VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Urteil vom 23.10.2007 - 14 B 06.30315 - asyl.net: M11996
https://www.asyl.net/rsdb/M11996
Leitsatz:

Zur Verfolgung wegen der Religion; Flüchtlingsanerkennung eines iranischen Staatsangehörigen wegen Konversion zum Christentum.

 

Schlagwörter: Iran, Konversion, Apostasie, Christen, Verfolgungsbegriff, Anerkennungsrichtlinie, Religion, religiös motivierte Verfolgung, religiöses Existenzminimum, Diskriminierung, Missionierung, Nachfluchtgründe, subjektive Nachfluchtgründe
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1 Bst. b; RL 2004/83/EG Art. 9 Abs. 2 Bst. a; RL 2004/83/EG Art. 9 Abs. 2 Bst. b; RL 2004/83/EG Art. 9 Abs. 2 Bst. c; AsylVfG § 28 Abs. 1c
Auszüge:

Zur Verfolgung wegen der Religion; Flüchtlingsanerkennung eines iranischen Staatsangehörigen wegen Konversion zum Christentum.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Berufung ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat in der angefochtenen Entscheidung die Beklagte im Ergebnis zu Recht verpflichtet festzustellen, dass in der Person des Klägers die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG, jetzt die des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG vorliegen. Dem Kläger drohen im Falle seiner Rückkehr in den Iran wegen seiner infolge des Glaubenswechsels christlich ausgerichteten Lebensführung Verfolgungsmaßnahmen, die nach nunmehriger Rechtslage einen Anspruch auf Zuerkennung des Flüchtlingsstatus gemäß Art. 2 Buchst. c und d der Richtlinie 2004/83/EG des Rates begründen.

Gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ist für die hier zu treffende Entscheidung die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung maßgebend. Nach Art. 38 Richtlinie 2004/83/EG ist die Frist für die Mitgliedstaaten zur Umsetzung dieser Richtlinie mit dem 10. Oktober 2006 abgelaufen. Soweit die Richtlinie nicht oder nicht vollständig in nationales Recht umgesetzt ist, können sich die Betroffenen unmittelbar auf sie berufen (vgl. EuGH vom 19.11.1991, DVBl 1992, 1017). Unbestimmte Rechtsbegriffe in den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten sind im Licht der Richtlinie auszulegen. Das gilt sowohl hinsichtlich der relevanten Verfolgungshandlungen als auch im Hinblick auf die zu berücksichtigenden Verfolgungsgründe. Dazu zählt gemäß § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG als auch nach Art. 2 Buchstabe c Richtlinie 2004/83/EG die Religionszugehörigkeit.

Nach der Rechtsprechung sowohl des Bundesverfassungsgerichts (vom 1.7.1987 BVerfGE 76, 143/158 f.) und des Bundesverwaltungsgerichts (vom 20.1.2004 BVerwGE 120, 16/19 f.), der sich der Verwaltungsgerichtshof angeschlossen hat, war die Religionsausübung nur insoweit geschützt, als sie nicht über deren Kernbereich im Sinn des sog. religiösen Existenzminimums hinausgegangen ist. Nicht geschützt waren deshalb bisher eine über den bloßen Besuch öffentlicher Gottesdienste hinausgehende, öffentlichkeitswirksame religiöse Betätigung oder missionierende Tätigkeit. Demgegenüber und auch - jedenfalls in der Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht und das Bundesverwaltungsgericht - gegenüber der Genfer Flüchtlingskonvention vom 28. Juli 1951 erweitert Art. 10 Abs. 1 Buchstabe b der Richtlinie 2004/83/EG den Bereich geschützter religiöser Betätigung.

Gegenüber dem religiösen Existenzminimum, dem sog. forum internum, umfasst der Begriff der Religion in diesem Sinn nunmehr die Teilnahme an religiösen Riten in der Öffentlichkeit, aber auch sonstige Betätigungen, Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind. Dazu zählen insbesondere das offene, nicht nur an die Mitglieder der eigenen Religionsgemeinschaft gewandte Bekenntnis der persönlichen religiösen Überzeugung wie auch die Darstellung ihrer Verheißungen und damit auch missionarische Betätigung, die gerade darin besteht, Nicht- oder Andersgläubigen vor Augen zu führen, welches Heil den die jeweiligen Lehren beachtenden Gläubigen im Gegensatz zu der Verdammnis Ungläubiger erwartet. Eine Beschränkung dieses Bekenntnisses und der Verkündigung auf den Bereich der eigenen Glaubensgemeinschaft kann weder dem Wortlaut noch der Systematik dieser Vorschrift entnommen werden. Es sind vielmehr alle Betätigungen, Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen erfasst, die sich auf eine ernst zu nehmende religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind. Dem entspricht das Bedürfnis des Gläubigen, sich gegenüber anderen Menschen zu bekennen und für seine Überzeugung zu werben. Ihre Grenze finden solche religiösen Handlungen, wenn sie in einer erheblich den öffentlichen Frieden störenden Weise in die Lebenssphäre anderer Bürger eingreifen oder mit dem Grundbestand des ordre public nicht vereinbar sind. Innerhalb dieser Grenzen ist nicht nur derjenige geschützt, der seine religiösen Überzeugungen ohne Rücksicht auf Verfolgungsmaßnahmen nach außen vertritt, sondern auch derjenige, der unter dem Zwang der äußeren Umstände aus Furcht vor Verfolgung seine religiösen Bedürfnisse nur abseits der Öffentlichkeit oder gar heimlich auslebt. Maßstab können auch nicht die im Iran traditionell beheimateten christlichen Konfessionen sein, die um ihrer Existenz willen auf Missionsarbeit verzichten.

Im Falle seiner Rückkehr in den Iran hätte der Kläger nach der Überzeugung des Senats auch Verfolgungshandlungen i.S. des Art. 9 Abs. 1 Richtlinie 2004/83/EG zu befürchten. Gemäß Art. 9 Abs. 2 Buchstaben a, b und c Richtlinie 2004/83/EG zählen dazu die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, gesetzliche, administrative, polizeiliche und bzw. oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden oder auch unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung. Solche Maßnahmen stellen eine relevante Verfolgung auch dann dar, wenn sie nicht vom Staat, sondern von Dritten ausgehen, sofern der Staat oder diesen beherrschende Organisationen nicht in der Lage oder willens sind, Schutz vor Verfolgung zu gewähren (§ 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG).

Es ist richtig, dass Berichte über Todesfälle von Konvertiten nur zu spezifisch gelagerten Einzelfällen vorliegen und tatsächliche Motive und Hintergründe für deren Tötung, vor allem aber die Täter unbekannt sind. Dem Beteiligten zu 1 ist auch zuzugeben, dass außer den eben genannten Berichten keine Referenzfälle bekannt sind, nach denen missionierende Mitglieder christlicher, freikirchlicher Gruppen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt waren. Allerdings gehen sowohl das Auswärtige Amt (an Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 12.4.2007) wie auch das Deutsche Orient-Institut in der vom Verwaltungsgerichtshof eingeholten gutachtlichen Stellungnahme davon aus, dass Mitglieder religiöser Minderheiten, zu denen zum Christentum konvertierte Muslime gehören, staatlichen Repressionen ausgesetzt sein können, wobei es insbesondere auf das öffentlich erkennbare Engagement des Betroffenen ankommt. Nach den Erkenntnissen des Deutschen Orient-Instituts (gutachtliche Stellungnahme vom 22.11.2004 an den Verwaltungsgerichtshof) müssen Angehörige christlicher Religionsgemeinschaften mit Verfolgung insbesondere auch durch Dritte rechnen, wenn Gottesdienste im privaten Bereich bekannt werden. Insbesondere haben danach Apostaten ungeachtet der Strafbarkeit des Abfalls vom Islam in solchen Fällen regelmäßig andere Formen der Bestrafung zu gegenwärtigen, worauf das Bundesverwaltungsgericht in seinem Beschluss vom 27. Januar 2006 hinweist. Insbesondere aber gilt aus islamisch iranischer Sicht ein absolutes Missionierungsverbot für Christen. Der Bruch dieses Tabus ist regelmäßig mit Sanktionen verbunden (Deutsches Orient-Institut a.a.O.). Dies bestätigt die in dem vom Bundesverwaltungsgericht aufgehobenen Beschluss vom 30. Mai 2005 geäußerte Auffassung des Senats, dass eine Gefährdung insbesondere durch Dritte bei einer über den bloßen Besuch öffentlicher Gottesdienste hinausgehenden, öffentlichkeitswirksamen religiösen Betätigung oder bei missionierender Tätigkeit zu befürchten ist. Dem ist auch der Beteiligte zu 1 in der Begründung seines Antrags auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts gefolgt. Auch wenn Referenzfälle nicht bekannt sind, besteht zwischen den sachverständigen Stellen Einigkeit darüber, dass mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bei öffentlichkeitswirksamer Glaubensbetätigung oder gar Missionierung asylrelevante Maßnahmen seitens staatlicher Stellen oder auch Dritter zu erwarten sind. Die Einholung weiterer gutachtlicher Stellungnahmen hat sich dem Verwaltungsgerichtshof daher nicht aufgedrängt.

Nachdem der Asylerstantrag des Klägers inmitten des Verfahrens steht, ist die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG auch nicht deshalb ausgeschlossen, weil es sich beim Glaubenswechsel des Klägers um einen subjektiven Nachfluchtgrund handelt. § 28 Abs. 1 a AsylVfG stellt klar, dass die zur Anerkennung eines Abschiebungsschutzes gemäß § 60 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG führende Verfolgungsgefahr grundsätzlich auch auf Ereignissen und Aktivitäten beruhen kann, die nach der Ausreise aus dem Herkunftsland entstanden bzw. durchgeführt worden sind (Begründung zu Art. 3 Nr. 21 des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union - EUAufhAsylRUG BT-Drs. 16/5065).