längere Zeit möglich. Im Anschluss daran ist ein detailliertes Gutachten vorzulegen, welches anhand der Kriterien des ICD-10 F 43.1 nachvollziehbare Aussagen über Ursachen und Auswirkungen der posttraumatischen Belastungsstörung sowie diagnostische Feststellungen zum weiteren Verlauf der Behandlung enthält. Das Gutachten hat im methodischen Vorgehen und in der Darstellung den Prinzipien der Transparenz und Nachvollziehbarkeit zu gehorchen. Die Befundtatsachen müssen zunächst getrennt von ihrer Interpretation dargestellt werden. Es müssen jedoch nicht alle erhobenen Informationen dargestellt werden, sondern nur die, die dem Arzt für die Erstellung des Gutachtens relevant erscheinen. Alle Unterlagen über erhobene Informationen müssen aufgehoben und beim Aufklärungsbedarf vorgelegt werden.

Bei Interpretationen und Schlussfolgerungen aus den erhobenen Informationen muss angegeben werden, auf welche Befundtatsachen sie sich stützen. Erforderlich ist auch eine Verschriftlichung des Explorationstextes, da nur auf dieser Grundlage eine sorgfältige inhaltsanalytische Bearbeitung möglich ist. Ein bloß zusammenfassender Bericht reicht nicht aus.

Wesentlicher Bestandteil der Begutachtung ist die inhaltliche Analyse der vom Arzt selbst erhobenen Aussage in Bezug auf das Vorliegen und den Ausprägungsgrad von Glaubhaftigkeitsmerkmalen. Die Aussageanalyse darf nicht schematisch erfolgen, etwa in dem Sinne, dass eine bestimmte Anzahl festgestellter Glaubhaftigkeitsmerkmale schon den Schluss auf eine glaubhafte Aussage zulasse. Vielmehr muss die Ausprägung der Glaubhaftigkeitsmerkmale in einer Aussage in Bezug gesetzt werden zu den individuellen Fähigkeiten und Eigenarten eines Patienten. Die Konstanzanalyse bezieht sich auf den Vergleich von Aussagen, die ein Patient zu verschiedenen Zeitpunkten über denselben Sachverhalt gemacht hat. Beim Vergleich müssen im Einzelnen Übereinstimmungen zwischen den Aussagen ebenso wie Widersprüche, Auslassungen und Ergänzungen festgestellt werden. Abweichungen zwischen den Aussagen müssen daraufhin geprüft werden, ob sie sich aufgrund gedächtnispsychologischer Erkenntnisse auch dann erwarten ließen, wenn die Aussage erlebnisfundiert ist. Mit der Kompetenzanalyse wird das Niveau der für eine Aussage relevanten kognitiven Funktion eines Patienten erfasst. Zu berücksichtigen ist die allgemeine und sprachlich intellektuelle Leistungsfähigkeit, das autobiographische Gedächtnis, die Phantasieleistung sowie der persönliche Darstellungsstil eines Patienten. Erst wenn die Leistungsfähigkeit in diesen Bereichen bekannt ist, kann die Qualität einer Aussage angemessen beurteilt werden.

Die Klärung der Aussageentstehung und Aussageentwicklung ist ein weiterer wichtiger Bestandteil der Begutachtung. Dazu dienen Angaben der Erstaussageempfänger sowie eventuell weiterer Empfänger von Aussagen. Bei der Motivationsanalyse geht es darum, zu rekonstruieren, welche Motivation den Patienten zu seinem Vorbringen veranlasst hat. Wesentlich sind methodische Vorkehrungen zur Verhinderung interessengeleiteter Aussagen und Angaben des Patienten im Hinblick auf einen weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet (vgl. zum Ganzen VG München, Urt. v. 04.12.2000 – M 30 K 00.51692 –, zitiert nach juris; VG Düsseldorf, Urt. v. 24.05.2006 – 5 K 1970/06.A –, zitiert nach juris; VG Frankfurt, Beschl. v. 25.02.2005 – 1 G 457/05 –, zitiert nach juris; Ebert/Kindt, VBlBW 2004, 41 ff.).

Die vom Kläger vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen genügen den dargelegten Anforderungen an die Feststellung einer posttraumatischen Belastungsstörung nicht. Die ärztlichen Atteste des praktischen Arztes Dr. xxx erfüllen diese Voraussetzungen schon deshalb nicht, weil dem behandelnden Arzt die für die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung erforderliche Fachkunde, die regelmäßig nur Fachärzte für Psychiatrie oder Fachärzte für Psychotherapeutische Medizin erfüllen, fehlen dürfte. Hinzu kommt, dass der praktische Arzt Dr. xxx – ebenso wie alle anderen behandelnden Ärzte – die Angaben des Klägers ohne nähere Prüfung ihres Wahrheitsgehalts zugrunde gelegt haben. Den Ärzten haben die Ausländerakte ebenso wie die Asylakte der Beklagten nicht zur Verfügung gestanden. Der behandelnde Arzt hat zudem in aller Regel von seiner Aufgabe her, dem Patienten zu helfen, weder einen Anlass noch ein Interesse, den Angaben seines Patienten keinen Glauben zu schenken (vgl. OVG Hamburg, Beschl. v. 13.08.2002 – 3 Bs 113/02 –). Die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung steht und fällt allerdings mit der Glaubhaftigkeit der Angaben zu den Erlebnissen, die zu einem Trauma geführt haben sollen (vgl. OVG Hamburg, Beschl. v. 30.11.2004 – 3 Bs 273/03 –). Dass die vom Kläger behaupteten Erlebnisse offensichtlich völlig unreflektiert in die Diagnose eingeflossen sind, wird anhand der psychologischen Stellungnahmen der Psychotherapeutin xxx vom 18. Mai 2004 und 24. November 2004 deutlich.

Sollte der Kläger, ungeachtet der obigen Feststellungen, an einer posttraumatischen Belastungsstörung, einer schweren depressiven Störung, einer Somatisierungsstörung und an einer andauernden Persönlichkeitsveränderung leiden (die ggf. nicht auf einem traumatisierenden Ereignis beruhen), sind diese Krankheiten bei seiner Rückkehr nach Serbien ohne weiteres behandelbar, so dass ihm keine der in § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG beschriebenen Gefahren drohen. Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 23. April 2007 (Stand: März 2007) ist die medizinische Versorgungslage in Serbien vergleichweise gut. Es gibt nur sehr wenige Erkrankungen, die in Serbien aufgrund fehlender Ausrüstung grundsätzlich nicht oder nur schlecht behandelt werden können (S. 21). Psychische Krankheiten werden in Serbien aufgrund des dort vorherrschenden medizinischen Ansatzes vorwiegend medikamentös behandelt. Es besteht jedoch auch die Möglichkeit anderer Therapieformen, wenn auch in begrenztem Umfang; so gibt es z.B. für die Teilnahme an Gruppenpsychotherapie Wartelisten (S. 22). Ferner ist auch die Grundversorgung mit häufig verwendeten, zunehmend auch mit selteneren, Medikamenten gewährleistet (S. 22). Nach Auskunftslage ist insbesondere auch die Behandelbarkeit einer posttraumatischen Belastungsstörung in Serbien gegeben (vgl. Auskunft der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland Belgrad vom 08.06.2006 an das VG Hamburg). Die zur Behandlung einer posttraumatischen Belastungsstörung erforderlichen Medikamente sind in Serbien ebenfalls erhältlich (vgl. Auskunft vom 08.06.2006 a.a.O.). Die vom Kläger gegen seine Panik- oder Angstattacken verwendeten Psychopharmaka Tavor 1,0 und Lorazepam sind in Serbien verfügbar (vgl. Auskunft vom 08.06.2006, a.a.O.). Hinzu kommt, dass die medizinische Versorgung für gemeldete Arbeitslose grundsätzlich kostenfrei und ohne finanzielle Eigenbeteiligung gewährleistet ist. Der Kläger könnte somit nach seiner Rückkehr nach Serbien ohne weiteres eine medizinische Behandlung seiner geltend gemachten posttraumatischen erhalten. Es kann somit davon ausgegangen werden, dass der gegenwärtige Gesundheitszustand des Klägers bei entsprechender medikamentöser Versorgung unverändert aufrechterhalten werden kann. Für eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes ist insoweit nichts ersichtlich, der Kläger selbst trägt hierzu auch nichts vor.

Die Kammer verkennt dabei nicht, dass die Behandlung von psychischen Erkrankungen in Serbien nicht dem deutschen Standard entspricht. Dies führt aber zu keiner anderen Bewertung. Denn der Abschiebungsschutz des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG gewährt keinen allgemeinen Anspruch auf Teilhabe am medizinischen Fortschritt und Standard in Deutschland (vgl. OVG Münster, Beschl. v. 05.08.2004 – 13 A 2160/04.A –, zitiert nach juris).