VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Urteil vom 22.10.2007 - 6 K 1309/06.A - asyl.net: M11851
https://www.asyl.net/rsdb/M11851
Leitsatz:

Asyl- und Flüchtlingsanerkennung für türkischen Staatsangehörigen, der Mitglied im "Volksausschuss" eines Flüchtlinlgslagers im Irak war

Schlagwörter: Türkei, Kurden, Irak (A), Flüchtlingslager, Volksversammlung, Volksausschuss, Mitglieder, Veteranenverein, PKK, Verdacht der Unterstützung, Überwachung im Aufnahmeland, Menschenrechtslage, Folter, interne Fluchtalternative, Terrorismusvorbehalt, Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen, schweres nichtpolitisches Verbrechen
Normen: GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; AsylVfG § 3 Abs. 2 S. 1 Nr. 3; AsylVfG § 2 Abs. 2 S. 1 Nr. 2; AufenthG § 60 Abs. 8
Auszüge:

Asyl- und Flüchtlingsanerkennung für türkischen Staatsangehörigen, der Mitglied im "Volksausschuss" eines Flüchtlinlgslagers im Irak war

(Leitsatz der Redaktion)

Die zulässige Klage ist begründet.

Der Kläger hat nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung sowohl Anspruch auf die Anerkennung als Asylberechtigter als auch Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 60 Abs. 1 Sätze 1 und 2 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) i.V.m. der Richtlinie 2004/83/EG über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (RL 2004/83), vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.

Das Gericht geht davon aus, dass dem Kläger im Falle einer ? freiwilligen oder zwangsweisen ? Ausreise dem Schutzbereich dieser Norm unterfallende Rechtsgutverletzungen sogar mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Der Kläger hat die Türkei im Jahre 1992 vorverfolgt verlassen. Im Zeitpunkt seiner Flucht 1992 war er bereits Opfer von staatlichen Übergriffen geworden und ihm drohten damals in unmittelbarer Zukunft und mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit weitere individuelle asylrelevante Verfolgungsmaßnahmen. Solche drohen ihm aufgrund der zwischenzeitliche entfalteten Aktivitäten in dem Lager N. auch noch aktuell mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit.

Das Gericht geht von folgendem Sachverhalt aus:

Der Kläger, der nachgewiesenermaßen auf dem Luftweg in das Bundesgebiet gelangt ist, hat sich seit Mitte der 1990er Jahren in dem irakischen Flüchtlingslager N. aufgehalten. Dort war er ab Dezember 2004 gewählter Vertreter in der sog. Volksversammlung und Mitglied im Volksausschuss. In diesen Eigenschaften hat er auch politische Erwachsenenbildung betrieben. Außerdem war er als Gründungsmitglied in zwei PKK/Kadek-nahen Versehrten- und Kriegsveteranenvereinen tätig. Im Februar 2006 hat er ? wiederum in Zusammenhang mit seinen politischen Ämtern ? gemeinsam mit anderen einen Hungerstreik wegen der Haft Öcalans organisiert. Bei dieser Gelegenheit ist er unter seinem Codenamen als Redner aufgetreten. Diese Aktion war Gegenstand der medialen Berichterstattung.

Die öffentlichen Aktivitäten der Verwaltung und der Volksversammlung werden im Lager von den türkischen Sicherheitskräften beobachtet. Es sei ? so der Gutachter ? undenkbar, dass die türkischen Nachrichtendienste dort nicht über Spitzel verfügten. Auch über die Presse könnte der türkische Staat an Informationen gelangen. Die Identität des Kläger sei sicher bei den türkischen Sicherheitsbehörden bekannt.

Bei Zugrundelegung dieser Sachlage ist der Kläger in den konkreten und individualisierten Verdacht der Unterstützung des verbotenen prokurdischen Widerstandes geraten. Er läuft deshalb Gefahr, im Rahmen der Strafrechtspflege oder von Polizeimaßnahmen asylerheblich betroffen zu werden. Nach der Auskunftslage ist es nämlich weiter gesicherte Erkenntnis, dass aus politischen Gründen in Haft genommene Personen im türkischen Polizeigewahrsam in stärkerem Maße als etwa gewöhnliche Straftäter mit erheblichen körperlichen Misshandlungen, bis hin zur Folter, rechnen müssen. Die den politischen Häftlingen und somit auch dem Kläger drohenden Misshandlungen im Polizeigewahrsam sind dem türkischen Staat auch zurechenbar; ein energisches Vorgehen des türkischen Staates gegen die immer noch nicht vollständig eingestellte Folterpraxis ist bislang nicht festzustellen (vgl. Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW), Urteil vom 27. März 2007 - 8 A 5728/05.A -, rech. in juris., die Leitsätze auch: DVBl. 2007, 782).

Die dem Kläger im Zusammenhang mit einer Festnahme beachtlich wahrscheinlich drohende Folter ist auch als eine gezielte und ihrer Intensität nach asylerhebliche Rechtsgutverletzung zu qualifizieren, da sie an die von den türkischen Behörden vermutete politische Meinung des Klägers anknüpfen würde.

Die Feststellung, dass der Kläger als politisch Verfolgter anzusehen ist, kann nicht mit Blick auf den Gesichtspunkt der inländischen Fluchtalternative in Zweifel gezogen werden. Das Bestehen einer inländischen Fluchtalternative ist regelmäßig nur bei einer Drittverfolgung in Betracht zu ziehen, während es bei unmittelbarer staatlicher Verfolgung eher die Ausnahme darstellt. Droht dem Asylsuchenden ? wie hier ? unmittelbare staatliche Verfolgung, so ist das Bestehen einer inländischen Fluchtalternative nur zu prüfen, wenn es konkrete Anhaltspunkte dafür gibt, dass der Verfolgerstaat "mehrgesichtig" ist, er also Personen, die er in einem Landesteil selbst aktiv verfolgt, in einem anderen Landesteil unbehelligt lässt.

Dem Kläger ist nach alledem Asyl zu gewähren und die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Dem steht auch nicht einer der Ausschlussgründe des § 60 Abs. 8 Satz 2 AufenthG i. V. m. § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bis 3 AsylVfG entgegen.

Das Vorliegen der Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AsylVfG scheidet offensichtlich aus. Nichts anderes gilt für die tatbestandlichen Vorgaben des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 AsylVfG. Die in der Präambel und in Art. 1 und 2 der UN Charta definierten Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen enthalten eine Aufzählung von fundamentalen Grundsätzen, von denen sich die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen im Verhältnis zueinander und im Verhältnis zur Völkergemeinschaft insgesamt leiten lassen sollten. Auf eine Einzelperson finden diese Bestimmungen allenfalls dann Anwendung, wenn sie in einem Staat eine Machtposition innehaben oder Einfluss ausüben und maßgeblich für Verstöße dieses Staates gegen die Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen verantwortlich zu machen sind. Auch der ? restriktiv auszulegende ?, vgl. OVG NRW, a.a.O., Ausschlussgrund des § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylVfG (schweres nichtpolitisches Verbrechen) liegt nicht vor. Bei einer, von der Beklagten dem Kläger vorgeworfenen Mitgliedschaft in einer Gewalt befürwortenden oder anwendenden Organisation müssen nämlich zusätzlich zur bloßen Mitgliedschaft schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass gerade der betroffene Asylsuchende eine unmittelbare Verantwortung für die Tat hat oder an der von anderen begangenen Tat selbst aktiv beteiligt war. Auch nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum früheren sog. Terrorismusvorbehalt (vgl. BVerwG, Urteil vom 30. März 1999 - 9 C 31/98 -, BVerwGE 109, 1ff.) lagen schwerwiegende Gründe regelmäßig nicht schon dann vor, wenn der Betroffene sich für die Organisation etwa durch die Teilnahme an deren Aktivitäten oder durch finanzielle Zuwendungen einsetzt. Allerdings reichte es im Allgemeinen aus, wenn der Asylsuchende eine die Sicherheit des Staates gefährdende Organisation in qualifizierter Weise, insbesondere durch eigene Gewaltbeiträge oder als Funktionär unterstützt hat. Der Kläger hat sich an terroristischen Straftaten weder unmittelbar noch mittelbar beteiligt. Dies behauptet auch die Beklagte nicht. Der Kläger hat einer terroristischen Vereinigung aber auch nicht als einfaches Mitglied oder gar als Funktionär angehört. Er hat im Gegenteil immer betont, dass er mit der PKK selbst nichts zu tun gehabt habe. Auch der Gutachter hat mit keinem Wort der Einschätzung Ausdruck gegeben, der Kläger sei Mitglied oder Funktionär der PKK gewesen. Angesichts dessen kann von einer "unstrittigen" PKK-Mitgliedschaft ? wie die Beklagte anführt ? nicht gesprochen werden. Weder der Umstand, dass der Kläger Sympathien für den kurdischen Widerstand empfunden hat noch der Umstand, dass er zum Mitglied der Volksversammlung im Lager N. gewählt wurde und als solches in Rahmen der Verwaltung des Lagers politische Aktivitäten entfaltet hat, ist für sich allein geeignet, die Annahme einer (qualifizierten) PKK-Mitgliedschaft zu stützen. Für einen von der Beklagten offenbar angenommenen Automatismus derart, dass aus der bloßen Mitgliedschaft in der Volksversammlung des Klägers der Schluss auf die Angehörigkeit zum Führungskader der PKK gezogen werden könnte, geben weder die Erkenntnisse der Kammer noch das Beweisergebnis im konkreten Fall irgend etwas her. Tatsächlich drängt sich dem Gericht nicht einmal der Eindruck auf, dass die türkischen Sicherheitskräfte einen derart weitgehenden Verdacht hegen. Dass der Kläger bei seinen Aktivitäten für die Volksversammlung unter einem Codenamen tätig wurde, entsprach offenkundig den örtlichen Gepflogenheiten und belegt ohne das Hinzutreten weiterer Anhaltspunkte nicht zwingend ein konspiratives Handeln im Auftrag oder eine Mitgliedschaft in der PKK.