OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16.08.2001 - 20 A 3011/97.A - asyl.net: M1197
https://www.asyl.net/rsdb/M1197
Leitsatz:

Keine Gefährdung eines DVPA-Mitglieds; keine Gruppenverfolgung von Tadschiken in Afghanistan; keine extreme allgemeine Gefährdungslage.

(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Tadschiken, DVPA, Sympathisanten, Mitglieder, Watan-Partei, Gesamtschau, Bekleidungsvorschriften, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, Versorgungslage, Existenzminimum, Hilfsorganisationen, Allgemeine Gefahr, Extreme Gefahrenlage
Normen: GG Art. 16a; AuslG § 51 Abs. 1; AuslG § 53
Auszüge:

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter, weil er nicht politisch Verfolgter ist (Art. 16 a GG).

Für Rückkehrer mit den beim Kläger allenfalls festzustellenden schwachen Verbindungen zum früheren kommunistischen Regime besteht unter dem Blickwinkel der politischen Vergangenheit keine beachtliche Wahrscheinlichkeit politischer Verfolgung. Da aus dem, was gerade dem Kläger Anstoß zur Ausreise gegeben hat und ihm sonst vor dem Verlassen Afghanistans geschehen ist, keine Schlussfolgerungen auf eine Rückkehrgefährdnung zu ziehen sind - insoweit wird auf die Ausführungen zur Vorverfolgung verwiesen -, kommt nur eine allgemeine Betrachtung der Situation von Personen wie dem Kläger zum Tragen.

Ehemalige Mitglieder und Funktionäre der kommunistischen DVPA sowie ihrer Gliederungen und Nachfolgeparteien sind aber nicht generell wegen dieser politischen Vergangenheit einer Verfolgung durch die Taliban ausgesetzt. Entscheidend für eine Verfolgungsgefahr sind vielmehr zusätzliche Kriterien wie etwa konkrete Stellungen innerhalb der Organisationen, ideologische Prägung und bestimmtes Verhalten während des alten Herrschaftssystems (European Union vom 13.6.2001; UNHCR von 00.04.2001; Trosien in Bundesamt vom 3.5.2001; AA Lagebericht vom 9.5.2001; Dr. Neda Forghani vom 22.2.2000).

Von den insofern angeführten Umständen greift im Falle des Klägers keiner zu seinen Gunsten ein.

Während seiner Militärdienstzeit ist er nach eigenen Angaben nur einfacher Soldat gewesen. Eine hervorgehobene Position innerhalb der Partei hat er nicht bekleidet. Seine geschilderte Verwaltungstätigkeit, soweit sie - was dem Vorbringen nicht klar zu entnehmen ist und in der damaligen Situation vielleicht auch nicht klar zu erkennen war - überhaupt speziell der Parteiarbeit zuzurechnen ist, erschöpfte sich in untergeordneten Hilfsgeschäften ohne echte Außenwirkung. Aus der Zeit vor der Ausreise des Klägers liegen auch keine erkennbaren Anzeichen für eine besondere ideologische Prägung - wie etwa eine im Sinne des damaligen Regimes qualifizierte Ausbildung, vor allem eine solche im früheren Ostblock - vor. Schließlich sind auch keine auffälligen, dem kommunistischen Regime genehmen oder von ihm geduldeten Handlungsweisen des Klägers zu Lasten anderer Personen festzustellen. Die Einschätzung der Gefährdung von Personen mit Bezügen zum früheren kommunistischen System von einer Art, wie sie beim Kläger festzustellen ist, in den oben angeführten aktuellen Auskünften überzeugt auch gegenüber vereinzelten abweichenden Wertungen (vgl. etwa Danesch vor dem Bay.VGH am 1.10.1996 und an Hess. VGH vom 5.4.1997). Die Aussage, auch einfache ehemalige Parteimitglieder seien vorbehaltlich besonderer Umstände - wie deutlich unter Beweis gestellter Abkehr von der kommunistischen Ideologie in Verbindung mit pashtunischer Herkunft oder hervorgehobener fachlicher Nützlichkeit - akut gefährdet, stützt sich im Wesentlichen auf ideologische Gegensätze, also darauf, dass Kommunisten in den Augen der Taliban als Gottlose erscheinen; sie findet in dem bekannt gewordenen Vorgehen der Taliban innerhalb ihres Machtbereichs aber keine hinreichende Stütze. Zwar kann nicht davon ausgegangen werden, dass alle früheren Kommunisten unbehelligt geblieben sind und bleiben, doch geht es vorliegend schon im Ansatz nicht um die Frage der hinreichenden Sicherheit vor Übergriffen, sondern um die nach einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit von Übergriffen. Für die Vergangenheit zeigt die Hinrichtung Najibullahs und seines Bruders kurz nach der Einnahme Kabuls durch die Taliban die Bereitschaft zu einem rabiaten Abrechnen mit dem kommunistischen Regime. Aber schon diese frühe Gewaltaktion eröffnete keine systematische Verfolgungswelle gegenüber DVPA-Mitgliedern und Angehörigen von Verwaltung, Justiz, Streitkräften und Geheimdienst des kommunistischen Regimes (AA an Hess.VGH vom 19.3.1997; Deutsches Orient-Institut an Hess.VGH vom 18.9.1997), was für die Wertung insbesondere deshalb bedeutsam ist, weil die Taliban sich nicht scheuen, gegen ihre Bürgerkriegsgegner mit rücksichtsloser Härte vorzugehen und ihren Wertanschauungen und Maßregeln widersprechende aktuelle Verhaltensweisen drakonisch zu ahnden. Da die Taliban später im Zuge des Ausbaus ihres Machtbereichs auch zahlreiche Angehörige des kommunistischen Regimes in ihre Reihen aufgenommen haben, wenn diese sich zu den von den Taliban vertretenen islamischen Prinzipien bekannt haben (Dr. Neda Forghani vom 22.2.2000; European Union vom 13.6.2001), liegt der Schluss nahe, dass die Taliban der kommunistischen Vergangenheit einer Person allein keine wesentliche - zu Übergriffen Anlass gebende - Bedeutung mehr beimessen. Das erscheint auch insofern nachvollziehbar, als Kommunisten keine mit den Taliban um die Macht rivalisierende Gruppe mehr darstellen und angesichts der dominierenden Stellung der Taliban ideologische Unterschiede, die lediglich in der Vergangenheit zu Tage getreten sind, gegenüber anderen - etwa ethnischen - Dimensionen des Konflikts wesentlich an Gewicht verloren haben. Ob das so weit geht, dass sich selbst für den nach dem oben Gesagten prinzipiell gefährdeten Personenkreis das Verfolgungsrisiko mit zunehmendem zeitlichen Abstand zum Sturz der letzten nichtislamischen Regierung bis zur Verneinung der beachtlichen Wahrscheinlichkeit mindert (vgl. dazu AA Lagebericht vom 9.5.2001), mag dahinstehen, da der Kläger nicht zu dem hervorgehobenen Personenkreis zählt. Die Wertung der Situation dahin, dass sich jedenfalls für Personen wie den Kläger wegen früherer Zugehörigkeit zur kommunistischen Partei eine beachtliche Wahrscheinlichkeit von Verfolgungsmaßnahmen nicht ergibt, wird nicht dadurch nachhaltig erschüttert, dass noch ab 1998 seitens der Taliban durch Dekrete zur Anzeige und Bestrafung ehemaliger Kommunisten aufgerufen wurde (Trosien in Bundesamt vom 3.5.2001; European Union vom 13.6.2001). Von daran anknüpfenden verbreiteten oder gar systematischen Verfolgungswellen, selbst von einzelnen Referenzfällen, die Personen einschlossen oder betrafen, die in ihrer Unauffälligkeit unter dem kommunistischen Regime dem Kläger vergleichbar wären, wird in den genannten Auskünften nicht berichtet, lediglich von der Betroffenheit ehemaliger Funktionäre und der Entfernung ehemaliger Kommunisten aus dem Dienst in der Verwaltung und - pauschal - von Verhaftungen.

Aus der Zugehörigkeit des Klägers zur Gruppe der Tadschiken kann ebenfalls nicht auf die beachtliche Wahrscheinlichkeit von ihn im Falle der Rückkehr treffenden asylerheblichen Übergriffen geschlossen werden. Zwar ist nicht zu verkennen, dass die Auseinandersetzungen in Afghanistan, nachdem die pashtunisch geprägten Taliban über die mehrheitlich pashtunisch besiedelten Gebiete des Landes hinausgegriffen haben, eine beträchtliche ethnische Komponente aufweisen, doch lässt sich nicht feststellen, dass gegen Nichtpashtunen, die sich außerhalb der Bereiche kriegerischer Auseinandersetzungen im Talibangebiet aufhalten, allein wegen der Zugehörigkeit zu einer fremden Ethnie in einer Weise vorgegangen wird, die eine konkrete Bedrohung des Einzelnen in asylrelevanten Rechtsgütern besorgen lässt.

Die Anforderungen, die die Taliban als die für eine relevante Verfolgung allein in Betracht kommende Macht an die Lebensführung, insbesondere an das Verhalten und das Aussehen stellen, führen nicht zu dem Schluss auf eine dem Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende politische Verfolgung. Es handelt sich um Regelungen, die dazu dienen, die durch das radikale Islamverständnis und Elemente der pashtunischen Tradition geprägten Ordnungsvorstellungen durchzusetzen (vgl. Trosien in Bundesamt vom 3.5.2001). Ob diese Grundsätze und das darin eingeschlossene Verbot abweichenden Auftretens gegenüber denen, die die Grundhaltung nicht teilen und ihr nicht ohne Widerspruch gegen ihre Prägung und innerste Überzeugung folgen können, politische Verfolgung darstellen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 1. Juli 1987 - 2 BvR 478, 962/86-, BVerfGE 76, 143 zur Beschränkung des religiösen Bekenntnisses; BVerwG, Urteil vom 13. März 1988 - 9 C 278.86 -, InfAuslR 1988, 230 zur Beschränkung bei bestimmter sexuellen Prägung), mag ebenso dahinstehen wie die Frage, ob etwa zu besorgende Reaktionen insbesondere der Religionspolizei auf abweichende Verhaltensweisen (European Union vom 13.6.2001) etwa unter dem Aspekt, dass über den bloßen Ordnungsverstoß hinaus eine tatsächliche oder vermutete abweichende religiöse oder politische Einstellung getroffen werden soll (vgl. dazu AA Lagebericht vom 9.5.2001) - vgl. BVerwG, Urteile vom 13. Mai 1993 - 9 C 49.92 -, BVerwGE 92, 278) zur Bestrafung wegen Verstoßes gegen Normen, die als solche keine politische Verfolgung ergeben, und vom 13. März 1988, a.a.O. S. 236 zum Durchgriff auf die individuelle Prägung an asylerhebliche Merkmale anknüpfen. Es ist nämlich nicht festzustellen, dass der Kläger durch die Anforderungen, die die Taliban an sein Verhalten im Fall der Rückkehr stellen, in unzumutbarer Weise betroffen wird, noch ist beachtlich wahrscheinlich, dass er sich den Regeln widersetzen und es deshalb zu einer Bestrafung kommen wird. Der Kläger ist im traditionell islamisch geprägten Afghanistan aufgewachsen und hat sich im Verwaltungsverfahren selbst zum Islam bekannt. Es ist danach davon auszugehen, dass er mit dem Verhaltenskodex zumindest in den Grundzügen vertraut ist. Dass er maßgeblich durch die kommunistische Ideologie geprägt worden wäre, ist nicht deutlich geworden; im Übrigen hat sich der Kläger nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes auch noch einige Jahre unter den islamischen Mujahedin in Kabul aufgehalten. Sein bloßer Hinweis darauf, er könne es nicht akzeptieren, einen Bart und afghanische Kleidung zu tragen, knüpft an Äußerlichkeiten an und ergibt weder etwas für eine ihn im Innersten treffende Zwangssituation noch für eine Nichtbefolgung der Regeln im Fall der unmittelbaren Konfrontation mit den sanktionsbewehrten Anforderungen.

Ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG besteht ebenfalls nicht.

Da keine möglicherweise gefahrbegründenden Umstände ersichtlich sind, die über die allgemeine Situation hinausgehen, mit der Personen konfrontiert sind, die derselben Bevölkerungsgruppe angehören wie der Kläger, kommt das Erfordernis der extremen Gefahr zum Tragen. Die danach maßgeblichen Kriterien sind nicht erfüllt.

Von einer Hungersnot, der ein Rückkehrer wie der Kläger mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Opfer fiele, oder einer sonstigen konkreten Gefährdung seiner Existenz ist für den Bereich Kabul, der für den Fall einer Abschiebung allein in den Blick zu nehmen ist, nicht auszugehen.

Der vorliegende Fall bietet keinen Anlass, sich näher und abschließend mit eventuell erforderlichen Eingrenzungen beim Ausschluss unmittelbar drohenden existenzgefährdenden Ernährungsmangels zu befassen. Es ist nichts dafür ersichtlich, dass der Kläger nicht in gleicher Weise wie die in Kabul verbliebene oder durch innerstaatliche Fluchtbewegungen dorthin gelangte Bevölkerung Zugang zu den Hilfsmöglichkeiten findet. Soweit eine Registrierung für die Einbeziehung

in die Unterstützung im Rahmen des WFP erforderlich ist, ist sie auch für Rückkehrer in Kabul möglich (AA an OVG Koblenz vom 16.11.2000).