VG Münster

Merkliste
Zitieren als:
VG Münster, Urteil vom 16.10.2007 - 5 K 1009/06 - asyl.net: M11854
https://www.asyl.net/rsdb/M11854
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Aufenthaltserlaubnis, abgelehnte Asylbewerber, Bleiberechtsregelung 2006, Altfallregelung, Aufenthaltsdauer, alleinstehende Personen, Gleichheitsgrundsatz, Ausreisehindernis, freiwillige Ausreise, Verhältnismäßigkeit, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK, Privatleben, Integration, Passlosigkeit, Passbeschaffung, Mitwirkungspflichten, Vertretenmüssen, Verschulden, Erwerbstätigkeit, Duldung
Normen: AufenthG § 23 Abs. 1; AufenthG § 104a Abs. 1; GG Art. 3 Abs. 1; AufenthG § 25 Abs. 4; AufenthG § 25 Abs. 5; EMRK Art. 8; BeschVerfV § 10; BeschVerfV § 11
Auszüge:

Die Klage hat mit beiden Klagebegehren keinen Erfolg.

Der Beklagte ist nicht verpflichtet, der Klägerin eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.

Der Beklagte ist auch nicht gemäß § 104 Abs. 1 Satz 1 AufenthG verpflichtet, der Klägerin eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, denn sie erfüllt nicht die Voraussetzungen des ersten Halbsatzes dieser Vorschrift.

Das Gericht teilt nicht die Ansicht der Klägerin, dass die in § 104 a Abs. 1 AufenthG geregelte Unterscheidung zwischen einem achtjährigen Aufenthalt bei alleinstehenden Ausländerinnen und Ausländern und einem sechsjährigen Aufenthalt bei Familien willkürlich sei und deshalb gegen Artikel 3 Abs. 1 GG verstoße. Dem Gesetzgeber kommt in diesem Zusammenhang ein weiter Ermessensspielraum zu. Er kann seine Entscheidung aus jedem sachlich vertretbaren Grund treffen. Die von ihm für richtig befundene Unterscheidung zwischen alleinstehenden Ausländerinnen und Ausländern einerseits und Familien mit minderjährigen Kindern andererseits ist schon durch den in Art. 6 GG gewährleisteten Schutz von Ehe und Familie sachlich gerechtfertigt.

Der Beklagte ist auch nicht gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG verpflichtet, der Klägerin eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.

Die Ausreise der Klägerin ist nicht aus rechtlichen Gründen unmöglich. Unter dem Begriff der Ausreise im Sinne dieser Vorschrift ist sowohl die zwangsweise Abschiebung als auch die freiwillige Ausreise zu verstehen. Nur wenn sowohl die Abschiebung als auch die freiwillige Ausreise unmöglich sind, kommt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG in Betracht (BVerwG, Urteil vom 27. Juni 2006 - 1 C 14.05 -, a.a.O.).

Inlandsbezogene Abschiebungshindernisse liegen bei der Klägerin nicht vor. Sie ergeben sich nicht aus Verfassungsrecht.

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in Artikel 20 Abs. 3 GG wird nicht verletzt, wenn die Klägerin keine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG erhält. Dieser Grundsatz besagt, dass jede staatliche Entscheidung geeignet, erforderlich und angemessen sein muss, um das mit dieser Entscheidung angestrebte Ziel zu erreichen. Dies trifft im Falle der Klägerin zu.

Die Ablehnung der Aufenthaltserlaubnis zielt bei der Klägerin darauf ab, ihren Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland zu beenden. Es besteht ein gewichtiges öffentliches Interesse daran, dass die Klägerin ausreist. Sie ist im August 1999 zu dem Zweck in die Bundesrepublik Deutschland eingereist, klären zu lassen, ob sie Asyl erhält. Mit dem erfolglosen Abschluss des Asylverfahrens hat sich dieser Zweck des Aufenthaltes erledigt, so dass im Anschluss daran ihre Ausreise erfolgen muss. Darüber hinaus besteht ein öffentliches Interesse daran, dass die Bundesrepublik Deutschland bzw. die mit asyl- bzw. ausländerrechtlichen Angelegenheiten befassten staatlichen Stellen dem Eindruck entgegenwirken müssen, ein Asylantrag könne auch dann zu einem Daueraufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland führen, wenn er keinen Erfolg hat. Dieser Gesichtspunkt dient ebenfalls im öffentlichen Interesse dazu, den Missbrauch des Grundrechts auf Asyl zu verhindern. Hinzu kommt, dass das vorgenannte öffentliche Interesse darauf beruht, die Folgekosten für das soziale Sicherungssystem der Bundesrepublik Deutschland zu begrenzen, die sich aus dem Aufenthalt von Asylbewerbern und ihren Familienangehörigen nach dem erfolglosen Abschluss des Asylverfahrens ergeben können. Dieser Gesichtspunkt gilt auch im Falle der Klägerin, denn sie hat während ihres Aufenthaltes fortlaufend Sozialleistungen nach den Vorschriften des Asylbewerberleistungsgesetzes erhalten.

Die Entscheidung, der Klägerin keine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, ist geeignet, die vorgenannten öffentlichen Interessen zu wahren. Diese Entscheidung ist auch erforderlich, um den Zweck der Ausreise zu erreichen, denn eine weniger einschneidende Maßnahme steht dem Beklagten nicht zur Verfügung. Die Ablehnung der Aufenthaltserlaubnis ist auch angemessen, weil die Nachteile der Klägerin, die mit ihrer Ausreise verbunden sind, in keinem Missverhältnis zu den vorgenannten gewichtigen öffentlichen Interessen stehen. Dies ergibt sich daraus, dass die Entscheidung des Beklagten, die Aufenthaltserlaubnis abzulehnen, nicht gegen Artikel 8 EMRK verstößt.

Ein Eingriff in das Privatleben durch Ablehnung der Aufenthaltserlaubnis liegt nicht schon dann vor, wenn sich der Ausländer über einen längeren Zeitraum in der Bundesrepublik Deutschland aufhält. Vielmehr muss er über starke persönliche soziale Bindungen im Aufenthaltsstaat verfügen. Eine den Schutz des Privatlebens auslösende Verbindung mit der Bundesrepublik Deutschland als Aufenthaltsstaat kann nur für solche Ausländer in Betracht kommen, die auf Grund eines Hineinwachsens in die hiesigen Verhältnisse bei gleichzeitiger Entfremdung von ihrem Heimatland so eng mit der Bundesrepublik Deutschland verbunden sind, dass sie gleichsam deutschen Staatsangehörigen gleichzustellen sind. Dies bedeutet, dass ein Eingriff in das Privatleben grundsätzlich nur dann vorliegt, wenn dieses Privatleben in dem Aufenthaltsstaat fest verankert ist und sich nicht lediglich auf eine lose Verbindung beschränkt (OVG NRW, Beschluss vom 7. Februar 2006 - 18 E 1534/05 -, NVwZ-RR 2006, 579 unter Hinweis auf BVerwG, Urteil vom 29. September 1998 - 1 C 8.96 -, NVwZ 1999, 303, 304 sowie Beschluss vom 14. August 2007 - 18 E 686/07 - und EGMRK, Urteil vom 16. Juni 2005 - 60654/00 (Sisojeva I), InfAuslR 2005, 349; vgl. dazu auch EGMR Urteil vom 15. Januar 2007 60654/00 (Sisojeva II), InfAuslR 2007, 140; weitere Nachweise zur Rechtsprechung des EGMR bei Bergmann, Aufenthaltserlaubnis auf Grund von "Verwurzelung", ZAR 2007, 128 und bei Thym, Humanitäres Bleiberecht zum Schutz des Privatlebens?, InfAuslR 2007, 133).

Hieran anknüpfend hat eine faktische Integration der Klägerin während ihres Aufenthaltes in der Bundesrepublik Deutschland nicht schon deshalb stattgefunden, weil sie sich hier schon seit August 1999 aufhält. Für ihre persönliche Integration durch ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache in Wort und Schrift hat die Klägerin nichts vorgetragen. Dies gilt gleichermaßen für die soziale Integration in die gesellschaftlichen Verhältnisse der Bundesrepublik Deutschland. Erst recht hat sich die Klägerin nicht wirtschaftlich integriert.

Allerdings ist die Ausreise der Klägerin tatsächlich unmöglich, weil sie zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht im Besitz von Identitätspapieren und eines Passes ist. Die Regelung in § 25 Abs. 5 Sätze 3 und 4 AufenthG schließt es allerdings aus, ihr eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.

Eine Aufenthaltserlaubnis darf gemäß § 25 Abs. 5 Satz 3 AufenthG nur erteilt werden, wenn der Ausländer unverschuldet an der Ausreise gehindert ist. Ein Verschulden des Ausländers liegt gemäß § 25 Abs. 5 Satz 4 AufenthG insbesondere vor, wenn er zumutbare Anforderungen zur Beseitigung der Ausreisehindernisse nicht erfüllt. Dies trifft bei der Klägerin zu. Ein ausreisepflichtiger Ausländer muss in diesem Zusammenhang ohne besondere Aufforderung durch die Ausländerbehörde alle erforderlichen Maßnahmen einleiten, um seiner Ausreisepflicht nachkommen zu können. Dazu gehört insbesondere, dass der Ausländer sich einen gültigen Pass beschafft.

Auf dieser Grundlage muss ein Ausländer an allen Handlungen mitwirken, die das Ausländeramt von ihm verlangt, um in den Besitz eines Passes oder Passersatzpapieres zu kommen. Der Ausländer darf insbesondere nicht untätig bleiben und nur darauf warten, welche (weiteren) Handlungen das Ausländeramt von ihm verlangt. Vielmehr muss er während der gesamten Dauer seiner Verpflichtung zur Ausreise eigenständig die Initiative ergreifen, um alle Möglichkeiten auszuschöpfen, das bestehende Ausreisehindernis der Passlosigkeit zu beseitigen (OVG NRW, Beschluss vom 14. März 2006 - 18 E 924/04 -, Informationsbrief Ausländerrecht 2006, 322 = NWVBl. 2006, 260 sowie Bay. VGH, Urteil vom 23. März 2006 - 24 B 05.2889 -, Asylmagazin 2006, Heft 6, S. 29 und Beschluss vom 19. Dezember 2005 - 24 C 05.2856 -, Bay. VBl. 2006, S. 436).

Diesen Anforderungen genügt das Verhalten der Klägerin nicht. Sie hat seit dem bestandskräftigen Abschluss ihres Asylverfahrens im Jahre 2002 keine ihr zumutbaren ständigen eigenen Anstrengungen unternommen, um in den Besitz von Identitätspapieren, insbesondere eines Nationalpasses zu kommen.

Es reichte dagegen nicht aus, den Aufforderungen des Beklagten nachzukommen, sich Mitarbeitern der Botschaften der Länder Aserbaidschan, Armenien und der Russischen Föderation zu stellen. Vielmehr war die Klägerin auf der Grundlage der vorgenannten gesetzlichen Bestimmungen verpflichtet, von sich aus spätestens nach dem bestandskräftigen Abschluss des Asylverfahrens alle Anstrengungen zu unternehmen, um in den Besitz von Identitätspapieren, insbesondere eines Nationalpasses ihres Heimatlandes Aserbaidschan zu gelangen. Dies ist hier nicht geschehen.

Der weitere Hilfsantrag auf Erteilung einer Erlaubnis zur Ausübung einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit ist unbegründet.

Geduldeten Ausländern darf allerdings gemäß § 11 Satz 1 der Beschäftigungsverfahrensverordnung die Ausübung einer Beschäftigung nicht erlaubt werden, wenn bei diesen Ausländern aus von ihnen zu vertretenden Gründen aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können.

Zur näheren Bestimmung des Vertretenmüssens im Sinne des § 11 Satz 1 der Beschäftigungsverfahrensverordnung können die Maßstäbe des § 25 Abs. 5 Satz 4 AufenthG zum Ausschluss der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen übernommen werden, was die Nichterfüllung zumutbarer Anforderungen zur Beseitigung von Ausreisehindernissen betrifft (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 18. Januar 2006 - 18 B 1772/05 a.a.O.).

Außerdem ist in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen, dass der Begriff des vertreten müssens im Sinne des § 11 Satz 1 der Beschäftigungsverfahrensverordnung zu Lasten des lediglich geduldeten Ausländer eng auszulegen ist, weil es sich um eine Ausnahmeregelung handelt.

Hieran anknüpfend ist über die Zumutbarkeit der einem Ausländer obliegenden Handlungen bei der Beschaffung von Identifikations- und Heimreisepapieren unter Berücksichtigung aller Umstände und Besonderheiten des Einzelfalles zu entscheiden. Dabei kann auch den individuellen intellektuellen Fähigkeiten des Ausländers Rechnung getragen werden (BVerwG, Beschluss vom 15. Juni 2006 - 1 B 54.06 -, Buchholz, Sammel- und Nachschlagewerk der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, Gliederungsnr. 402.242, § 25 AufenthG Nr. 4 und OVG NRW, Beschluss vom 5. Juni 2007 - 18 E 413/07 -).

Diesen Anforderungen genügt das Verhalten der Klägerin nicht. Insoweit wird Bezug genommen auf die vorstehenden Ausführungen zu § 25 Abs. 5 Sätze 3 und 4 AufenthG.