VG Augsburg

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Zitieren als:
VG Augsburg, Urteil vom 31.08.2007 - Au 4 K 05.30289 - asyl.net: M11931
https://www.asyl.net/rsdb/M11931
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Kurden, HADEP, DEHAP, Unterstützung, PKK, KADEK, Verdacht der Unterstützung, Spitzeldienste, Festnahme, Inhaftierung, Misshandlungen, Folter, Strafverfahren, Amtswalterexzesse, interne Fluchtalternative, traumatisierte Flüchtlinge, posttraumatische Belastungsstörung, Retraumatisierung, Zumutbarkeit, Haftbefehl, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, politische Entwicklung, Reformen
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Flüchtlingsanerkennung für Kurden aus der Türkei, der wegen des Verdachts der Unterstützung der PKK festgenommen und misshandelt wurde; keine inländische Fluchtalternative wegen Gefahr der Retraumatisierung; keine hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung

(Leitsätze der Redaktion)

 

Der Kläger hat jedoch einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 1 AufenthG.

Der Kläger hat die Türkei vorverfolgt verlassen.

Der Kläger hat sich seit in seiner Heimat in seinem Wohnstadtviertel während seiner Schulzeit seit 1998 (mit Unterbrechung im Jahre 2000) bei der HADEP bzw. DEHAP – zunächst wohl eher (kurdisch-) folkloristisch, dann aber auch politisch – engagiert und diese Parteien, ohne selbst Mitglied zu werden, auch im Vorfeld von Wahlen unterstützt. Er ist bereits auf Grund dieser Aktivitäten in das Blickfeld der türkischen Sicherheitskräfte geraten und war seinerzeit wiederholt kurzfristigen Festnahmen und Misshandlungen ausgesetzt. Am 5. März 2003 wurde er nachmittags zu Hause von türkischen Sicherheitskräften festgenommen und zur Anti-Terrorabteilung der Polizei in Gaziantep gebracht. Ihm wurde vorgeworfen, an einer illegalen Demonstration am 15. Februar 2003, dem Jahrestag der Festnahme Abdullah Öcalans, bei der u.a. auch Molotow-Cocktails geworfen wurden, teilgenommen und die PKK bzw. KADEK unterstützt zu haben. An der Demonstration am 15. Februar 2003 war der Kläger allerdings nicht beteiligt. Der Kläger wurde von den Sicherheitskräften zur Zusammenarbeit und zur Leistung von Spitzeldiensten aufgefordert und gedrängt. Er wurde körperlich misshandelt und ihm starke Schmerzen zugefügt. Sein Kopf wurde gegen die Wand geschlagen und er auch im Übrigen geschlagen. Er wurde nackt mit Druckwasser abgespritzt und seine Genitalien gequetscht. Weiter wurde an ihm die sog. Palästinenserschaukel praktiziert. Der Kläger wurde auch sexuell belästigt, wobei offen bleibt, ob es zu einer vollendeten Vergewaltigung gekommen ist oder nicht. Während dieser Misshandlungen, die innerhalb der ersten beiden Tage nach der Festnahme des Klägers stattgefunden haben, hat der Kläger auch mehrfach das Bewusstsein verloren. Er wurde gezwungen ein Schriftstück zu unterschreiben, das er vorher nicht gelesen hatte. Am 7. März 2003 wurde der Kläger dem 4. Erstinstanziellen Strafgericht Gaziantep vorgeführt, das gegen ihn einen Haftbefehl wegen des Propagandatreibens für die illegale Organisation KADEK erließ. Daraufhin wurde u.a. gegen den Kläger Anklage zum Staatssicherheitsgericht Adana erhoben. Der Kläger war bis zum 7. Juli 2003 in Untersuchungshaft. An diesem Tag wurde er nach einer Verhandlung entlassen. Das Strafverfahren u.a. gegen ihn, das seit Auflösung der Staatssicherheitsgerichte am 7. Gericht für schwere Strafsachen in Adana anhängig ist, wurde bis heute noch nicht abgeschlossen. Nach seiner Entlassung hielt sich der Kläger zunächst wieder zu Hause auf. Dort wurde er in der Folgezeit wiederholt von Sicherheitskräften aufgesucht, die ihn und seine Familie psychisch unter Druck setzten. Am 15. Oktober 2003 erschienen in den frühen Morgenstunden während der Abwesenheit des Klägers erneut Polizeikräfte. Darüber wurde er von seiner Mutter per Handy informiert und kehrte daraufhin nicht mehr nach Hause zurück, sondern hielt sich bei Bekannten auf. Nachdem ihm sein Vater Geld geschickt hatte nahm der Kläger Kontakt zu einem Schlepper auf und organisierte seine Flucht nach Deutschland.

Mit der PKK bzw. KADEK hat der Kläger tatsächlich noch nie etwas zu tun gehabt.

Das vom Kläger vor seiner Ausreise aus der Türkei erlittene Schicksal erfüllt den Tatbestand der politischen Verfolgung.

Er wurde im Mai 2003 nicht nur unerheblich und damit in einer die Schwelle der Asylrelevanz übersteigenden Intensität in seiner körperlichen und psychischen Unversehrtheit beeinträchtigt. Diese asylrelevanten Rechtsgutbeeinträchtigungen erfolgten nach Auffassung des Gerichts auch in Anknüpfung an ein asylerhebliches Merkmal, die tatsächliche oder vermutete politische Überzeugung und/oder die kurdische Volkszugehörigkeit. Die Maßnahmen der türkischen Stellen dienten objektiv nicht dem (an sich legitimen) Zweck der Terrorismusbekämpfung, denn weder hatte sich der Kläger selbst terroristisch betätigt noch wären derartige, die Menschenwürde des Klägers beeinträchtigenden Verfolgungsmaßnahmen, so wie sie ausgeführt wurden, zur Abwehr terroristischer Übergriffe gerechtfertigt gewesen. Bei den Übergriffen durch die Sicherheitskräfte handelte es sich auch nicht nur um dem türkischen Staat nicht zuzurechnende Amtswalterexzesse, weil diese Repressalien unmittelbar Ausfluss der seinerzeit noch gerade in den östlichen Provinzen praktizierten vielfältigen Unterdrückungspolitik des türkischen Staates gegenüber kurdischen Volkszugehörigen, die als Unterstützer der PKK verdächtigt wurden, war (vgl. OVG Koblenz vom 18.1.2002 Az: 10 A 11040/01). Dass auch dem Kläger gegenüber ein solcher Verdacht gehegt wurde, liegt deshalb nahe, weil er sich als kurdischer Volkszugehöriger weigerte, für die türkischen Sicherheitskräfte und gegen (vermutete) PKK/KADEK-Angehörige oder -Unterstützer Spitzeldienste zu leisten.

Nach Überzeugung des Gerichts war es dem Kläger zum Zeitpunkt seiner Ausreise aus der Türkei nicht zuzumuten, sich auf eine Übersiedlung in einen andern Landesteil der Türkei, insbesondere die Großstädte im Westen verweisen zu lassen, um dort Repressalien der Sicherheitskräfte zu entgehen. Dem Kläger stand daher keine inländische Fluchtalternative zur Verfügung.

Nach ständiger und gefestigter Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts setzt eine inländische Fluchtalternative voraus, dass der Asylsuchende in den in Betracht kommenden Gebieten vor politischer Verfolgung hinreichend sicher ist und ihm jedenfalls dort auch keine anderen Nachteile und Gefahren drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutsbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen, sofern diese existentielle Gefährdung am Herkunftsort so nicht bestünde (vgl. z. B. BVerfGE 80, 315; BVerwGE 85, 139 und 87, 141, BVerwG vom 14.12.1993, Az. 9 C 45.92, DVBl 1994, 524).

Dies kann nicht nur dann gelten, wenn die existenzielle Gefahr in einer wirtschaftlichen Notlage besteht, sondern auch und erst recht, wenn es sich um (verfolgungsbedingte) gesundheitliche, auch psychische Notlagen handelt. Nach Überzeugung des Verwaltungsgerichts lag beim Kläger zum Zeitpunkt seiner Ausreise aus der Türkei eine derartige psychische Notlage vor. Nach der Aussage der sachverständigen Zeugin in der mündlichen Verhandlung am 22. August 2007 liegt beim Kläger eine schwere PTBS vor; diese bestand auch bereits, als sich der Kläger noch in der Türkei aufgehalten hat. Das Gericht sieht keinen Anlass, an dieser sachverständigen Einschätzung zu zweifeln.

Das erkennende Gericht hat aufgrund der sachverständigen Äußerungen der sachverständigen Zeugin Dr. K. in der mündlichen Verhandlung und in ihrem Psychodiagnostischen Befund vom 15. August 2006 auch keine durchgreifenden Zweifel daran, dass die PTBS durch die im Mai 2003 in der Polizeihaft erlittenen Misshandlungen, die sich nach den obigen Darlegungen als politische Verfolgung darstellen, verursacht worden ist und dass diese zum Zeitpunkt der Ausreise des Klägers aus der Türkei wegen ihrer Intensität und Schwere den Kläger in eine im asylrechtlichen Sinne ausweglose Situation brachte. Denn der Kläger wäre bei einem Verbleib in der Türkei – auch in einer der Großstädte im Westen – ohne Zweifel sehr häufig mit traumaassoziierten Reizen konfrontiert gewesen, etwa beim Zusammentreffen mit Polizei, was auf Grund der gerichtsbekannten Polizeipräsenz in der Türkei wohl tagtäglich der Fall gewesen wäre. Derartige Belastungsereignisse bergen die Gefahr einer Retraumatisierung mit der Folge eines erhöhten Suizidrisikos. Dieser (existenziellen) Gefahr hätte der Kläger auch nicht dadurch entgehen können, dass er sich in der Türkei einer (psychotherapeutischen oder pharmakologischen) Behandlung unterzogen hätte. Zwar dürften nach der Erkenntnislage aktuell ausreichende Behandlungsmöglichkeiten auch von psychischen Erkrankungen und Störungen in der Türkei vorhanden sein, doch wäre bei einer Behandlung das Risiko einer nochmaligen Traumatisierung wohl nicht geringer gewesen. Denn nach der nachvollziehbaren Einschätzung der sachverständigen Zeugin dürfte eine Therapie in der Türkei deshalb nicht erfolgversprechend sein (und war es auch seinerzeit nicht), weil das für eine wirksame Therapie erforderliche subjektive Gefühl der Sicherheit beim Kläger wohl nicht ausgebildet werden kann. Es war dem Kläger deshalb nicht zumutbar, sich der Gefahr einer weiteren Traumatisierung, die an jedem Ort der Türkei bestand, auszusetzen.

Darüber hinaus konnte der Kläger trotz der Außervollzugsetzung bzw. Aufhebung des Haftbefehls am 7. Juli 2003 auch bei einem Wechsel seines Aufenthaltsorts in den Westen nicht davon ausgehen, vor weiteren Übergriffen sicher zu sein. Nach der Erkenntnislage ist es durchaus wahrscheinlich, dass die Außervollzugsetzung bzw. Aufhebung eines Haftbefehls nur sehr zögerlich anderen Sicherheits- oder Grenzbehörden mitgeteilt wird oder eine solche Mitteilung auch gänzlich unterbleibt (vgl. VG Stuttgart vom 29. November 2006, Az. A 16 K 11255/05). Der Kläger hätte daher auch in anderen Landesteilen bei einem Kontakt mit Sicherheitskräften und einer kaum zu vermeidenden Personalienüberprüfung damit rechnen müssen, als gesuchter Straftäter angesehen und entsprechend behandelt zu werden. Dass ihm dann die Gefahr erneuter asylrelevanter Misshandlungen gedroht hätte, erscheint angesichts der ihm vorgeworfenen Straftat – Unterstützung einer terroristischen Organisation – keineswegs unwahrscheinlich, sondern naheliegend.

Der Kläger, der sich als vorverfolgt Ausgereister auf den herabgestuften Prognosemaßstab berufen kann, ist bei einer Rückkehr in die Türkei vor politischer Verfolgung nicht hinreichend sicher. Es besteht auch angesichts der in jüngerer Zeit stattgefundenen Entwicklung in der Türkei noch keine hinreichende Gewissheit, dass der Kläger vor Repressalien ähnlicher Art, wie er sie vor seiner Ausreise hat über sich ergehen lassen müssen, sicher ist. Zwar haben in der Türkei in den letzten Jahren nicht unerhebliche positive Veränderungen im Hinblick auf den von der jetzigen Regierung angestrebten EU-Beitritt der Türkei (vgl. dazu z. B. die jüngeren Lageberichte des Auswärtigen Amts), doch dürften die getroffenen, insbesondere gesetzgeberischen Maßnahmen in der Praxis, vor allem innerhalb des Apparats der türkischen Sicherheitskräfte noch nicht in dem Maße umgesetzt worden sein, dass eine hinreichende Sicherheit bejaht werden könnte (so auch OVG Münster vom 9.12.2003 Az: 8 A 5501/00.A; JurisNr. MWRE204011984; OVG Koblenz vom 12.5.2004 Az. 10 A 11952/03, JurisNr. MWRE104570400). Angesichts des Umstands, dass der Kläger bereits in das Blickfeld örtlicher Sicherheitskräfte geraten und schwer misshandelt worden ist, bestehen zumindest ernsthafte Zweifel daran, dass er bei einer Rückkehr dorthin nicht wiederum mit asylrelevanten Maßnahmen überzogen wird. Dem Kläger ist auch aus den oben bereits dargelegten Gründen aktuell ein Ausweichen in andere Landesteile der Türkei nicht zumutbar. Die fluchtauslösenden Gründe bestehen immer noch. Deshalb besteht für den Kläger derzeit keine hinreichende Verfolgungssicherheit in der Türkei.