BAMF

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Zitieren als:
BAMF, Bescheid vom 13.11.2007 - 5222374-163 - asyl.net: M11971
https://www.asyl.net/rsdb/M11971
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Sippenhaft, Familienangehörige, Verdacht der Unterstützung, PKK, Frauen, Flüchtlingsfrauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, außerehelicher Geschlechtsverkehr, Ehebruch, häusliche Gewalt, Familienehre, Vergewaltigung, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, alleinstehende Frauen, alleinerziehende Frauen, Existenzminimum
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Es besteht kein Anspruch auf Zuerkennung von Flüchtlingsschutz im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG.

Das Vorbringen der Antragstellerin zu 1), der Mann, mit dem sie im Alter von 15 Jahren nach religiösem Brauch verheiratet worden sei, sei von den türkischen Sicherheitskräften wegen Verdacht auf PKK-Unterstützung gesucht worden und sei seit der vor sechs Jahren erfolgten Festnahme verschwunden, kann dem Asylbegehren nicht zum Erfolg verhelfen.

Kein türkischer Staatsangehöriger wird wegen der Tat eines Familienangehörigen strafrechtlich verfolgt; es gibt keine "Sippenhaft" im rechtlichen Sinne. Der Umstand allein, aus einer Familie zu stammen, in der Mitglieder "politisch-oppositionell" tätig sind, führt zu keiner Strafverfolgung, sofern nicht für eigene Aktivitäten Anhaltspunkte vorliegen (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 11.01.2007, Az.: 508-516.80/3 TUR, Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 17.04.2003 an das Bundesamt, Az.: 508-516.80141083).

Soweit die Antragstellerin zu 1) vorträgt, sie habe eine heimliche Liebesbeziehung zu einem in der Nachbarschaft lebenden Mann aufgenommen und nachdem sie mit ihren Kindern gemeinsam mit diesem Mann ohne Wissen ihrer Familienangehörigen nach Istanbul gegangen und dort von ihm schwanger geworden sei, müsse sie wegen Verletzung der Familienehre Ehrenmord befürchten, rechtfertigt das auch nicht die Feststellung eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 1 Satz 4c AufenthG.

Geht die Verfolgung von nichtstaatlichen Akteuren aus, ist zu prüfen, ob staatliche oder staatsähnliche Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz zu gewähren. Dies gilt unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.

Ein Schutz ist gewährleistet, wenn die genannten Akteure geeignete Schritte einleiten, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung der Verfolgungshandlungen und der Betroffene Zugang zu diesem Schutz hat. Die politische Verfolgung muss außerdem landesweit drohen.

Der türkische Staat ist zur Schutzgewährung grundsätzlich willens und in der Lage. Er hat durch die Änderung des Zivilgesetzbuches im November 2001 die rechtliche Stellung der Frau gestärkt und geht im Rahmen der Gesetze gegen geschlechtsspezifische Verfolgung vor, wenngleich die Diskriminierung der Frau und häusliche Gewalt weiterhin Probleme bleiben. Auch das neue Strafgesetzbuch berücksichtigt verstärkt den Schutz von Frauen und regelt Straftaten wie "Ehrenmorde" und Vergewaltigung (auch in der Ehe). Presseberichten zufolge wurden im November 2006 fünf von Ehrenmord bedrohte junge Frauen aus der Umgebung von Van auf Beschluss der Staatsanwaltschaft unter staatlichen Schutz gestellt. Insgesamt ist zu beobachten, dass sich türkische Behörden und Nichtregierungsorganisationen in der letzten Zeit des Problems vermehrt annehmen. Kommunen mit mehr als 50.000 Einwohner werden mit dem neuen Kommunalgesetz verpflichtet, Frauenhäuser einzurichten (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 25.10.2007, Az.: 508-516.80/3 TUR, vgl. auch das Urteil des VG Braunschweig vom 29.08.2007, Az.: 5 A 117107).

Es liegt jedoch ein Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezüglich der Türkei vor.

Die Antragstellerin zu 1) ist als allein stehende Frau mit drei minderjährigen Kindern nach Deutschland eingereist und hat hier am 20.02.2007 ein weiteres Kind geboren. Auch wenn sie einen ihr drohenden Ehrenmord nicht hat glaubhaft machen können, ist angesichts der gesamten Umstände des Einzelfalls davon auszugehen, dass die Antragstellerin zu 1) bei einer Rückkehr in die Türkei von der Familie zumindest nicht unterstützt wird.

Zwar können allein stehende Frauen - auch ohne Berufsausbildung - bei einer Rückkehr in eine der Großstädte der Westtürkei ihr wirtschaftliches Existenzminimum durch die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit sichern, wenngleich die wirtschaftliche Situation in den westtürkischen Zuwanderungsgebieten nach wie vor als schwierig angesehen werden muss. Erwerbschancen bietet grundsätzlich die Tourismusindustrie an der West- und Südküste. Auch könnte die Antragstellerin zu 1) zur Überwindung von Anfangsschwierigkeiten mit ihren Kindern vorübergehend Aufnahme in einem der staatlich betriebenen Frauenhäuser finden oder Mittel aus dem Förderungsfonds für Sozialhilfe und Solidarität beantragen. Allerdings erfolgt die Versorgung der Bedürftigen uneinheitlich und anhand subjektiver Kriterien sowie befristet für einige Monate (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 25.10.2007, Az.: 508-516.80/3 TUR). Im vorliegenden Fall entspricht jedoch die Situation der Antragstellerin zu 1) nicht der normalen Situation allein stehender Frauen in der Westtürkei. Die Antragstellerin 1) hat nach eigenen Angaben keine Schule besucht und beherrscht nur die kurdische, nicht aber die türkische Sprache. Da sie zudem vier minderjährige Kinder, darunter ein Kleinkind, pflegen und beaufsichtigen müsste, wäre sie nicht in der Lage, Gelegenheitsarbeiten anzunehmen, um den notwendigen Lebensunterhalt für sich und ihre vier Kinder zu erwirtschaften. Ohne familiären Rückhalt wäre damit für die Antragsteller auch in der Westtürkei die wirtschaftliche Existenz und der Lebensunterhalt nicht sichergestellt.