LSG Hessen

Merkliste
Zitieren als:
LSG Hessen, Beschluss vom 20.09.2007 - L 6 AY 5/07 ER - asyl.net: M11999
https://www.asyl.net/rsdb/M11999
Leitsatz:

Keine einstweilige Anordnung auf Leistungen nach § 2 AsylbLG, wenn die Erfolgsaussichten der Klage offen sind.

 

Schlagwörter: D (A), Asylbewerberleistungsgesetz, Aufenthaltsdauer, Rechtsmissbrauch, Zumutbarkeit, freiwillige Ausreise, in Deutschland geborene Kinder, Integration, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), einstweilige Anordnung, Rückwirkung, Eilbedürftigkeit
Normen: AsylbLG § 2 Abs. 1; SGG § 86b Abs. 2
Auszüge:

Keine einstweilige Anordnung auf Leistungen nach § 2 AsylbLG, wenn die Erfolgsaussichten der Klage offen sind.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Der Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein Rechtsverhältnis gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint.

Davon ausgehend ist das Sozialgericht zunächst zutreffend zu dem Ergebnis gelangt, dass zu Gunsten der Antragsteller kein Anordnungsgrund im Hinblick auf höhere Leistungen gemäß § 2 AsylbLG für die Zeit vor Eingang des Eilantrages am 12.01.2007 gegeben sein kann, weil einstweilige Anordnungen nur zur Regelung eines vorläufigen Zustandes ergehen dürfen, sofern die Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Dies impliziert, dass höhere Leistungen im Rahmen einer einstweiligen Anordnung grundsätzlich nur für die Zeit ab Eingang des Eilantrages bei Gericht und nicht auch für die Vergangenheit in Betracht kommen (vgl. Hessisches Landessozialgericht, Beschlüsse vom 26.10.2005, Az: L 7 AS 65/05 ER und vom 24.04.2006, Az: L 9 AS 39/06 ER). Zur Vermeidung von Wiederholungen verweist der Senat auf die zutreffende Begründung des angefochtenen Beschlusses, die er sich insoweit zu Eigen macht (§ 142 Abs. 2 S. 3 SGG).

Aber auch im Hinblick auf höhere Leistungen für die Zeit ab dem 12.01.2007 kann nicht von dem Vorliegen eines Anordnungsgrundes ausgegangen werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Ausgang des Hauptsacheverfahrens nach Einschätzung des Senates derzeit offen ist. Dies führt aber wegen der Wechselbeziehung zwischen Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch dazu, dass der Folgenabwägung besonderes Gewicht zukommt. Eine vor diesem Hintergrund vorgenommene Folgenabwägung hat zum Ergebnis, dass den Antragstellern zugemutet werden kann, den Ausgang des Hauptsacheverfahrens abzuwarten, was noch auszuführen sein wird. Zunächst folgt der Senat den Ausführungen des Sozialgerichts, wonach aufgrund summarischer Prüfung davon auszugehen ist, dass den Antragstellern eine Passbeschaffung sowie eine anschließende Ausreise tatsächlich und rechtlich möglich ist, sie es jedoch an der notwendigen Mitwirkung fehlen lassen.

Dies allein reicht jedoch für die Annahme einer rechtsmissbräuchlichen Beeinflussung der Dauer des Aufenthaltes nicht aus. Insoweit ist neben der tatsächlichen und rechtlichen Möglichkeit auszureisen weiter erforderlich, dass die Ausreise auch zumutbar ist. Nur dann ist das Verbleiben eines geduldeten Ausländers in Deutschland rechtsmissbräuchlich (BSG, Urteil vom 08.02.2007, Az. B 9b AY 1/06 R). Nach summarischer Prüfung ist hier offen, ob die Zumutbarkeit der Ausreise bejaht werden kann.

Zumindest bei der 9 Jahre alten Tochter C. drängt sich die Frage auf, ob aufgrund der sozialen und schulischen Prägung in Deutschland noch eine tragfähige Beziehung zur Muttersprache und zur Heimat der Antragsteller zu 1. und 2. besteht. Verneinendenfalls könnte die Ausreise für C. unzumutbar sein. Gleiches gilt für die Töchter D. und E., die ggf. in einem deutschen Kindergarten deutsch geprägt worden sind. Sofern die Unzumutbarkeit der Ausreise für die genannten Kinder bejaht wird, könnte es bereits aus diesem Grund für die Antragsteller zu 1. und 2. ebenfalls unzumutbar sein, aus Deutschland auszureisen, weil nur die Alternative gegeben wäre, die betreffenden Kinder in Deutschland zurückzulassen oder sie zu einem unzumutbaren Wechsel in das Westjordanland zu zwingen (vgl. zur Beurteilung einer solchen Fallgestaltung BSG, Urteil vom 08.02.2007, a.a.O). Die entsprechenden Ermittlungen zur Klärung dieser offenen Frage verbieten sich jedoch im vorliegenden summarischen Verfahren auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes. Sie bleiben dem Hauptsacheverfahren vorbehalten.

Einer gegenüber den Grundleistungen des § 3 AsylbLG eingeschränkte Leistungsgewährung regelt § 1a AsylbLG. Danach erfolgt eine Einschränkung auf diejenigen Leistungen, die im Einzelfall nach den Umständen unabweisbarer geboten sind, sofern Leistungsberechtigte bzw. ihre Familienangehörige sich nach Deutschland begeben haben, um Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zu erlangen oder bei denen aus zu vertretenden Gründen aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können. Im Falle der verfassungsrechtlich gebotenen restriktiven Auslegung dieser Vorschrift ist bereits durch Leistungen nach § 1a AsylbLG (in aller Regel Grundleistungen nach § 3 AsylbLG ohne Taschengeld) das soziokulturelle Existenzminimum bzw. ein menschenwürdiges Leben für den Leistungsberechtigten gesichert (vgl. Birk in Lehr- und Praxiskommentar, SGB XII, Sozialhilfe -LPK-SGB XII-, § 1a AsylbLG, Rdnr. 1). Mithin gilt dies erst recht für die höheren Leistungen nach § 3 AsylbLG. Ist jedoch das soziokulturelle Existenzminimum durch diese Leistungen gesichert, so ist eine Eilbedürftigkeit im Hinblick auf die Erlangung der noch höheren Analogleistungen nach den Vorschriften des SGB XII nicht begründbar (so auch LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 21.12.2005, Az. L 20 (9) B 37/05 SO ER; Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss vom 28.06.2005, Az. L 11 B 212/05 AY ER). Dies gilt zumindest dann, wenn - wie hier - das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 2 Abs. 1 AsylbLG zweifelhaft ist, so dass von einem offenen Ausgang des Hauptsacheverfahrens ausgegangen werden muss.