VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 25.10.2007 - 11 S 2091/07 - asyl.net: M11970
https://www.asyl.net/rsdb/M11970
Leitsatz:

Zum Schutz des Privatlebens nach Art. 8 EMRK.

 

Schlagwörter: D (A), Abschiebungshindernis, inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK, Privatleben, Straftat, Duldung, Bleiberechtsregelung 2006, Altfallregelung, Verhältnismäßigkeit, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), einstweilige Anordnung
Normen: AufenthG § 60a Abs. 2; EMRK Art. 8; § 104a Abs. 1 S. 1 Nr. 6; AufenthG § 23 Abs. 1; VwGO § 123 Abs. 1
Auszüge:

Zum Schutz des Privatlebens nach Art. 8 EMRK.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die fristgerecht eingelegte und begründete Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 06.08.2007 ist zulässig. Die bei sachdienlicher Auslegung nur auf Verpflichtung des Antragsgegners gerichtete Beschwerde, die Abschiebung des Antragstellers vorläufig auszusetzen, hat Erfolg. Denn der Antragsteller hat sowohl das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, - der Antragsgegner beabsichtigt, ihn abzuschieben -, als auch die Voraussetzungen eines Anordnungsanspruches glaubhaft gemacht (vgl. § 123 Abs. 1 und 3 VwGO, §§ 920, Abs. 2, 294 ZPO). Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts geht der Senat bei der im Eilverfahren allein angezeigten und möglichen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage davon aus, dass der seit 2003 geduldete Antragsteller auch weiterhin zumindest einen Anspruch auf Erteilung einer Duldung nach § 60 a Abs. 2 Satz 1 AufenthG besitzt. Seine Abschiebung ist mit überwiegender Wahrscheinlichkeit aus rechtlichen Gründen unmöglich, weil der damit einhergehende Eingriff in sein Recht auf Achtung des Privatlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht nach Art. 8 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt sein dürfte.

Die beabsichtigte Abschiebung dürfte - jedenfalls - in den Schutzbereich des Rechts auf Achtung des Privatlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK eingreifen. Nachdem der 1981 geborene Antragsteller seit nunmehr rund 18 Jahren beinahe ununterbrochen in Deutschland lebt und also hier seit seinem 8. Lebensjahr aufgewachsen ist, erfolgreich die Schule besucht und eine Tischlerlehre absolviert hat und hernach bis zu seiner Inhaftierung als Tischlergeselle berufstätig war, er hier verheiratet ist und mit seiner türkischen Ehefrau und der am 20.11.2005 geborenen Tochter zusammenlebt, in Sportvereinen aktiv ist und zudem nach den Angaben von Gefängnispfarrer D. vom 15.05.2007 über außerordentlich gute deutsche Sprachkenntnisse verfügt, können die für die rechtliche Annahme eines im Bundesgebiet geführten Privatlebens erforderlichen Bindungen in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht kaum verneint werden. Wie sich hinreichend etwa aus den neueren Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in den Sachen "Sisojeva I und II" (EGMR, Urteile vom 16.06.2005 und 15.01.2007, EuGRZ 2006, 554 und InfAuslR 2007, 140) sowie "Rodrigues da Silva und Hoogkamer" (EGMR, Urteil vom 31.01.2006, EuGRZ 2006, 562) ergibt, kommt es im Rahmen des Schutzbereichs von Art. 8 Abs. 1 EMRK wohl nicht entscheidungserheblich darauf an, ob der Ausländer über einen zumindest vorübergehenden legalen Aufenthalt verfügte; der Schutzbereich dieses Menschenrechts dürfte vielmehr auch bei nur Geduldeten eröffnet sein können (vom Senat bisher offen gelassen, vgl. Beschluss vom 10.05.2006 - 11 S 2354/05 - VBlBW 2006, 438). Auch der schließlich mit einer Jugendstrafe von 10 Monaten bestrafte Haschischhandel in den Jahren 2000 und 2001, dessentwegen der Antragsteller seit 09.01.2007 inhaftiert ist, sowie der spätere BtMG-Verstoß im Jahr 2005, bei dem die Staatsanwaltschaft Mosbach von Strafverfolgung absah, und auch der durch Drogenscreenings nachgewiesene Eigenkonsum von Cannabisprodukten in den Jahren 2003 bis 2006, stellen die gesellschaftlichen Bindungen des Antragstellers im Bundesgebiet kaum ernsthaft in Frage.

Ein Eingriff in den Schutzbereich von Art. 8 Abs. 1 EMRK dürfte zu bejahen sein, weil die hier asylverfahrensrechtlich begründete Ausreisepflicht durchgesetzt, d.h. der Aufenthalt des Antragstellers in Deutschland durch Abschiebung beendet werden soll. Zu Gunsten des Antragsgegners geht der Senat davon aus, dass dieser sowohl ein aus der Anordnung des Innenministeriums nach § 23 AufenthG vom 20.11.2006 (Az.: 4-1340/29; vgl. insbesondere Nr. 3.3) ermöglichtes Bleiberecht als auch die durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19.07.2007 - AuslRÄndG 2007 (BGBl I S. 1970) - eingeführte Altfallregelung des § 104 a AufenthG (vgl. insbesondere Absatz 1 Satz 1 Nr. 6) geprüft und im Hinblick auf die von dem Antragsteller im Bundesgebiet begangene und mit einer Jugendstrafe von 10 Monaten abgeurteilte vorsätzliche Straftat als nicht einschlägig angesehen hat, weswegen eine aufenthaltsrechtliche Legalisierung seines Privatlebens im Bundesgebiet insoweit ausgeschlossen sein dürfte.

Gleichwohl ergibt sich aus der Existenz der Bleiberechts- und Altfallregelungen keine hier relevante Sperrwirkung. Vielmehr bleibt neben den dort geregelten generalisierten Fallkonstellationen Raum für hiervon losgelöste Einzelfallabwägungen, auch bei einer Entscheidung über das Vorliegen eines zwingenden Duldungsgrundes nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG i.V.m. Art. 8 EMRK (vgl. zu Aufenthaltstiteln BVerwG, Urteil vom 19.09.2000 - 1 C 19.99 - BVerwGE 112, 63). Etwas anderes wäre gerade im Falle von Straftätern mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (vgl. die Nachweise in BVerfG, Beschluss vom 01.03.2004 - 2 BvR 1570/03 - EuGRZ 2004, 317) nicht vereinbar.

Der Eingriff in das geschützte Privatleben des Antragstellers dürfte im konkreten Einzelfall im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK nicht in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, weil unverhältnismäßig sein. Insoweit ist insbesondere das öffentliche Interesse an der Steuerung und Begrenzung des Zuzugs von Ausländern in die Bundesrepublik Deutschland (vgl. § 1 Abs. 1 Satz 1 AufenthG) mit dem Interesse des Antragstellers an der Aufrechterhaltung seiner faktisch gewachsenen und von Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützten privaten Bindungen im Bundesgebiet abzuwägen. Dabei kommt es zunächst auf den jeweiligen Grad der "Verwurzelung" an; je stärker der Betroffene im Aufenthaltsstaat integriert ist, desto schwerer müssen die öffentlichen Interessen wiegen (vgl. EGMR, Urteil vom 22.06.2006 - 59643/00 - "Kaftailova"). Weiter ist auf den Grad der "Entwurzelung" abzustellen, d. h. auf die Möglichkeit und Zumutbarkeit der Reintegration im Passstaat, insbesondere aufgrund der Vertrautheit mit den dortigen Verhältnissen und den dort lebenden und aufnahmebereiten Verwandten. Schließlich können im Rahmen der Schrankenprüfung sonstige Faktoren Berücksichtigung finden, etwa ob der Aufenthalt des Betroffenen zumindest vorübergehend legal war und damit - i.S. einer "Handreichung des Staates" - schutzwürdiges Vertrauen auf ein Hierbleibendürfen entwickelt werden konnte.

Gemessen daran dürfte das Interesse des Antragstellers an der Aufrechterhaltung seiner privaten Bindungen im Bundesgebiet, jedenfalls wenn das Drogenproblem nunmehr während der Haftzeit tatsächlich dauerhaft überwunden wurde, das öffentliche Interesse insbesondere an Steuerung und Begrenzung des Zuzugs von Ausländern voraussichtlich überwiegen. Aufgrund seines langjährigen Aufenthaltes im Bundesgebiet, des Schulbesuchs, der erfolgreichen Ausbildung und der anschließenden Berufstätigkeit ist von einer weitreichenden "Verwurzelung" des Antragstellers in Deutschland auszugehen. Nachdem der Antragsteller nach Aktenlage in den letzten 18 Jahren nicht mehr in der Türkei gewesen ist, dort keine nahen Verwandten hat, diese vielmehr alle in Deutschland leben, und er die türkische Sprache offenbar nur mündlich beherrscht, kann wohl auch hinsichtlich der gesellschaftlichen Verhältnisse im Passstaat Türkei eine weitreichende "Entwurzelung" angenommen werden. Zu Gunsten des Antragstellers kann jedoch berücksichtigt werden, dass er für die Zeit nach der Entlassung aus der Strafhaft wieder einen Arbeitsplatz in Aussicht hat und insbesondere während der Haftzeit offenbar einen Prozess der

Läuterung durchlief.

Vor diesem Hintergrund sowie der skizzierten konkreten Verwurzelungs- und Entwurzelungssituation erscheint der mit der Abschiebung verbundene Eingriff in den Schutzbereich von Art. 8 Abs. 1 EMRK in der Gesamtabwägung derzeit unverhältnismäßig. Hierfür spricht zudem, dass der Antragsteller nach Abschiebung keine realistische Möglichkeit haben könnte, in absehbarer Zeit legal wieder in das Bundesgebiet einzureisen. Die für sein Privatleben konstitutiven Beziehungen könnten bei Abschiebung mithin gegebenenfalls irreparabel beschädigt werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.05.2007 - 2 BvR 304/07 - ZAR 2007, 243).