VG Münster

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Zitieren als:
VG Münster, Urteil vom 31.08.2007 - 7 K 1982/03.A - asyl.net: M11933
https://www.asyl.net/rsdb/M11933
Leitsatz:
Schlagwörter: Pakistan, Ahmadiyya, Gruppenverfolgung, mittelbare Verfolgung, nichtstaatliche Verfolgung, Verfolgung durch Dritte, Religion, religiös motivierte Verfolgung, Religionsfreiheit, religiöses Existenzminimum, Anerkennungsrichtlinie, Morddrohungen, Islamisten, Schutzbereitschaft
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1 Bst. b; RL 2004/83/EG Art. 9 Abs. 1
Auszüge:

Keine Gruppenverfolgung von Anhängern der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft in Pakistan; Flüchtlingsanerkennung wegen Morddrohungen durch religiöse Extremisten; im Einzelfall keine Schutzbereitschaft der Polizei

(Leitsätze der Redaktion)

 

Die Verpflichtungsklage auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist begründet, da der Kläger den Bedrohungen gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG (in der Fassung der Änderung durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der europäischen Union vom 19. August 2007, BGBl. 2007 S. 1970) ausgesetzt ist, vgl. § 3 Abs. 1 AsylVfG (in der Fassung der Änderung durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der europäischen Union vom 19. August 2007, BGBl. 2007 S. 1970).

1. Allerdings gilt dies nicht, soweit es unter dem Gesichtspunkt der Gruppenverfolgung die Zugehörigkeit zur Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft betrifft.

Ahmadis waren im Allgemeinen in Pakistan einer asylrelevanten unmittelbaren oder mittelbaren Gruppenverfolgung nicht ausgesetzt; zum Zeitpunkt der Ausreise des Klägers aus Pakistan drohte diesbezüglich keine politische Verfolgung (vgl. hierzu im Einzelnen den in das Verfahren eingeführten Beschluss des OVG NRW vom 21. Juli 2004 - 19 A 2599/04.A m.w.N. zur ständigen Rspr).

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG i. V. m. Art. 10 (1) b) der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (im Folgenden: Richtlinie), wonach der Begriff der Religion u. a. die Teilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich umfasst. Allerdings steht diese Vorschrift zunächst im offenkundigen Gegensatz zur bisherigen ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, die (bezogen auf Ahmadis pakistanischer Staatsangehörigkeit) asylrechtlich lediglich den Innenbereich privater Glaubensausübung schützte, nicht jedoch die Außensphäre öffentlicher Glaubensbetätigung (vgl. Urteil des BVerwG vom 24. April 1995 - 9 C 415.94 -, m.w.N.).

Jedoch muss eine Verfolgungshandlung, die an einen derartigen Verfolgungsgrund (hier: öffentliche Glaubensbetätigung) anknüpft, gemäß Art. 9 (1) a) der Richtlinie aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sein, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellt.

Diese Voraussetzung ist hier – auch unter Berücksichtigung der speziellen, gegen die Ahmadis gerichteten Gesetzgebung – nicht gegeben. Vielmehr ist in Pakistan der essentielle Kernbereich der Religionsbetätigung im öffentlichen Bereich gewährleistet, auch wenn sich die Ahmadis öffentlich nicht Moslems und ihre Gotteshäuser nicht Moscheen nennen bzw. nicht öffentlich zum Gebet ausrufen dürfen. Entscheidend ist, dass es ansonsten keine Beschränkung bezogen auf die Religionsausübung gibt; es ist den Ahmadis gestattet, sich als Ahmadis auszugeben und es gibt insbesondere eine ausreichende Anzahl an Gotteshäusern, in denen sie ihre Religion frei ausleben können (vgl. die in diesem Verfahren eingeholte Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 19. Januar 2007).

2. Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ergibt sich aber aus individuellen Gründen.

Der Kläger hat diesbezüglich in den mündlichen Verhandlungen glaubhaft zu seinem Verfolgungsschicksal vorgetragen.

Unter Berücksichtigung dieses Vortrags ist der Kläger vorverfolgt ausgereist. Es ist davon auszugehen, dass er in das Blickfeld eines religiösen Extremisten und dessen Helfershelfer geraten war. Die (Mord-) Drohungen waren auf Grund der konkreten Fallumstände ernst zu nehmen; aufgrund des Einflusses der Verfolger ist davon auszugehen, dass der Kläger landesweit in eine ausweglose Lage geraten war. Diese in besonderem Maße zugespitzte Situation wird bestätigt durch das Schicksal des "Cousins" des Klägers, der im Zusammenhang mit den im Heimatdorf des Klägers wurzelnden Auseinandersetzungen gerichtlich belangt worden ist. Nicht von entscheidender Relevanz ist, dass der Verurteilte des genannten Gerichtsverfahrens nach der in diesem Verfahren eingeholten Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 25. Juli 2006 (nach deutschem Verständnis) nicht der Cousin des Klägers ist. Im Kulturkreis des Klägers muss dies nicht entsprechend gelten; jedenfalls steht der Verurteilte nach den näheren Ausführungen des Klägers (Schriftsatz vom 28. August 2006, Bl. 108 der Gerichtsakte) in einer allgemeinen verwandtschaftlichen Beziehung zu ihm.

Zwar steht hier keine staatliche Verfolgung in Rede, jedoch ist auch nichtstaatliche Verfolgung durch Privatpersonen dem jeweiligen Staat u.a. dann zuzurechnen, wenn der Staat nicht willens ist, Schutz zu bieten (§ 60 Abs. 1 Satz 4 c) AufenthG). Angesichts der zugespitzten Situation, in der sich der Kläger befand, und unter Berücksichtigung des Umstandes, dass die Polizei im Zusammenhang mit und nach den Geschehnissen im Heimatdorf des Klägers keine ins Gewicht fallende Schutzbereitschaft zeigte, bestand ausnahmsweise kein Anlass, zunächst um staatlichen Schutz nachzusuchen.

Unter Berücksichtigung dieses Sachverhalts kann nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausgeschlossen werden, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr in sein Heimat unverfolgt bleiben wird.