VG Bremen

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Zitieren als:
VG Bremen, Urteil vom 17.10.2007 - 1 K 1383/05.A - asyl.net: M12024
https://www.asyl.net/rsdb/M12024
Leitsatz:

§ 26 Abs. 4 AsylVfG (Familienflüchtlingsschutz) ist auch auf Fälle anwendbar, in denen der Stammberechtigte vor dem 1.1.2005 als Flüchtling anerkannt worden ist; die Drei-Monats-Frist des § 51 Abs. 3 VwVfG beginnt erst im Zeitpunkt der positiven Kenntnis von einer Rechtsänderung, nicht schon im Zeitpunkt ihres Inkrafttretens.

 

Schlagwörter: Verfahrensrecht, Folgeantrag, Änderung der Rechtslage, Familienabschiebungsschutz, Familienflüchtlingsschutz, Konventionsflüchtlinge, Zuwanderungsgesetz, Altfälle, Rückwirkung, Beurteilungszeitpunkt, Drei-Monats-Frist, Kenntnis
Normen: AsylVfG § 71 Abs. 1; AsylVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1; AsylVfG § 26 Abs. 4; AufenthG § 60 Abs. 1; VwVfG § 51 Abs. 3
Auszüge:

§ 26 Abs. 4 AsylVfG (Familienflüchtlingsschutz) ist auch auf Fälle anwendbar, in denen der Stammberechtigte vor dem 1.1.2005 als Flüchtling anerkannt worden ist; die Drei-Monats-Frist des § 51 Abs. 3 VwVfG beginnt erst im Zeitpunkt der positiven Kenntnis von einer Rechtsänderung, nicht schon im Zeitpunkt ihres Inkrafttretens.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Klägerin hat einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG (§ 113 Abs. 5 VwGO).

Die Klägerin beruft sich zur Begründung ihres Asylfolgeantrages auf die durch das Zuwanderungsgesetz vom 30.06.2004 mit Wirkung zum 01.01.2005 in Kraft getretene Bestimmung des § 26 Abs. 4 AsylVfG.

§ 26 Abs. 4 AsylVfG n. F. ist auch auf sogenannte "Altfälle" anzuwenden, in denen - wie vorliegend - für den Stammberechtigten vor dem Inkrafttreten der Vorschrift zum 01.01.2005 das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG (a. F.) festgestellt worden ist. Soweit ersichtlich wird dies allein von der 5. Kammer des Verwaltungsgerichts Münster (Urt. v. 10.03.2006 - 5 K 1962/03.A - Asylmagazin 2006, S. 32) und vom VG Düsseldorf (Urt. v. 06.06.2006 - 17 K 3041/04.A - juris) abgelehnt.

Überwiegend geht die Rechtsprechung jedoch davon aus, dass § 26 Abs. 4 AsylVfG auch auf "Altfälle" anzuwenden ist, in denen vor dem 01.01.2005 für den Stammberechtigten das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG festgestellt worden ist (VG Münster, 3. Kammer, Urt. v. 23.11.2006 - 3 K 2025/04.A - juris; VG Freiburg, Urt. v. 23.02.2006 - A 1 K 10829/04 - juris; Nds. OVG, Beschl. v. 07.12.2006 - 11 LA 347/06 - juris; VG Stuttgart, Urt. v. 22.05.2006 - A 10 K 12711/04 - juris; VG Stuttgart, Urt. v. 19.01.2007 - A 11 K 13174/05 - Asylmagazin 2007 S. 32; VG Arnsberg, Urt. v. 29.09.2006 - 13 K 1632/06.A - Asylmagazin 2006, S. 31; im Ergebnis ebenso: Schlesw.-Holst. OVG, Beschl. v. 30.01.2006 - 4 LA 72/05 - juris; VG Münster, 11. Kammer, Urt. v. 27.05.2005 - 11 K 38/05.A - juris).

Dieser Auffassung schließt sich die erkennende Kammer an. Ein Wortlautvergleich zwischen § 60 Abs. 1 AufenthG und § 51 Abs. 1 AuslG (a.F.) schließt die Anwendung des § 26 Abs. 4 AsylVfG auf Altfälle nicht aus. Der ausschließlichen Bezugnahme auf § 60 Abs. 1 AufenthG bzw. nunmehr auf die "Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft" kann nicht der gesetzgeberische Wille entnommen werden, dass § 26 Abs. 4 AsylVfG nur dann gelten soll, wenn nach dem 01.01.2005 für den Stammberechtigten die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG festgestellt worden sind. Auch in anderen Vorschriften des Asylverfahrensgesetzes war die Vorschrift des § 60 Abs. 1 AufenthG nominal an die Stelle des § 51 Abs. 1 AuslG getreten, obwohl ersichtlich mit der Verweisung auf § 60 Abs. 1 AufenthG auch die Regelung des § 51 Abs. 1 AuslG in Bezug genommen werden sollte (vgl. die §§ 72, 73 AsylVfG in der Fassung des Zuwanderungsgesetzes). Für eine Anwendung auf Altfälle spricht aber insbesondere das vom Gesetzgeber verfolgte Ziel eines gemeinsamen aufenthaltsrechtlichen Status von Familienangehörigen.

Dem Willen des Gesetzgebers entspricht es, auch den Ehegatten und Kindern von Ausländern, bei denen vor dem 01.01.2005 die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG festgestellt worden sind, die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen (vgl. auch für eine aus dem Sinn und Zweck der Vorschriften hergeleiteten Anwendung des Art. 14a AsylVfG und des § 73 Abs. 2a AsylVfG auf "Altfälle" trotz Fehlens einer Übergangsregelung: BVerwG, Urt. v. 21.11.2006 - 1 C 10/06 - BVerwGE 127, 161-177; BVerwG, Urt. v. 20.03.2007 - 1 C 21/06 - NVwZ 2007, 1089-1092).

Dem Anspruch der Klägerin steht auch nicht die Versäumung der Antragsfrist nach § 51 Abs. 3 VwVfG i.V. mit § 71 Abs. 1 AsylVfG entgegen. Danach muss der Asylfolgeantrag binnen drei Monaten nach Kenntnis des Betroffenen von dem Grund für das Wiederaufgreifen gestellt werden (§ 51 Abs. 3 VwVfG). Entgegen der Auffassung der Beklagten beginnt die Frist mit der positiven Kenntnis von der Rechtsänderung und nicht mit dem Inkrafttreten der Rechtsänderung. Die Veröffentlichung einer Rechtsänderung im Bundesgesetzblatt kann mit einer positiven Kenntnisnahme nicht gleichgesetzt werden. Es gibt keinen allgemeinen Rechtsgrundsatz, dass ein im Bundesgesetzblatt veröffentlichtes Gesetz mit seiner Veröffentlichung oder seinem Inkrafttreten jedem Einzelnen als bekannt gilt. Eine gesetzliche Fiktion der Kenntnis ab Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt oder das Ingangsetzen der Dreimonatsfrist mit dem Inkrafttreten der Vorschrift hat der Gesetzgeber nicht angeordnet (vgl. OVG NW. Beschl. v. 08.03.2007 - 3 A 4039106.A - juris; VG Aachen, Urt. 06.12.2006 - 6 K 1181/06.A - Asylmagazin 2007, S. 43; VG Arnsberg, Urt. 29.9.2006 - 13 K 1632/06.A - Asylmagazin 2006, S. 31; VG Stuttgart, Urt. v. 19.1.2007 - A 11 K 13174105 - Asylmagazin 2007, S. 32; a.A.: VG Minden Urt. v. 12.04.2005 - 1 K 5205/03.A - juris). Dass die Klägerin vor dem 19.04.2005 Kenntnis von der Rechtsänderung erhalten habe könnte, ist nicht ersichtlich und wird auch von der Beklagten nicht behauptet.