VG Münster

Merkliste
Zitieren als:
VG Münster, Urteil vom 21.09.2007 - 8 K 355/06 - asyl.net: M11891
https://www.asyl.net/rsdb/M11891
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Niederlassungserlaubnis, Zuwanderungsgesetz, Übergangsregelung, Altfälle, Aufenthaltsbefugnis, Duldung, Verschulden, Vertretenmüssen, verspäteter Antrag, Verlängerung, Ermessen, Ermessensreduzierung auf Null, Ashkali, Kosovo, Serbien
Normen: AufenthG § 26 Abs. 4; AufenthG § 101 Abs. 2
Auszüge:

Die Klage ist zulässig und begründet.

Der Bescheid des Beklagten vom ... in der Gestalt des Widerspruchsbescheids der Bezirksregierung Münster vom ... ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, denn der Kläger hat einen Anspruch auf Erteilung der begehrten Niederlassungserlaubnis (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

Der Anspruch des Klägers ergibt sich aus § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG.

Der Kläger erfüllt die zeitlichen Voraussetzungen. Zwar besitzt er erst seit dem ... eine Aufenthaltserlaubnis, da die ihm am ... erteilte Aufenthaltsbefugnis gem. § 101 Abs. 2 AufenthG seitdem als Aufenthaltserlaubnis fortgilt. Die vorangehenden Zeiten des Besitzes der Aufenthaltsbefugnis und der Duldungen werden ihm aber angerechnet.

Der Beklagte geht fehl, wenn er meint, nach § 102 Abs. 2 AufenthG könnten entweder Zeiten einer Aufenthaltsbefugnis oder Zeiten einer Duldung angerechnet werden, nicht aber beides kumulativ. Die Norm ist so zu verstehen, dass sowohl Zeiten der Aufenthaltsbefugnis als auch Zeiten der Duldung angerechnet werden: alternativ, wenn nur eines von beiden vorliegt, aber auch kumulativ, wenn beides gegeben ist. Die Konjunktion "oder" ist in diesem Zusammenhang als "sowie" zu verstehen (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, Kommentar, 52. Aktualisierung, Heidelberg Mai 2007, § 102 AufenthG, Rdnr. 12; im Ergebnis auch VGH BW, Beschl. v. 29. Mai 2007 - 11 S 2093/06 -, DVBl. 2007, 1052; vgl. ferner die vorläufigen Anwendungshinweise zu § 102 AufenthG, Ziff. 102.2.).

Dafür spricht auch die Gesetzesbegründung zu § 102 Abs. 2 AufenthG. Darin heißt es im Anschluss an die Begründung zur Anrechnung von Duldungszeiten:

"Auch die Zeit des Besitzes einer Aufenthaltsbefugnis wird auf die Frist für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis angerechnet."

Diese Formulierung zeigt deutlich, dass der Gesetzgeber davon ausging, dass die kumulative Anrechnung von Duldungs- und Aufenthaltsbefugniszeiten möglich sein sollte.

§ 102 Abs. 2 AufenthG erfasst die Anrechnung von Zeiten des Besitzes einer Duldung. Dabei kommt es – entgegen der Auffassung des Beklagten – nicht auf den Zweck an, zu dem die Duldung erteilt worden ist. Da § 102 Abs. 2 AufenthG nicht nach Duldungsgründen oder danach unterscheidet, ob der Ausländer sie verschuldet hat, sind sämtliche Zeiten des Besitzes einer Duldung und ohne Rücksicht darauf anzurechnen, ob sie nach dem Aufenthaltsgesetz für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis qualifizieren (vgl. VGH BW, Beschl. v. 29. Mai 2007 - 11 S 2093/06 -, DVBl. 2007, 1052; Hailbronner, Ausländerrecht, Kommentar, 52. Aktualisierung, Heidelberg Mai 2007, § 102 AufenthG, Rdnr. 15).

Einer solchen am Wortlaut der Vorschrift orientierten Auslegung steht auch nicht der gesetzgeberische Sinn und Zweck der Vorschrift entgegen: Nach der Gesetzesbegründung sollen die Zeiten der Duldung vor dem Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes angerechnet werden, um die Ausländer nicht zu benachteiligen, die nach dem Aufenthaltsgesetz eine Aufenthaltserlaubnis bekommen, jedoch nach dem Ausländergesetz – zum Teil seit vielen Jahren – lediglich eine Duldung erhielten (BT-Drs. 15/420, S. 100).

Dieser Gesetzeszweck wird durch die vorgenommene Auslegung nicht eingeschränkt. Das Ziel der Nicht-Benachteiligung der (qualifizierten) Duldungsinhaber nach dem Ausländergesetz gegenüber der neuen Rechtslage nach dem Aufenthaltsgesetz wird auch erreicht, wenn andere Ausländer ebenfalls in den Genuss der vorteilhaften Regelung kommen. Damit werden auf der Tatbestandsebene sogar Ausländer, die sich vor dem ... der Abschiebung durch Identitätsverschleierung, fehlende Mitwirkung oder aktiven Widerstand entzogen haben, privilegiert, sofern das Verhalten des Ausländers nicht zu einer gerichtlichen Bestrafung nach § 92 Abs. 2 Nr. 2 AuslG geführt hat; eine Korrektur kann aber im Rahmen der Ermessensausübung erfolgen (Hailbronner, Ausländerrecht, Kommentar, 52. Aktualisierung, Heidelberg Mai 2007, § 102 AufenthG, Rdnr. 15).

§ 102 Abs. 2 AufenthG soll nur eine Benachteiligung von Duldungsinhabern nach dem AuslG gegenüber Aufenthaltserlaubnisinhabern nach dem AufenthG verhindern, nicht aber eine Privilegierung derartiger Duldungsinhaber gegenüber anderen Duldungsinhabern schaffen. § 102 Abs. 2 AufenthG dient nicht in erster Linie dazu, zwischen Duldungsinhabern zu differenzieren.

Die Entstehungsgeschichte des Gesetzes zeigt sogar, dass diese Bevorteilung der Ausländer, die eine Duldung erhalten hatten, weil sie Duldungsgründe selbst verschuldet hatten, bewusst hingenommen worden ist. Der Innenausschuss hatte erkannt, dass nach seiner Auffassung der Gesetzentwurf insofern zu weitgehend gefasst war und die Herauszögerung der Aufenthaltsbeendigung bis zum Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes provozieren könnte. Daher hatte er in seinen Empfehlungen vorgeschlagen, nach dem Wort "Duldung" die Wörter "gemäß § 55 Abs. 2 des Ausländergesetzes in der zuletzt gültigen Fassung auf der Grundlage des § 53 Abs. 1, 2, 4 oder 6 oder des § 54 des Ausländergesetzes in der zuletzt gültigen Fassung, soweit sie die Zeiten des Besitzes einer Aufenthaltsbefugnis nicht übersteigen", einzufügen. Damit hätten nur Duldungszeiten angerechnet werden sollen, die nach dem Aufenthaltsgesetz für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis qualifizierten (BR-Drs. 22/1/03, Empfehlung Nr. 88, S. 77; eingebracht in den Bundestag durch die Beschlussempfehlung und den Bericht des Innenausschusses, BT-Drs. 15/955, S. 32).

Diese Differenzierung wurde aber im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens aufgegeben. Bereits in der Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses (BT-Drs. 15/3479) taucht eine entsprechende Änderung des § 102 Abs. 2 AufenthG gegenüber dem Gesetzesentwurf nicht auf. Damit hat der Gesetzgeber eine umfassende Anrechenbarkeit von Duldungszeiten hingenommen (vgl. VGH BW, Beschl. v. 29. Mai 2007 - 11 S 2093/06 -, DVBl. 2007, 1052).

Für diese Auslegung des § 102 Abs. 2 AufenthG spricht auch ein weiteres systematisches Argument: Gem. § 26 Abs. 4 Satz 3 AufenthG wird auf die Frist abweichend von § 55 Abs. 3 AsylVfG die Aufenthaltszeit des der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis vorangegangenen Asylverfahrens angerechnet. Infolge der Bezugnahme auf § 55 Abs. 3 AsylVfG sind damit die Aufenthaltszeiten eines Asylverfahrens gemeint, das für den Ausländer im Hinblick auf die Asylberechtigung im Ergebnis erfolglos war. Dabei ist sowohl unerheblich, aus welchen Gründen das Asylverfahren erfolglos war, als auch von Rechts wegen belanglos, auf welchen Umständen der Zeitablauf des Asylverfahrens beruht. Dem Gesetzgeber ist es also nicht fremd, im Rahmen des § 26 Abs. 4 AufenthG auch solche Aufenthaltszeiten anzurechnen, deren Dauer der Ausländer selbst zu vertreten hat.

Auf den Vergleich des § 102 Abs. 2 AufenthG mit § 26 Abs. 4 Satz 3 AufenthG (damals noch Satz 2) weist der Gesetzgeber selbst in seiner Gesetzesbegründung zu § 102 Abs. 2 AufenthG hin, wenn er dort ausführt, dass die Zeiten der Duldung vor dem Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes "wie bei der Berücksichtigung der Dauer eines Asylverfahrens" angerechnet werden (BT-Drs. 15/420, S. 100).

Der Anrechnung von Duldungszeiten kann nicht entgegengehalten werden, dass eine solche Anrechnung im Rahmen des § 26 Abs. 4 AufenthG grundsätzlich nicht möglich ist (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, Kommentar, 52. Aktualisierung, Heidelberg Mai 2007, § 26 AufenthG, Rdnr. 17).

Das betrifft nur die Duldungen ab dem 01. Januar 2005. Von diesem Grundsatz bildet § 102 Abs. 2 AufenthG aber gerade eine vom Gesetz vorgesehene Ausnahme.

Soweit nicht gefordert wird, dass – wie bei den Zeiten der Aufenthaltserlaubnis gem. § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG – die Duldungszeiten durchgehend und damit lückenlos sind ("seit sieben Jahren") (so wohl VGH BW, Beschl. v. 29. Mai 2007 - 11 S 2093/06 -, DVBl. 2007, 1052) erfüllt der Kläger damit schon die zeitlichen Voraussetzungen. Für diese Auffassung spricht, dass der durchgehende Besitz eines Aufenthaltstitels, den § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG voraussetzt, gerade auf eine Aufenthaltserlaubnis zugeschnitten ist, die einen rechtmäßigen Aufenthalt vermittelt. Auf die Duldung, die kein Aufenthaltstitel in diesem Sinne ist, sondern nach der Legaldefinition des § 60 a AufenthG allein die Aussetzung der Abschiebung bedeutet, eine fortbestehende Ausreisepflicht voraussetzt und damit eine vollstreckungsrechtliche Funktion hat, kann das Tatbestandsmerkmal des § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG wegen dieser Funktionsverschiedenheit zwischen Duldung und Aufenthaltserlaubnis nicht ohne weiteres übertragen werden. Dies erscheint wegen der üblicherweise kurzen, im Gegensatz zu Aufenthaltserlaubniszeiten nicht auf Dauer angelegten Duldungszeiten auch systemgerecht.

Aber selbst wenn die Vorschrift des § 102 Abs. 2 AufenthG unter Bezugnahme aus § 26 Abs. 4 AufenthG so zu verstehen sein sollte, dass auch die Duldungszeiten lückenlos sein müssen, ist davon auszugehen, dass die Duldungszeiten des Klägers ausreichen, auch wenn der Kläger mehrmals erst verspätet die Duldung beantragt und erhalten hat. Der Beklagte hat ihn auch während der Zeit, in der er formal keine Duldung besaß, als faktisch geduldet angesehen und ihm auf seine Verlängerungsanträge hin immer – auch bei verspäteter Antragstellung – auch eine Verlängerung erteilt. Dass diese erst ab dem Erteilungszeitpunkt drei Monate betrug, steht der Annahme der lückenlosen Verlängerung nicht entgegen, denn eine Duldung kann auch für bis zu sechs Monate erteilt werden.

Die Entscheidung des Beklagten über die Erteilung der Niederlassungserlaubnis gem. § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG steht grundsätzlich in seinem Ermessen. Der damit grundsätzlich bestehende Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung hat sich im vorliegenden Fall bereits zu einem Erteilungsanspruch verdichtet. Zwar kann der Beklagte im Rahmen des Ermessens angesichts des weiten Verständnisses der Anrechnungsvorschrift des § 102 Abs. 2 AufenthG grundsätzlich noch berücksichtigen, welche Gründe zu den Duldungszeiten des Ausländers geführt haben. Diese Korrekturmöglichkeit kann sich u.a. auf die Fälle der Identitätsverschleierung, der fehlenden Mitwirkung oder des aktiven Widerstands beziehen, die dazu geführt haben, dass sich der Ausländer der Abschiebung entzogen bzw. sie verzögert hat (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, Kommentar, 52. Aktualisierung, Heidelberg Mai 2007, § 102 AufenthG, Rdnr. 15).

Hier sind aber keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Kläger die Duldungsgründe zu vertreten hat. Abgesehen von der fortwährenden Duldung während des Asylfolgeverfahrens wurde der Kläger im Anschluss geduldet, weil eine Abschiebung aus tatsächlichen Gründen nicht möglich war; für Ashkali bestand ein Abschiebestopp. Der Beklagte hat auch in seinem Schreiben an die Gemeinde Hopsten selbst angegeben, der Kläger habe den Grund für die Duldungserteilung nicht selbst zu vertreten. Unter diesen Umständen und unter Berücksichtigung der gesetzlichen Wertung des § 102 Abs. 2 AufenthG, dass Ausländern, die die Anrechnungszeiten erfüllen, ein verfestigtes Aufenthaltsrecht in Deutschland gewährt werden soll und öffentliche Interessen an einer Begrenzung der Einwanderung dann nicht entgegenstehen, verbleibt dem Beklagten kein Ermessensspielraum mehr; er muss dem Kläger die begehrte Niederlassungserlaubnis erteilen.