VG Lüneburg

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Zitieren als:
VG Lüneburg, Urteil vom 20.09.2007 - 6 A 14/07 - asyl.net: M11892
https://www.asyl.net/rsdb/M11892
Leitsatz:

Kein Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 AufenthG in verfassungskonformer Auslegung, da gleichwertiger Abschiebungsschutz durch Erlasslage; im Irak herrscht kein bewaffneter innerstaatlicher Konflikt gem. § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG.

 

Schlagwörter: Irak, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Nordirak, Machtwechsel, Baath, Sicherheitslage, Versorgungslage, Wegfall-der-Umstände-Klausel, Genfer Flüchtlingskonvention, allgemeine Gefahr, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Erlasslage, Abschiebungsstopp, ernsthafter Schaden, bewaffneter Konflikt, Anerkennungsrichtlinie
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; GFK Art. 1 C Nr. 5; AufenthG § 60 Abs. 7; RL 2004/83/EG Art. 15 Bst. c
Auszüge:

Kein Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 AufenthG in verfassungskonformer Auslegung, da gleichwertiger Abschiebungsschutz durch Erlasslage; im Irak herrscht kein bewaffneter innerstaatlicher Konflikt gem. § 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Klage ist unbegründet.

Rechtsgrundlage für die Widerrufsentscheidung der Beklagten ist damit § 73 Abs. 1 in der neuen, seit dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes geltenden Fassung (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.7.2006 - 1 C 15/05 - BVerwGE 126, 243) und zwar nunmehr in der Fassung des Art. 3 Nr. 46 des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien des Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl. I Seite 1970 f).

Bei der Prüfung, ob die Gründe, die zur Asylanerkennung bzw. das Feststellen eines Abschiebungsverbotes geführt haben, entfallen sind, ist abzustellen auf die Lage im Irak insgesamt und nicht etwa nur auf einzelne Landesteile. Es ist daher unbeachtlich, ob der betreffende Asylbewerber aus dem Bereich des Nordiraks stammt, in dem das Baath-Regime schon seit Ende des 1. Golfkrieges aufgrund der eingerichteten Schutzzone faktisch keine Hoheitsgewalt mehr ausgeübt hat (vgl. Nds. OVG, Beschl. v. 10.12.2004 - 9 LA 313/04 - Nds. Rpfl. 2005, 129 m.w.N.). Für die Widerrufsentscheidung ist ferner ohne Bedeutung, ob der betreffende Ausländer zu Recht oder zu Unrecht als Asylbewerber anerkannt worden ist.

Das Bundesamt hat zutreffend entschieden, dass diese Voraussetzungen für die Feststellung zu § 51 Abs. 1 AuslG (bzw. jetzt des § 60 Abs. 1 AufenthG) nicht mehr vorliegen, weil sich die Verhältnisse im Irak grundlegend und dauerhaft gewandelt haben.

Die politische Lage im Irak hat sich durch die am 20. März 2003 begonnene und am 1. Mai 2003 durch die seitens des US-Präsidenten Bush als beendet erklärte Militäraktion maßgebend verändert. Das bis zum Kriegsausbruch von der irakischen Baath-Partei und dem persönlichen Einflussbereich der Familie des früheren Staatsoberhaupts Saddam Hussein geprägte Herrschaftssystem hat, namentlich nach der Festnahme, Verurteilung und Hinrichtung Saddam Husseins, seine politische und militärische Herrschaft über den Irak vollständig verloren.

Bei einer Widerrufsentscheidung ist von der Behörde ferner zu prüfen, ob dem betreffenden Ausländer nunmehr nicht aus anderen Gründen asylerhebliche Gefahren oder Gefahren i.S.d. § 60 Abs. 1 AufenthG drohen, denn dieses stände einem Widerruf entgegen (vgl. BVerwG, Urt. v. 1.11.2005 - 1 C 21/04 - NVwZ 2006, 707; Urt. v. 8.7.2006 a.a.O).

Verfolgungsmaßnahmen der Übergangsregierung des Iraks sind nicht zu erwarten.

Die Gefahr einer Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure (§ 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst c AufenthG) ist ebenfalls weder vorgetragen noch ersichtlich.

Von diesem Widerruf war auch nicht aus Gründen des § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG abzusehen.

Der Kläger kann der Widerrufsentscheidung auch nicht mit Erfolg entgegenhalten, die Sicherheits- und Versorgungslage im Irak sei katastrophal und für jedermann lebensbedrohlich, eine menschenwürdige sichere Existenz sei im Irak derzeit nicht gegeben, die Situation verschlechtere sich zunehmend, es drohe ein offener Bürgerkrieg, Schutz im Irak bestehe nicht. Diesem rechtlichen Ansatz folgt das Gericht nicht. Er lässt sich auch nicht unter Berufung auf Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention – GFK – begründen.

Dies gilt auch, nachdem der Wortlaut des Art. 1 C Nr. 5 GFK in den neugefassten § 73 Abs. 1 AsylVfG übernommen worden ist. Dies bedeutet keine Änderung der vorstehend dargestellten Rechtslage in dem Sinne, dass allgemeine Gefahren von dem Schutz des Art. 1 A Nr. 2 GFK nach Wortlaut und Zweck dieser Bestimmung ebenso wenig erfasst werden wie von Art. 1 C Nr. 5 Satz 1 GFK (vgl. BVerwG wie vorstehend).

Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Demgegenüber werden allgemeine Gefahren, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, gemäß § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG bei Entscheidungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG berücksichtigt. Liegt eine derartige Erlasslage i. S. d. § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG vor, welche dem betroffenen Ausländer einen gleichwertigen Abschiebungsschutz wie § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vermittelt, scheidet ein Anspruch auf Feststellung von individuellen Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG wegen dieser Gefahren aus (vgl. zu § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG: BVerwG, Beschl. v. 28.08.2003 - 1 B192/03 - Buchholz 402.240 § 54 AuslG Nr. 7).

Im vorliegenden Fall besteht ein solcher gleichwertiger Abschiebungsschutz. Eine Abschiebung irakischer Staatsangehöriger droht gegenwärtig und in naher Zukunft nicht. Denn das Niedersächsische Ministerium für Inneres und Sport hat im Erlasswege mit Rundschreiben vom 19. Juli 2004 (Az.: 45.11-12235/12-6-5) darauf hingewiesen, dass nach dem Beschluss der Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder vom 7./8. Juli 2004 weiterhin eine tatsächliche Unmöglichkeit der zwangsweisen Rückführung vollziehbar ausreisepflichtiger irakischer Staatsangehöriger in den Irak besteht und verfügt, dass in diesen Fällen weiterhin Duldungen für die Dauer von sechs Monaten zu erteilen sind. Dieser Erlass hat weiterhin Gültigkeit und findet seitens der Ausländerbehörden Beachtung. Die Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder hat zuletzt am 1. Juni 2007 festgestellt, dass mit der Rückführung von ausreisepflichtigen irakischen Staatsangehörigen, die in Deutschland wegen Straftaten verurteilt wurden sowie mit aus dem Nordirak stammenden Irakern, die in Deutschland die innere Sicherheit gefährden, begonnen werden kann und auch bei letzterem Personenkreis sind die vom UNHCR eingeräumten Möglichkeiten zu beachten, welcher nur in ganz wenigen Ausnahmefällen eine Rückführung für zulässig erachtet (vgl. UNHCR-Hinweise vom 26.4.2007). Hinsichtlich des weiteren Personenkreises – also auch für den Kläger – verbleibt es bei der bisherigen Beschlusslage. Damit sind die betroffenen Ausländer derzeit wirksam vor einer Abschiebung in den Irak geschützt, so dass ihnen nicht zusätzlich Schutz vor der Durchführung der Abschiebung nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren ist (vgl. Nds. OVG. Urt. v. 19.3.2007 a.a.O.; VGH München, Urt. v. 03.03.2005 - 23 B 04.30734 -; zu § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG: VGH Mannheim, Urt. v. 16.09.2004 - A 2 S 471/02 -; OVG Münster, Urt. v. 06.07.2004 - 9 A 1406/02.A - Veröffentlichung nicht bekannt).

Diese Rechtsauffassung hat auch Bestand nach der Einfügung des neuen Satzes 2 in § 60 Abs. 7 AufenthG. Danach ist von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abzusehen, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlich bewaffneten Konflikts ausgesetzt ist. Im Irak findet gegenwärtig aber kein innerstaatlich bewaffneter Konflikt oder ein Bürgerkrieg statt. Die Situation im Irak ist vielmehr dadurch gekennzeichnet, dass es zu einer Vielzahl nicht vorhersehbarer Zwischenfälle kommt, die von Entführungen, Selbstmordattentaten, gezielter Tötung von Einzelpersonen aufgrund unterschiedlichster Motivationslagen bis zu Beschießungen von Menschengruppen, privaten und öffentlichen Einrichtungen reicht. Die Täter dieser Verbrechen lassen sich nicht fest bestehenden Gruppierungen oder Gliederungen zuordnen; Täter und Opfer kommen aus allen gesellschaftlichen, politischen und religiösen Gruppierungen. Diese Konfliktlage, die größtenteils unter Gebrauch von Waffen erzeugt wird, führt zu einer gefährlichen, aber die gesamte irakische Bevölkerung drohenden Situation und ist nicht die Folge eines innerstaatlichen Konflikts. Da dieser Gefahr die gesamte irakische Bevölkerung ausgesetzt ist, verbleibt es insoweit bei einer Verweisung auf § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG.

Die zu § 60 Abs. 7 Satz 2, § 60a AufenthG ergangene Verwaltungsrechtsprechung verstößt auch nicht gegen die Qualifikationsrichtlinie des Rates 2004/83/EG vom 29.04.2004. Insbesondere ist kein Verstoß gegen Art. 15 lit. c der Qualifikationsrichtlinie gegeben. Nach dieser Bestimmung, die unter der Überschrift "ernsthafter Schaden" steht, ist Voraussetzung zur Gewährung "subsidiären Schutzes", welcher die Ausstellung eines Aufenthaltstitels gebietet, eine "ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens ... einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines ... bewaffneten Konflikts". Durch diese Bestimmung wird die in § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG enthaltene Sperrwirkung für allgemeine Gefahren jedoch nicht aufgehoben. Denn nach dem Erwägungsgrund Nr. 26 der Richtlinie stellen Gefahren, denen die Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe eines Landes allgemein ausgesetzt sind, für sich genommen keine individuelle Bedrohung dar, die als ernsthafter Schaden zu beurteilen wären. Dadurch kommt zum Ausdruck, dass auch die Qualifikationsrichtlinie zwischen individuellen und allgemeinen Gefahren differenziert und nur vor individuellen Gefahren schützen will. Insofern ist der durch die Richtlinie vermittelte Schutz in dieser Hinsicht nicht weitergehend als derjenige, der durch §§ 60 Abs. 7, 60a AufenthG vermittelt wird. Folglich steht das hier gefundene Ergebnis auch im Einklang mit der Qualifikationsrichtlinie (vgl. Nds. OVG, Urt. v. 19.03.2007 a.a.O).