VG Ansbach

Merkliste
Zitieren als:
VG Ansbach, Urteil vom 30.08.2007 - AN 2 K 06.30284 u.a. - asyl.net: M11935
https://www.asyl.net/rsdb/M11935
Leitsatz:
Schlagwörter: Angola, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Versorgungslage, medizinische Versorgung, Existenzminimum, Kinder, Kleinkinder, in Deutschland geborene Kinder, Krankheit, Semi-Immunität, Malaria, unbegleitete Minderjährige, alleinstehende Minderjährige, Situation bei Rückkehr
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

In dem Umfang, wie sich dies aus Nummern 1 und 2 des Urteilstenors ergibt, ist den Klagen jeweils deshalb stattzugeben, weil bei den Klägerinnen im entscheidungserheblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) die (tatbestandlichen) Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG hinsichtlich ihres Heimatstaates Angola vorliegen.

Zur Überzeugung des Gerichts würden die Klägerinnen auf Grund ihrer Konstitution in Anbetracht der in Angola herrschenden Lebensverhältnisse bei Rückführung zum gegenwärtigen Zeitpunkt quasi sehenden Auges dem sicheren Tod oder "gleichwertigen" schwersten körperlichen Beeinträchtigungen in nächster Zukunft überantwortet, so dass bei ihnen eine extreme Gefahrenlage im Sinne der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu § 60 Abs. 7 AufenthG zu konstatieren ist (vgl. grundlegend BVerwG vom 15.04.1997 Az. 9 C 15.96 und Az. 9 C 38.96 sowie vom 17.10.1995, Az. 9 C 15.95). Von daher kann noch dahinstehen, dass es sich bei im Ausland unter anderen klimatischen Bedingungen geborenen und lebenden Kleinkindern angolanischer Staatsangehörigkeit zahlenmäßig wohl noch nicht um eine Bevölkerungsgruppe i. S. d. § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG handeln dürfte, bei der eine geringergradige Gefährdung wegen der Sperrwirkung der genannten Vorschrift für § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG unbeachtlich wäre.

Die Annahme der extremen Gefahrenlage gründet sich im vorliegenden Fall im Einzelnen auf folgende Umstände:

Nach einem dpa-Bericht vom 28. März 2007, der sich insoweit auf UN-Angaben stützt, gehört die Kindersterblichkeit in Angola nach wie vor zu den höchsten der Welt, jedes vierte Kind stirbt vor seinem 5. Geburtstag; rund 70% der Bevölkerung lebt von weniger als 2 Dollar pro Tag und der Mehrheit von ihnen fehlt der Zugang zu einem Basis-Gesundheitsdienst. Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 26. Juni 2007 finden sich die besten Lebensbedingungen in Angola noch in der Hauptstadt Luanda, wo laut Lagebericht die Versorgung mit Nahrungsmitteln und den Gebrauchsgütern des Alltags weitgehend gewährleistet ist, es funktionierende staatliche Krankenhäuser und qualifizierte Ärzte gibt, notwendige Medikamente in der Regel vorhanden oder beschaffbar sind und sämtliche Krankheiten, die in Angola häufiger vorkommen, ohne weiteres behandelt werden können. Aber auch bezüglich Luanda werden erhebliche Einschränkungen in dem Bericht wiedergegeben: Es besteht eine sehr ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen. Die Lebensbedingungen für behinderte Menschen sind, wenn diese nicht von ihrer Familie unterstützt werden, auch in Luanda sehr schlecht. Hinsichtlich des Zugangs zu medizinischer Versorgung ist nach einem Gesetz von 1992 zwar die Behandlung in staatlichen Krankenhäusern "unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen der Patienten" kostenlos, jedoch wird seit 2003 von den Patienten eine geringe, symbolische Kostenbeteiligung verlangt. In zahlreichen Krankenhäusern Luandas beträgt die Gebühr 200 angolanische Kwanza für die gesamte Behandlung. In der Praxis kann es an staatlichen Krankenhäusern vorkommen, dass Krankenhausbedienstete – sogar Ärzte – Bestechungsgelder für die Behandlung verlangen. In staatlichen Krankenhäusern kann es zu Engpässen bei der Medikamentenversorgung kommen. In diesen Fällen muss der Patient oder seine Familie die Medikamente in einer Apotheke kaufen. In einem Bericht vom 26. Januar 2007 hieß es sogar, dass theoretisch essentielle Medikamente zwar umsonst verfügbar sein sollten, diese in der Praxis aber in der Regel nicht im öffentlichen Gesundheitssystem verfügbar seien und selbst von den Patienten doch gekauft werde müssten, was einen entsprechenden finanziellen Spielraum des Betroffenen voraussetze (in diesem Sinne auch die Auskunft der Deutschen Gesellschaft für technische Zusammenarbeit vom 16.09.2004, wo es heißt, dass in der Regel Medikamente, die theoretisch umsonst sein sollten, und oft auch die Behandlung selbst bezahlt werden müssten; zudem seien Medikamente in staatlichen Einrichtungen oft nur sehr unregelmäßig auf Lager, wobei die Versorgung in Luanda ein wenig besser als in den Provinz-Hauptstädten sei). Ergänzend ist der Auskunft des Instituts für Tropenmedizin vom 23. November 2006 zu entnehmen, dass nur 40% der Bevölkerung Zugang zu sauberem Trinkwasser haben, dass die Kindersterblichkeit bei 260 bezogen auf 1000 lebend geborene Kinder liegt und damit die zweithöchste der Welt ist, dass 45% der Kinder unter chronischer Unterernährung leiden und 70% der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze leben, wobei etwa 50% arbeitslos sind. In der Hauptstadt Luanda leben über zwei Drittel der Einwohner in Slums ohne Zugang zu fließendem Wasser, Abwassersystemen oder zu öffentlicher Abfallentsorgung. Die meisten Einwohner leben am Rande des Existenzminimums, Arbeitsplätze sind Mangelware. So erlebte z.B. Angola 2006 die größte Choleraepidemie, die von den Slums in Luanda ihren Ausgang nahm; bis Oktober 2006 wurden etwa 56.500 Erkrankungen, von denen ein Drittel Kinder unter 5 Jahren waren, und 2300 Todesfälle registriert.

Hinzu kommt, dass in Europa geborene und seitdem lebende Kinder keine Gelegenheit hatten, sich körperlich, hinsichtlich ihres Abwehrsystems, auf die in Angola verbreiteten (Tropen-)Krankheiten einzustellen, insbesondere eine so genannte Semi-Immunität im Hinblick auf Malaria zu erwerben. Dies erhöht die Lebensrisiken von (erstmals) nach Angola übersiedelnden Personen beträchtlich, wie sich etwa aus den verfahrensgegenständlichen Gutachten des Dr. Junghanns entnehmen lässt.

Im vorliegenden Fall wären von den derart miserablen Überlebensumständen für in Deutschland geborene und bislang aufgewachsene Kinder ein erst 8 Monate alter Säugling (Klägerin zu 2) und ein noch nicht ganz 3 1/2-jähriges Kleinkind betroffen, das, wie in der mündlichen Verhandlung von Klägerseite glaubhaft dargetan, über keine kräftige körperliche Konstitution verfügt, vielmehr Probleme bei der Nahrungsaufnahme aufweist, die wiederholt zur Inanspruchnahme medizinischer Versorgung geführt haben (Klägerin zu 1).

Auch wenn laut der verfahrensgegenständlichen Berichterstattung des Auswärtigen Amtes zurückkehrende unbegleitete Minderjährige nach Auskunft der staatlichen Flughafenbetreibergesellschaft von dieser in Empfang genommen und in ein Übergangsheim gebracht werden, schlägt hier als weiterer (negativer) Faktor zu Buche, dass nicht mit einer Rückführung im intakten Familienverband zu rechnen ist, nachdem bezüglich des fünfjährigen Bruders ... aus spezifischen gesundheitlichen Gründen ein Abschiebungsverbot festgestellt ist, bezüglich dessen ein Widerrufsverfahren zwar eingeleitet, aber nach über 1 1/2 Jahren noch nicht einmal eine Entscheidung beim Bundesamt getroffen worden ist. Die Fürsorge und die Anstrengungen der Eltern sind aber gerade bei derart kleinen bzw. angeschlagenen Kindern von nicht zu überschätzender Bedeutung für deren Existenzchancen nach Abschiebung in Angola (vgl. insoweit auch den angegriffenen Bescheid des BAMF vom 16.03.2006).

Nimmt man all diese Umstände hier zusammen, so ergibt sich zur Überzeugung des Gerichts prognostisch für jede der beiden Klägerinnen, dass sie alsbald nach Rückführung dem in Angola herrschenden "Überlebenskampf" erliegen würde oder mindestens schwerste Gesundheitsschäden erleiden würde.