VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 19.09.2007 - 11 K 2800/06 - asyl.net: M11897
https://www.asyl.net/rsdb/M11897
Leitsatz:

§ 48 VwVfG rechtfertigt nicht die Rücknahme einer Einbürgerung, wenn diese unmittelbare Auswirkungen auf das staatsangehörigkeitsrechtliche Schicksal von weiteren Personen haben kann.

 

Schlagwörter: D (A), Einbürgerung, Rücknahme, Rechtsgrundlage, Verfassungsmäßigkeit, Entziehung der deutschen Staatsangehörigkeit, Kinder
Normen: VwVfG § 48; GG Art. 16 Abs. 1
Auszüge:

§ 48 VwVfG rechtfertigt nicht die Rücknahme einer Einbürgerung, wenn diese unmittelbare Auswirkungen auf das staatsangehörigkeitsrechtliche Schicksal von weiteren Personen haben kann.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Klage ist begründet.

In der gegebenen Konstellation verfügt die Beklagte (derzeit) über keine ausreichende Ermächtigungsgrundlage zur Rücknahme der Einbürgerung des Klägers. Insbesondere kann sie sich nicht – wie geschehen – auf § 48 LVwVfG Ba.-Wü. stützen.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 24.05.2006 (- 2 BvR 669/04 -, NVwZ 2006, 807 = InfAuslR 2006, 335) entschieden, wann § 48 LVwVfG Ba.-Wü. eine ausreichende Ermächtigungsgrundlage bietet für die Rücknahme einer Einbürgerung, über deren Voraussetzungen der Eingebürgerte getäuscht hat. Namentlich für den Fall einer zeitnahen Rücknahme der Einbürgerung könne darin eine ausreichende Ermächtigungsgrundlage gesehen werden (3. Leitsatz der Entscheidung). Dem Fall lag die Rücknahme einer Einbürgerung zugrunde, die fast genau zwei Jahre zuvor vorgenommen worden war. Nachdem im vorliegenden Fall zwischen der Einbürgerung des Klägers und der angegriffenen Rücknahmeentscheidung der Beklagten (wenn man nicht auf den Erlass des Widerspruchsbescheides des Regierungspräsidiums Stuttgart abstellt) weniger als 1 Jahr verstrichen war, wäre zwar von einer solch zeitnahen Rücknahme der Einbürgerung im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts noch auszugehen.

Gleichwohl vermag sich die Beklagte nicht auf diese Entscheidung berufen. Denn diesem Urteil ist über dieses zeitliche Kriterium hinaus unzweideutig zu entnehmen, dass § 48 LVwVfG von den Behörden auch dann nicht als Ermächtigungsgrundlage herangezogen werden darf, wenn die Rücknahmeentscheidung unmittelbare Auswirkungen auf das staatsangehörigkeitsrechtliche Schicksal weiterer Personen haben kann. Die frühere Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 03.06.2003 - 1 C 19/02 -, BVerwGE 118, 216 = InfAuslR 2003, 445 = StAZ 2003, 364 = NVwZ 2004, 489) ist durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts überholt.

Insbesondere unter Berücksichtigung der umfangreichen Ausführungen der die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht tragenden Hälfte der Richter des Senats (a.a.O., IV.) – denen sich der Berichterstatter uneingeschränkt anschließt –, ist zu verlangen, dass der Gesetzgeber – im Staatsangehörigkeitsgesetz selbst – eigenständige Regelungen trifft über die Rücknahme einer Einbürgerung, die aufgrund unlauterer Verhaltensweisen des Eingebürgerten als mängelbehaftet angesehen werden kann, wenn es um mehr als eine zeitnahe Rücknahme geht, bzw. wenn staatsangehörigkeitsrechtliche Wirkungen von dieser Rücknahme bei an der Täuschungshandlung unbeteiligten Dritten ausgehen können.

Selbst von der die Entscheidung gemäß § 15 Abs. 4 S. 3 BVerfGG tragenden Hälfte der Senatsmitglieder des Bundesverfassungsgerichts werden Fallkonstellationen ausdrücklich als möglich genannt, die in § 48 LVwVfG Ba.-Wü. keine hinreichende gesetzliche Ermächtigungsgrundlage zur Wiederherstellung eines gesetzmäßigen Rechtszustandes finden (BVerfG, a.a.O., III. 3. = Nr. 88 i.d.F. <juris>). Die das Urteil tragende Hälfte des Senats bezieht sich für seine Rechtsansicht ausdrücklich auch auf die sog. Wesentlichkeitstheorie. Danach verpflichten das Rechtsstaatsprinzip und das Demokratieprinzip des Grundgesetzes den Gesetzgeber, wesentliche Entscheidungen selbst zu treffen und nicht der Verwaltung zu überlassen ( BVerfG, Urt. v. 24.05.2006, a.a.O., III. 2. c) = Nr. 85 i.d.F. <juris> m.w.N.). Nur weil für den einzelnen auf Grund einer Täuschungshandlung Eingebürgerten § 48 LVwVfG eine klar erkennbare Sanktion bereithalte, hielt diese Senatshälfte dem in dem dort zu entscheidenden Fall noch für genügt.

Dagegen bezeichnet die die Entscheidung gemäß § 15 Abs. 4 S. 3 BVerfGG tragenden Hälfte der Senatsmitglieder des Bundesverfassungsgerichts namentlich Fälle, in denen wesentliche Fragen der sachlichen und zeitlichen Reichweite der Rücknehmbarkeit von Einbürgerungen durch § 48 LVwVfG BW nicht grundrechtsspezifisch und konkret gelöst werden können. So heißt es in der Entscheidung vom 24.05.2006 ( a.a.O., III. 3. = Nr. 89 i.d.F. <juris> m.w.N.):

"Die Regelungsbedürftigkeit der Aufhebung von Einbürgerungen ... zeigt sich insbesondere bei ... Konstellationen, in denen die Rechtmäßigkeit der Einbürgerung von Angehörigen, insbesondere Kindern im Vordergrund steht. Hier stellen sich besondere grundrechtsbezogene Probleme, die eine hinreichend bestimmte Entscheidung des Gesetzgebers angezeigt erscheinen lassen. Die Frage, welche Auswirkungen ein Fehlverhalten im Einbürgerungsverfahren auf den Bestand der Staatsangehörigkeit Dritter haben kann, die an diesem Fehlverhalten nicht beteiligt waren, bedarf einer Antwort durch den Gesetzgeber."

Und weiter:

"Auch unter Berücksichtigung der betroffenen Grundrechtsberechtigten besteht eine Vielfalt möglicher Lösungswege bei der Rücknehmbarkeit der Einbürgerung, die dazu führt, dass der Gesetzgeber die angemessenen Lösungen selbst auszuwählen und auszugestalten hat."

Auch dem schließt sich der Berichterstatter an. Diese Äußerungen des Verfassungsgerichts sind eindeutig und einer Auslegung, wie sie die Beklagte in der mündlichen Verhandlung vorgenommen hat, nicht zugänglich. Es kann keine Rede davon sein, dass dem Erfordernis einer Entscheidung durch den Gesetzgeber schon dann genügt ist, wenn die Verwaltung durch mehr oder weniger geschickte Ermessensbetätigung versucht sicherzustellen, dass die Auswirkungen der Rücknahme einer Einbürgerung für Angehörige, namentlich Kinder gering gehalten werden. Denn auch eine solche Vorgehensweise bleibt eine Entscheidung der Verwaltung. Dies ist aber mit der Wesentlichkeitstheorie (vgl. oben) unvereinbar.