VG Oldenburg

Merkliste
Zitieren als:
VG Oldenburg, Urteil vom 13.11.2007 - 1 A 1824/07 - asyl.net: M11991
https://www.asyl.net/rsdb/M11991
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung eines homosexuellen Mannes aus Nigeria; Homosexuelle stellen eine bestimmte soziale Gruppe gem. Art. 10 Abs. 1 Bst. d der Qualifikationsrichtlinie dar.

 

Schlagwörter: Nigeria, Homosexuelle, soziale Gruppe, Verfolgungsbegriff, Strafrecht, Scharia, Steinigung, Inhaftierung, Haftbedingungen, Untersuchungshaft, Übergriffe, extralegale Hinrichtungen, beachtlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungshandlung, Strafverfolgung, Diskriminierung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG ARt. 10 Abs. 1 Bst. d; EMRK Art. 8; GG Art. 1 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 9 Abs. 2 Bst. c
Auszüge:

Flüchtlingsanerkennung eines homosexuellen Mannes aus Nigeria; Homosexuelle stellen eine bestimmte soziale Gruppe gem. Art. 10 Abs. 1 Bst. d der Qualifikationsrichtlinie dar.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG sind in der Person des Klägers im Hinblick auf Nigeria erfüllt. Im Falle der Abschiebung nach Nigeria wäre die Freiheit des Klägers wegen der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Homosexuellen bedroht.

Homosexuelle stellen in Nigeria eine „soziale Gruppe“ im Sinne des § 60 Abs. 1 S. 1 und 5 AufenthG i. V. m. Art. 10 Abs. 1 lit. d) S. 2 der Richtlinie 2004/83/EG dar.

Die frühere, aus der Zeit vor der Qualifikationsrichtlinie stammende Rechtsprechung, derzufolge Homosexuelle grundsätzlich keine „soziale Gruppe“ im Sinne des Art. 1 A Nr. 2 GK sein können (so BVerwG, Urteil vom 15. März 1988, 9 C 278.86, BVerwGE 79, 143, 145), ist demzufolge überholt. Darauf, ob die Homosexualität für den Betroffenen „unentrinnbar“ ist, so dass er sich gleichgeschlechtlicher Betätigung gar nicht enthalten kann (vgl. BVerwG, vom 15. März 1988, 9 C 278.86, BVerwGE 79, 143, 151 und Urteil vom 17. Oktober 1989, 9 C 25/89, NVwZ-RR 1990, 375 zu Art. 16 Abs. 2 S. 2 GG a. F.), kommt es daher nicht mehr an. Das Erfordernis der „Unentrinnbarkeit“ wurde vom Bundesverwaltungsgericht deshalb aufgestellt, weil es Homosexuelle nicht als „soziale Gruppe“ ansah, sondern ihre Unterdrückung unter das Tatbestandsmerkmal „Verfolgung wegen eines unabänderlichen, mit Rasse oder Nationalität vergleichbaren Merkmals“ subsumierte (vgl. BVerwG, vom 15. März 1988, 9 C 278.86, BVerwGE 79, 143, 145 - 147; dazu auch Marx, Handbuch zur Flüchtlingsanerkennung, § 19 Rn. 37). Als ein solches „unabänderliches“ Merkmal kommt natürlich nur eine „unentrinnbare“, für den Betroffenen nicht veränderbare sexuelle Ausrichtung in Betracht. Die Qualifikationsrichtlinie ordnet dagegen ausweislich der Begründung des Kommissionsentwurfs zu Art. 10 Abs. 1 lit d) die sexuelle Ausrichtung nicht den unveränderlichen Merkmalen zu, sondern denjenigen, deren Verzicht vom Kläger auch bei Abänderlichkeit wegen ihres identitätsprägenden Charakters nicht verlangt werden kann (Marx, Handbuch zur Flüchtlingsanerkennung, § 19 Rn. 30, 39). Damit kommt es nach der Richtlinie nicht mehr darauf an, ob der Kläger die sexuelle Enthaltsamkeit, die er nach seinen Angaben seit seiner Einreise nach Deutschland freiwillig übt, auf Dauer durchhalten kann. Wenn er sich homosexueller Betätigung unter Aufbietung großer Willensanstrengungen für einen längeren Zeitraum enthalten könnte und damit nicht im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgericht „unentrinnbar“ homosexuell wäre, so würde dies nur dazu führen, dass seine Homosexualität für ihn kein unabänderliches, mit Rasse oder Nationalität vergleichbares Merkmal ist. Unter das Tatbestandsmerkmal „Angehöriger einer durch ihre sexuelle Orientierung definierten sozialen Gruppe“ fiele er aber immer noch, da die Unterdrückung seiner sexuellen Orientierung vom Kläger nach der Wertung der Richtlinie gerade auch dann nicht verlangt werden kann, wenn sie ihm faktisch möglich ist.

Es kommt also für § 60 Abs. 1 AufenthG nur darauf an, ob der Kläger einer sozialen Gruppe im Sinne des Art. 1 A Nr. 2 GK angehört, was nach Art. 10 Abs. 1 d) der Qualifikationsrichtlinie wiederum der Fall ist, wenn die Homosexualität für den Kläger identitätsprägend wäre und Homosexuelle in Nigeria eine Gruppe mit deutlich abgegrenzter Identität wären, die von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (vgl. auch Marx, Handbuch zur Flüchtlingsanerkennung, § 19 Rn. 31, 46).

Seine Homosexualität ist für die Identität des Klägers ein prägendes Merkmal.

Homosexuelle werden ferner in Nigeria von der sie umgebenden Mehrheitsgesellschaft als andersartig betrachtet und sind deshalb dort eine Gruppe mit deutlich abgegrenzter Identität. Die Mehrheitsgesellschaft ist nicht bereit, ihre Neigung offen auslebende Homosexuelle als gleichwertige Mitbürger zu betrachten, sondern grenzt sie als „fremd“ und „andersartig“ aus. Offen ausgelebte Homosexualität ist in Nigeria gesellschaftlich geächtet (vgl. BAMF, Information Homosexualität in Nigeria, März 2007, S. 1 f.). Herausragende Persönlichkeiten des religiösen und politischen Lebens haben Homosexualität als „abscheulich“, „unnatürlich“, „unbiblisch“ und „unafrikanisch“ verdammt (vgl. BAMF, Information Homosexualität in Nigeria, März 2007, S. 7). Interessierte Gruppen versuchen, Homosexualität wahrheitswidrig als etwas erst durch die Kolonialmächte nach Afrika hineingetragenes darzustellen (vgl. Gutachten d. Instituts für Afrika-Kunde vom 11.11.2002 an VG Oldenburg zu 2 A 2928/02). Die breite Bevölkerung grenzt Homosexuelle - wenn deren Veranlagung öffentlich bekannt wird - sozial aus oder greift sogar zu Verfolgungsmaßnahmen bis hin zur Lynchjustiz (Vgl. Gutachten d. Instituts für Afrika-Kunde vom 11.11.2002 an VG Oldenburg zu 2 A 2928/02 und Gutachten an VG München vom 19. Januar 2006; ferner Auskunft AI an VG Düsseldorf vom 3. August 2006).

Dem Kläger droht in Nigeria auch mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Gefahr für seine Freiheit aufgrund von an die Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Homosexuellen anknüpfender staatlicher Verfolgung.

Homosexuelle Handlungen sind in ganz Nigeria auch dann strafbar, wenn sie unter erwachsenen Männern mit Einverständnis aller Beteiligter erfolgen. Das in den nördlichen Bundesstaaten gültige Scharia-Recht sieht Körperstrafen bis hin zur Steinigung vor (AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria, 6. Mai 2006, 508-516.80/3 NGA, S. 22 f. und 26). Im säkularen Rechtskreis der südlichen Bundesstaaten sieht das Gesetz Freiheitsstrafe von 3 Monaten bis 3 Jahren (AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria, 6. Mai 2006, 508-516.80/3 NGA, S. 26), nach anderen Informationen sogar teilweise bis zu 14 Jahren vor (Gutachten d. Instituts für Afrika-Kunde vom 11.11.2002 an VG Oldenburg zu 2 A 2928/02; Auskunft AI an VG Oldenburg vom 11.2.2003 zu 2 A 2928/02; Auskunft AA an VG Stuttgart vom 17.5.2004; Auskunft AA an VG Düsseldorf vom 25. Juli 2006; Auskunft AI vom 3.8.2006 an VG Düsseldorf). Die Regierung verabschiedete Anfang 2006 zur umfassenderen Bekämpfung der Homosexualität den Entwurf eines Gesetzes, das schon das bloße Werben für gleichgeschlechtliche Beziehungen (etwa die Mitgliedschaft in Vereinen, die sich für die Rechte von Homosexuellen einsetzen oder die Teilnahme an CSDParaden) unter Strafe stellt (AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria, 6. Mai 2006, 508-516.80/3 NGA, S. 26; Auskunft AI vom 3.8.2006 an VG Düsseldorf; ausf. BAMF, Information Homosexualität in Nigeria, März 2007, S. 9 ff.). Mit der Verabschiedung des Entwurfes durch die Legislative ist zu rechnen (vgl. BAMF, Information Homosexualität in Nigeria, März 2007, S. 13). Allgemein findet in Nigeria in seit einigen Jahren eine öffentliche Kampagne v. a. staatlicher und religiöser Akteure (christlicher wie muslimischer Seite) gegen Homosexuelle statt, die zu einem Klima zunehmender Intoleranz führt (vgl. BAMF, Information Homosexualität in Nigeria, März 2007, S. 7; Institut für Afrika-Kunde, Gutachten an VG Oldenburg vom 11.11.2002 zu 2 A 2928/02 sowie Gutachten vom 19. Januar 2006 an VG München; Auskunft AI an VG Düsseldorf vom 3. August 2006).

Im Lichte dieser neueren Entwicklungen hat AI ausdrücklich seine Einschätzung früherer Jahre, wonach freiwillige homosexuelle Handlungen in Großstädten in der Regel praktisch nicht strafrechtlich verfolgt würden, „dramatisch ins Gegenteil“ gekehrt (vgl. Auskunft von AI vom 3.8.2006 an VG Düsseldorf).

Das Auswärtige Amt sieht allerdings keine solche Veränderung (vgl. Auskunft vom 15.6.2006 an VG München). Es berichtet nach wie vor, dass sowohl im säkularen als auch im Scharia-Rechtskreis selbstbestimmte homosexuelle Handlungen in der Praxis „soweit erkennbar“ „nur in Ausnahmefällen“ verfolgt würden (AA, Bericht über die asylund abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria, 6. Mai 2006, 508-516.80/3 NGA, S. 26). Eine aktive Verfolgung von bzw. Suche nach Homosexuellen finde nicht statt (Auskunft AA an VG Stuttgart vom 17.5.2004). Das Auswärtige Amt spezifiziert die „Ausnahmefälle“, in denen eine Strafverfolgung erfolgt sei, allerdings weder quantitativ noch qualitativ (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria, 6. Mai 2006, 508-516.80/3 NGA, S. 26). Auch relativiert es seine Angaben dadurch, dass es sie ausdrücklich unter den Vorbehalt des „soweit erkennbar“ stellt. Es gibt in der Tat Anhaltspunkte für Zweifel daran, ob dem Auswärtigen Amt wirklich lückenlose Erkenntnisse über den tatsächlichen Umfang der Strafverfolgung Homosexueller in Nigeria zur Verfügung stehen.

Aufgrund einer Gesamtschau dieser Erkenntnisquellen geht der Einzelrichter davon, dass in Nigeria zwar sicherlich keine massenhafte tatsächliche Strafverfolgung einverständlicher homosexueller Handlungen unter männlichen Erwachsenen erfolgt, eine Verfolgung aber in einer im Einzelnen nicht genau bekannten Anzahl von „Ausnahmefällen“ stattfindet. Dies trifft auch auf den Süden des Landes und die dortigen Großstädte zu. Die vom BAMF selbst herausgegebenen Informationen rechtfertigen nicht den im angegriffenen Bescheid gezogenen Schluss, dort herrsche gegenüber Homosexuellen echte Toleranz. So ist es auch in Lagos 2006 und 2007 in zwei Fällen zur Inhaftierung praktizierender Homosexueller gekommen (BAMF, Information Homosexualität in Nigeria, März 2007, S. 15). 2006 hat dort der Mob überdies eine von Homosexuellen häufig frequentierte Strandbar niedergebrannt (BAMF, aaO., S. 17).

Die Gründe dafür, dass in der Praxis wohl nur relativ wenige Verurteilungen vorkommen, sind vielfältig. Eine Ursache ist, dass Homosexuelle in Nigeria sehr darauf bedacht sind, dass ihre Veranlagung und sexuelle Praxis nicht bekannt wird (Auskunft AA an VG Düsseldorf vom 25. Juli 2006; Auskunft AI an VG Düsseldorf vom 3. August 2006). Ferner werden die allgemeine Ineffizienz der Strafverfolgungsbehörden, Beweisschwierigkeiten, Korruption sowie zurückhaltendes Anzeigeverhalten der Bevölkerung genannt (vgl. Gutachten des Instituts für Afrika-Kunde vom 11.11.2002 an VG Oldenburg zu 2 A 2928/02; BAMF, Information Homosexualität in Nigeria, März 2007, S. 19). Das zurückhaltende Anzeigeverhalten der Bevölkerung beruht aber nicht etwa auf gesellschaftlicher Toleranz gegenüber Homosexualität, sondern auf einem allgemeinen Mangel an Vertrauen in die nigerianische Polizei (vgl. BAMF, Information Homosexualität in Nigeria, März 2007, S. 19). Häufig nehmen etwa Nachbarn, die Fälle von Homosexualität bemerken, die Verfolgung selbst in die Hand, was bis hin zur Lynchjustiz geht (vgl. BAMF, Information Homosexualität in Nigeria, März 2007, S. 19; zur verbreiteten Lynchjustiz gegenüber Homosexuellen auch Institut für Afrika-Kunde, Gutachten an VG Oldenburg vom 11.11.2002 zu 2 A 2928/02 sowie Gutachten vom 19. Januar 2006 an VG München; Auskunft AI an VG Düsseldorf vom 3. August 2006). Wenn tatsächliche oder angebliche homosexuelle Handlungen bei den Behörden angezeigt werden, kommt es aber durchaus zum Versuch der Festnahme und Strafverfolgung des Beschuldigten (sofern dieser nicht höhere Bestechungsgelder als der Anzeigende aufzubringen vermag) (BAMF, Information Homosexualität in Nigeria, März 2007, S. 19, 27).

Ist der echte oder angebliche Homosexuelle erst einmal in die Fänge des staatlichen Sicherheitsapparates geraten, drohen ihm Polizeigewalt und selbst außergerichtliche Exekutionen (vgl. AI vom 3.8.2006 an VG Düsseldorf). Aber auch wenn es „nur“ zu der gesetzlich vorgesehenen Inhaftierung kommt, bringt dies jahrelange Haft unter schlimmsten Bedingungen mit sich. Dabei kann letztendlich dahinstehen, ob die gesetzlich vorgesehene Höchststrafe im säkularen Süden des Landes bei 3 oder bei 14 Jahren Haft liegt. In Nigeria werden Untersuchungshäftlinge (die ca. 65 % der Gefängnisinsassen ausmachen) häufig länger inhaftiert als die Höchststrafe des ihnen vorgeworfenen Delikts dauern könnte, und zwar zum Teil 10 bis 15 Jahre. Auch Verurteilte bleiben wegen Schlamperei im Umgang mit den Vollzugsakten häufig noch nach Ablauf ihrer eigentlichen Haftstrafe im Gefängnis (AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria, 6. Mai 2006, 508-516.80/3 NGA, S. 11, 31; ähnl. AI vom 3.8.2006 an VG Düsseldorf). Die Haftbedingungen sind - ganz besonders für Untersuchungshäftlinge - katastrophal. Nicht einmal die ausreichende Versorgung mit Lebensmitteln und Trinkwasser ist sicher gestellt. Immer wieder kommt es deshalb zu Todesfällen (vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria, 6. Mai 2006, 508-516.80/3 NGA, S. 31).

Unter diesen Umständen besteht eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass dem Kläger wegen seiner Homosexualität in Nigeria Freiheitsentzug droht.

Eine Verfolgung droht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit, wenn in Anbetracht aller Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Asylsuchenden Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, Urteil vom 15. März 1988, 9 C 278.86, BVerwGE 79, 143, 150). Eine in diesem Sinne wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann auch dann vorliegen, wenn aufgrund einer „quantitativen“ oder statistischen Betrachtungsweise weniger als 50 % Wahrscheinlichkeit für dessen Eintritt besteht (BVerwG, Urteil vom 15. März 1988, 9 C 278.86, BVerwGE 79, 143, 150).

Zwar liegt die statistische Wahrscheinlichkeit dafür unter 50 %, da nach den oben angeführten Erkenntnissen die tatsächliche Strafverfolgung einverständlicher homosexueller Handlungen in Nigeria rein quantitativ eine Ausnahme ist. Belastbare Erkenntnisse über den genauen Umfang der tatsächlichen Strafverfolgung liegen jedoch nicht vor; die genaue Zahl der „Ausnahmefälle“ ist unbekannt. Sicher ist aber aufgrund der oben ausgewerteten Erkenntnismittel, dass der weitgehenden Nichtverfolgung von einverständlicher Homosexualität unter Erwachsenen keine verfestigte, offizielle Politik, diese Strafrechtsnormen nicht mehr praktisch durchzusetzen, zugrunde liegt. Die nigerianische Bundesregierung und religiöse Autoritäten des Christentums wie des Islams verurteilten vielmehr gerade in letzter Zeit die Homosexualität scharf und befürworteten eine Ausdehnung ihrer Strafbarkeit. Wo homosexuelles Verhalten angezeigt wird sind die Behörden - vorbehaltlich ihrer allgemeinen Ineffizienz und Korruptionsanfälligkeit - bemüht, den Verdächtigen festzunehmen und zu verfolgen. Grund für die praktisch eher seltene Strafverfolgung Homosexueller ist nicht eine regional beschränkte gesellschaftliche Toleranz, die dazu führt, dass die Strafvorschriften gegen einverständliche homosexuelle Handlungen zumindest in den Großstädten des Südens nur noch auf dem Papier stehen, aber von den Behörden bewusst nicht mehr durchgesetzt werden. Vielmehr ergibt sich aus den oben angegebnen Erkenntnisquellen, dass nur allgemeine Missstände im nigerianischen Polizei- und Justizapparat, die große Vorsicht der Betroffenen, sich „nicht erwischen zu lassen“, sowie das mangelnde Vertrauen der Mehrheitsbevölkerung in die korrupte Polizei, die sie die Selbstjustiz einer Anzeige vorziehen lässt, eine Strafverfolgung größeren Umfangs hindern.

Unter diesen Umständen kann bei einem vernünftig denkenden, besonnen Menschen in der Lage des Klägers trotz der statistisch unter 50 % liegenden Wahrscheinlichkeit die Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden. Es gibt keine verlässliche Grundlage, sondern lediglich eine gewisse statistische Chance für die Annahme, dass der Kläger in einer südnigerianischen Großstadt bei sorgfältigem Verbergen seiner sexuellen Präferenzen und bei Ausbleiben einer Anzeige aufgrund der Ineffizienz des Staatsapparates der eigentlich gesetzlich vorgeschriebenen und politisch gewollten Verfolgung entgeht. Sollte ihm dieses sorgfältige Verbergen aber einmal misslingen oder sollte ein Nachbar Verdacht schöpfen und den Kläger - anstatt zur üblichen Selbstjustiz zu greifen - bei der Polizei anzeigen, wird er aller Voraussicht nach auch in einer Großstadt Südnigerias mit der Verhaftung rechnen müssen. Wenn ein für eine bestimmte „soziale Gruppe“ kennzeichnendes Verhalten (hier: einverständliche homosexuelle Praktiken unter Erwachsenen Männern als typisches Verhalten der sozialen Gruppe „Homosexuelle“) im Heimatland des Ausländers mit Freiheitsstrafe bedroht wird, die Behörden dieses Landes grundsätzlich bemüht sind, diese Strafnormen im Rahmen des ihnen faktisch möglichen umzusetzen, und es keinerlei konkrete Anhaltspunkte für die Annahme gibt, der Ausländer werde zu denjenigen Fällen gehören, in denen die praktische Durchsetzung der Strafandrohung zufällig scheitert, dann besteht eine „begründete Furcht“, dass ihm Inhaftierung droht.

Dabei kann für die Beurteilung der Schwere der dem Kläger drohenden Gefahr auch nicht völlig außer Acht bleiben, dass ihm schon im Falle der bloßen vorläufigen Festnahme aufgrund einer Anzeige Polizeigewalt, extralegale Exekution oder langjährige Untersuchungshaft unter erbärmlichen Bedingungen drohen, bei denen nicht einmal seine Versorgung mit Wasser und Grundnahrungsmitteln sichergestellt ist. Unter solchen Begleitumständen ist besondere Vorsicht mit der Annahme geboten, eine rechtlich mögliche und politisch wie gesellschaftlich nahezu allgemein gewünschte Verfolgungsmaßnahme werde aufgrund praktischer Durchsetzungsmängel schon unterbleiben.

Der Kläger kann auch nicht darauf verwiesen werden, der drohenden Inhaftierung in Nigeria dadurch zu entgehen, dass er sich dort in Zukunft entgegen seiner Veranlagung homosexueller Betätigung enthält. Homosexuelles Verhalten ist eine wesentliche Ausdrucksmöglichkeit der menschlichen Persönlichkeit und gehört daher zu der durch die völkerrechtlichen Menschenrechtsnormen (vgl. nur Art. 8 EMRK) geschützten Privatsphäre (vgl. EGMR, Urteil vom 22.10.1981, Dudgeon ./. Vereinigtes Königreich, NJW 1984, 541, 543). Die sexuelle Identität stellt einen konstitutiven Bestandteil der Persönlichkeit eines jeden Menschen dar. Wird ein Mensch gezwungen, diesen wesentlichen Bestandteil seiner Persönlichkeit zu negieren, ist er in seiner durch Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Menschenwürde in erheblichem Maße beeinträchtigt (VG Gießen, Beschluss vom 28. August 1999, 10 E 30832-98, NVwZ-Beilage 1999, Heft 12, S. 7). Es kann ihm daher nicht ohne weiteres zugemutet werden, dieses persönlichkeitsprägende Merkmal zu unterdrükken oder zu verheimlichen (so im Ergebnis auch VG München, Urteil vom 30. Januar 2007, M 21 K 04.51494, Asylmagazin 9/2007, 25, 26 f.). Gerade für jemanden wie den Kläger, der glaubhaft angibt, sexueller Verkehr mit Frauen sei für ihn uninteressant, würde dies bedeuten, auf die einzige Form verzichten zu müssen, in der er nach seiner persönlichen Veranlagung den jedem Lebewesen ureigenen natürlichen Sexualtrieb in erfüllender Weise ausleben kann. Es kann von einem Betroffenen aber nicht verlangt werden, dass er generell auf sexuelle Betätigung verzichten muss, nur weil sein Sexualverhalten nicht demjenigen der Mehrheit entspricht (VG Gießen, Beschluss vom 28. August 1999, 10 E 30832-98, NVwZ-Beilage 1999, Heft 12, S. 8).

Die in Nigeria drohende Bestrafung des Klägers wegen homosexueller Betätigung ist auch „Verfolgung“ im Sinne des § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG, und nicht nur gewöhnliche Strafverfolgung, wie sie nach § 60 Abs. 6 AufenthG einer Abschiebung nicht entgegen stünde.

„Verfolgung“ im Sinne des § 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG ist nach § 60 Abs. 1 S. 5 AufenthG i.V.m. Art. 9 Abs. 2 c) Richtlinie 2004/83/EG unter anderem die „unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung.“ Eine solche stellt die dem Kläger in Nigeria drohende langjährige Inhaftierung wegen einverständlichem homosexuellen Geschlechtsverkehr mit Erwachsenen dar.

Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht im Hinblick in seinem Urteil vom 15. März 1988, 9 C 278.86, BVerwGE 79, 143, 149 ausgeführt, der Untersagung einverständlicher homosexueller Betätigung unter Erwachsenen im Heimatland aus Gründen der dort herrschenden öffentlichen Moral könne für sich allein keine asylrechtliche Bedeutung beigemessen werden und der Zwang sich entsprechend den in dieser Hinsicht herrschenden sittlichen Anschauungen zu verhalten und hiermit nicht im Einklang stehende Verhaltensweisen zu unterlassen, stelle für denjenigen, der sich ihm beugt, keine politische Verfolgung i.S.d. Art. 16 Abs. 2 S. 2 GG a.F. dar. Der Einzelrichter ist jedoch nicht der Auffassung, dass diese ausdrücklich nur zum Asylgrundrecht ergangene Rechtsprechung (vgl. BVerwG, aaO., BVerwGE 79, 143, 145 f.) unter Berücksichtigung der Qualifikationsrichtlinie auch auf § 60 Abs. 1 AufenthG Anwendung finden kann. Der Ausgangspunkt des Bundesverwaltungsgerichts, dass die veränderten sittlichen Anschauungen über Homosexualität in der Bundesrepublik nicht von Bedeutung für die Beurteilung eines im Ausland aus Gründen der öffentlichen Moral geltenden Verbotes homosexueller Betätigung sein könnten, da es nicht Aufgabe des Asylrechts sei, gewandelte moralische Anschauungen in der Bundesrepublik über homosexuelles Verhalten in anderen Staaten durchzusetzen (BVerwG, aaO., BVerwGE 79, 143, 149), trifft in Bezug auf § 60 Abs. 1 AufenthG und vor dem Hintergrund des Art. 10 Richtlinie 2004/83/EG, der sexuelle Orientierung ausdrücklich als mögliches Verfolgungskriterium nennt, nicht den Kern der sich stellenden Frage. Es geht vorliegend nicht darum, europäische Wertvorstellungen über Homosexualität in Nigeria „durchzusetzen“. Eine wie auch immer geartete „Zwangswirkung“ auf den Heimatstaat, die Strafverfolgung Homosexueller einzustellen, kann und soll von der Anerkennung einer solchen Bestrafung als „Verfolgung“ im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG nicht ausgehen. Es geht vielmehr um die Frage, ob es nach den in § 60 Abs. 1 AufenthG und Art. 9, 10 Richtlinie 2004/83/EG zum Ausdruck kommenden humanitären Wertvorstellungen des europäischen Rechtskreises über den Umgang mit Flüchtlingen tolerabel ist, wenn ein europäischer Staat eine Person in ein Land ausweist, in dem ihr langjährige Freiheitsstrafe unter erbärmlichen Umständen droht, allein weil sie ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Homosexuellen dadurch Ausdruck verleiht, dass sie sich in Wahrnehmung des hierzulande als essentielles Menschenrecht betrachteten Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung auf freiwilliger Basis mit einer anderen erwachsenen Person homosexuell betätigt. Dies ist zu verneinen.

Staatliche Repressionen, die an die sexuelle Ausrichtung anknüpfen, bedürfen nach den in der EMRK kodifizierten europäischen Menschenrechtsvorstellungen besonders triftiger Gründe (vgl. EGMR, Urteil vom 27. September 1999, 33985/96 und 33986/96, Smith und Grady ./. Vereinigtes Königreich, NJW 2000, 2089, 2092). Vorurteile der heterosexuellen Mehrheitsbevölkerung gegenüber einer homosexuellen Minderheit sind keine ausreichende Rechtfertigung (EGMR, Urteil vom 27. September 1999, 33985/96 und 33986/96, Smith und Grady ./. Vereinigtes Königreich, NJW 2000, 2089, 2093). Der Zwang, eine von der Bevölkerungsmehrheit abweichende sexuelle Orientierung zu unterdrücken, obwohl durch sie Rechte Dritter nicht beeinträchtigt werden, stellt einen schweren und unerträglichen Eingriff in das Persönlichkeitsrecht dar (VG Gießen, Beschluss vom 28. August 1999, 10 E 30832-98, NVwZ-Beilage 1999, Heft 12, S. 7 f.). Eine daran anknüpfende langjährige Inhaftierung unter den in Nigeria üblichen Begleitumständen ist eine unverhältnismäßige Bestrafung und daher nach Art. 9 Abs. 2 c) der Qualifikationsrichtlinie eine im Rahmen des § 60 Abs. 1 AufenthG relevante Verfolgungsmaßnahme (so auch VG München, Urteil vom 30. Januar 2007, M 21 K 04.51494, Asylmagazin 9/2007, 25, 26). Soweit das erkennende Gericht im Urteil vom 28. Juli 2005, 7 A 1961/04 noch ausgeführt hat, auch der EGMR habe grundsätzlich anerkannt, dass eine Regelung männlichen homosexuellen Verhaltens zum Schutze der Moral notwendig sein könne, darf dabei nicht übersehen werden, dass der Straßburger Gerichtshof gleichwohl im Ergebnis noch nie die Menschenrechtskonformität einer Strafandrohung für einverständliche homosexuelle Handlungen unter erwachsenen Männern bejaht hat (vgl. EGMR, Urteil vom 22.10.1981, Dudgeon ./. Vereinigtes Königreich, NJW 1984, 541 ff.; EGMR, Urteil vom 26. Oktober 1988, Serie A Bd. 142, S. 20, Norris ./. Irland; EGMR, Urteil vom 22. April 1993, Serie A, Bd. 259, S. 12, Modinos ./. Zypern; dazu auch Meyer-Ladewig, Hk-EMRK, Art. 8 Rn. 7).

Aber selbst wenn man die Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts im Urteil vom 15. März 1988, 9 C 278.86, BVerwGE 79, 143, 153 f. auf § 60 Abs. 1 AufenthG übertragen und die Strafverfolgung Homosexueller nur dann als „Verfolgung“ im Sinne dieser Norm anerkennen würde, wenn sie den Kläger gerade in seiner als besonders verderbnisstiftend angesehenen homosexuellen Veranlagung treffen soll, hätte die Klage Erfolg. Denn die in Nigeria für homosexuelles Verhalten drohende langjährige Inhaftierung soll Homosexuelle nicht nur nicht nur als Störer der öffentlichen Ordnung, sondern zugleich auch in ihrer als besonders verderbnisstiftend angesehenen sexuellen Veranlagung treffen (ähnl. auch VG Leipzig, Urteil vom 21.12.1998, A 2 K 30357/95, InfAuslR 1999, 309, 310).