VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 30.08.2007 - 3 V 62.06 - asyl.net: M11936
https://www.asyl.net/rsdb/M11936
Leitsatz:

Der Ausländer trägt auch nach Einführung des § 27 Abs. 1 a Nr. 1 AufenthG die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass die Herstellung einer ehelichen Lebensgemeinschaft beabsichtigt ist.

 

Schlagwörter: D (A), Familienzusammenführung, Ehegattennachzug, Klagebefugnis, Ehegatte, Schutz von Ehe und Familie, Deutschverheiratung, Scheinehe, Ausschlussgründe, Beweislast
Normen: AufenthG § 27 Abs. 1; AufenthG § 28 Abs. 1 Nr. 1; GG Art. 6 Abs. 1; AufenthG § 27 Abs. 1a Nr. 1
Auszüge:

Der Ausländer trägt auch nach Einführung des § 27 Abs. 1 a Nr. 1 AufenthG die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass die Herstellung einer ehelichen Lebensgemeinschaft beabsichtigt ist.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Klage hat keinen Erfolg.

Die gemäß § 42 Abs. 1 VwGO statthafte Verpflichtungsklage ist zulässig. Insbesondere ist auch die Klagebefugnis der Klägerin gegeben, denn sie kann geltend machen, durch die Versagung des Visums für den Kläger in ihren Rechten aus Art. 6 Abs. 1 GG verletzt zu sein, da ungeachtet der seitens Beklagter und Beigeladener geltend gemachten Zweifel an der Gültigkeit der vorgelegten Heiratsurkunde solche Rechte nicht offensichtlich und eindeutig ausgeschlossen sind oder ihr nicht zustehen können.

Zwar begründet Art. 6 Abs. 1 GG keinen unmittelbaren Anspruch auf Einreise und Aufenthalt ausländischer Ehegatten und Familienmitglieder zur Herstellung der Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet. Ein solcher Anspruch ist jedoch für die Klagebefugnis auch nicht nötig. Hinreichend ist insofern vielmehr, dass den Ehegatten und Familienmitgliedern als Trägern des Grundrechts aus Art. 6 Abs.1GG ein der verfassungsrechtlichen Schutzpflicht des Staates entsprechender Anspruch darauf zusteht, dass die familiären Bindungen an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, bei der Entscheidung über den Familiennachzug angemessen berücksichtigt werden (OVG Berlin, Urteil vom 16.12.2003 - 8 B 26.02 -, zitiert nach juris; BVerfG NJW 1989, 2195, 9196).

Aus dem Leitbild der Einheit von Ehe und Familie und der Gleichberechtigung der Ehegatten folgt zugleich, dass der Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG in persönlicher Hinsicht nicht auf ein bestimmtes Ehe- oder Familienmitglied beschränkt bleibt. Nicht minder gestört wären die Einheit von Ehe und Familie und die Gleichberechtigung der Ehepartner aber auch dann, wenn einem Ehepartner oder Familienangehörigen der Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG nur aus abgeleitetem Recht, das heißt nach Maßgabe und in den Grenzen der Rechtsstellung oder Rechtshandlungen des anderen Ehepartners oder eines sonstigen Familienmitglieds zustünde (BVerfGE 76, 1, 44ff.). Wenn und soweit dem nachzugswilligen Ehepartner der Ehegattennachzug versagt worden ist, wird daher nicht nur dieser als Adressat der Ablehnung, sondern zugleich der im Bundesgebiet lebende andere Ehepartner originär und subjektiv im persönlichen Schutzbereich von Art. 6 Abs. 1 GG betroffen, weil die Versagung auch diesem das eheliche Zusammenleben im Bundesgebiet unmöglich macht (OVG Berlin, a.a.O.; vgl. auch BVerfGE 76, 1, 44ff.).

Die Klage ist jedoch unbegründet.

Das von den Klägern begehrte Visum war dem Kläger nicht zu erteilen, da die tatbestandlichen Voraussetzungen für den geplanten Familiennachzug nicht vorliegen. Die dafür in Betracht kommende Vorschrift des § 28 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 27 AufenthG, zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl. S. 19969), sieht vor, dass dem ausländischen Ehegatten eines Deutschen eine Aufenthaltserlaubnis zur Herstellung und Wahrung der ehelichen Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet erteilt wird, wenn der Deutsche – hier die Klägerin – ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hat. Dies ist vorliegend der Fall. Hinzu kommen muss jedoch, dass beide Eheleute die Absicht haben, in Deutschland eine eheliche Lebensgemeinschaft tatsächlich zu führen. Dazu reicht die Tatsache der Eheschließung allein nicht aus (OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 15. September 2005 - OVG 7 B 6.05 -; vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 12. Juni 1992, InfAuslR 1992, 305; BVerfGE 76, 1). Vielmehr ist erforderlich, dass die Ehegatten in einer alle Lebensbereiche umfassenden, auf Dauer angelegten, durch enge Verbundenheit und gegenseitigen Beistand geprägten Beziehung zusammenleben wollen (OVG Berlin, Urteil vom 16.12.2003 - 8 B 26.02 - zu § 23 Abs. 1 Nr. 1 AuslG). Der Wille, eine nach Art. 6 Abs. 1 GG schützenswerte Lebensgemeinschaft tatsächlich herzustellen, muss von beiden Ehepartnern getragen werden. Es reicht nicht aus, wenn zum Beispiel der in Deutschland lebende Ehegatte eine Lebensgemeinschaft wünscht, der nachzugswillige Ehepartner die Ehe jedoch nur zum Zweck der Erlangung eines Aufenthaltsrechts geschlossen hat (vgl. OVG Berlin, Beschluss vom 23. August 2002 - OVG 8 N 137.02 - zu § 23 Abs. 1 Nr. 1 AuslG). Bei einer formal wirksam geschlossenen Ehe ist zwar grundsätzlich davon auszugehen, dass die Eheleute die Herstellung einer ehelichen Lebensgemeinschaft beabsichtigen. Ergeben sich aber aufgrund konkreter Anhaltspunkte – zum Beispiel aus den tatsächlichen Verhältnissen oder den Angaben der Eheleute selbst – Zweifel, ist eine Überprüfung des Einzelfalles, ob eine nur zur Erlangung eines Aufenthaltsrechts geschlossene Ehe vorliegt, zulässig (vgl. BVerfG, Beschluss vom 5. Mai 2003 - 2 BvR 2042/02 -; VGH Kassel, Beschluss vom 21. März 2000 - 12 TG 2545/99 -, zitiert nach juris; OVG Berlin, Urteil vom 16.12.2003 - 8 B 26.02 - zu § 23 Abs. 1 Nr. 1 AuslG). Solche Zweifel, die die Annahme einer nicht unter den Schutz von Art. 6 Abs. 1 GG fallenden Scheinehe rechtfertigen, können unter anderem durch unauflösbare und gravierende Widersprüche und Abweichungen bei den Angaben in Ehegattenbefragungen begründet werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 5. Mai 2003 - 2 BvR 2042/02). Entsprechend dem allgemeinen Grundsatz, dass derjenige die nachteiligen Folgen der Unerweislichkeit einer Tatsache zu tragen hat, der daraus eine günstige Rechtsfolge herleitet, liegt die materielle Beweislast für die Ernsthaftigkeit beider Ehegatten zur Führung einer ehelichen Lebensgemeinschaft bei den das Visum begehrenden Ehepartnern (vgl. BVerfG, Beschluss vom 5. Mai 2003 - 2 BvR 2042/02 -; OVG Berlin, Urteil vom 16.12.2003 - 8 B 26.02 - zu § 23 Abs. 1 Nr. 1 AuslG).

Diese Voraussetzungen bestehen auch nach der jüngsten Änderung des AufenthG durch das Gesetz vom 19. August 2007; denn dieses Gesetz dient der Umsetzung u.a. der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (Familiennachzugsrichtlinie – Abl. EU Nr. L 251 S. 12), die ihrerseits "zum Schutz der Familie und zur Wahrung oder Herstellung des Familienlebens" erlassen wurde und die Familienzusammenführung als "eine notwendige Voraussetzung dafür, dass ein Familienleben möglich ist", fördern will. Der in diesem Zusammenhang geschaffene ausdrückliche Ausschlussgrund in § 27 Abs. 1 a) AufenthG (vgl. amtliche Begründung, BT-Ds. 16/5065, S. 170), wonach bei Feststehen einer ausschließlich zur Begründung eines Aufenthaltsrechts geschlossenen Ehe ein Familiennachzug nicht zugelassen wird, ändert nichts daran, dass die Voraussetzungen für den begehrten Familiennachzug positiv festgestellt werden müssen. Sie sind nicht etwa schon dann zu bejahen, wenn offen ist, ob der genannte Ausschlusstatbestand vorliegt. Dieser tritt vielmehr neben die nach bisheriger Rechtslage gegebene und fortbestehende Möglichkeit, das Visum wegen Nichtvorliegens der Erteilungsvoraussetzungen zu versagen; denn die Familiennachzugsrichtlinie regelt in ihrem – dieser Regelung zugrunde liegenden (vgl. amtliche Begründung, BT-Ds. 16/5065, S. 170) – Art. 16 Abs. 2, dass eine Familienzusammenführung "auch" abgelehnt werden kann, wenn nur die Erlangung eines Aufenthalts beabsichtigt ist.

Gemessen an diesen Maßstäben hat das Gericht nicht die nach § 108 Abs. 1 VwGO erforderliche Überzeugung erlangen können, dass hier eine nach Art. 6 Abs. 1 GG schutzwürdige Eheschließung vorliegt.