VG Saarland

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Zitieren als:
VG Saarland, Urteil vom 09.10.2007 - 2 K 307/07 - asyl.net: M11846
https://www.asyl.net/rsdb/M11846
Leitsatz:

Im Irak besteht keine extreme allgemeine Gefahrenlage i.S.d. verfassungskonformen Anwendung des § 60 Abs. 7 AufenthG; kein subsidiärer Schutz nach Art. 15 Bst. c der Qualifikationsrichtlinie wegen allgemeiner Gefahren

 

Schlagwörter: Irak, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Sicherheitslage, Schiiten, Kriminalität, Terrorismus, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Anerkennungsrichtlinie, ernsthafter Schaden, willkürliche Gewalt, bewaffneter Konflikt
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7; RL 2004/83/EG Art. 15 Bst. c
Auszüge:

Im Irak besteht keine extreme allgemeine Gefahrenlage i.S.d. verfassungskonformen Anwendung des § 60 Abs. 7 AufenthG; kein subsidiärer Schutz nach Art. 15 Bst. c der Qualifikationsrichtlinie wegen allgemeiner Gefahren

(Leitsatz der Redaktion)

 

Insbesondere kann nicht festgestellt werden, dass einer Abschiebung des Klägers ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG entgegensteht.

Die nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erforderliche konkret-individuelle Gefährdung des Klägers im Falle seiner Rückkehr in den Irak ist für die Kammer nicht feststellbar.

Aus seiner Zugehörigkeit zu der ethnisch-religiösen Gruppe der Schiiten, die ausweislich des Lageberichts vom 11.01.2007 60 bis 65 % der Bevölkerung ausmachen, kann der Kläger schon deshalb keine individuelle Gefährdung herleiten, weil er insoweit als Mitglied einer Bevölkerungsgruppe i. S. v. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG betroffen und damit Gefahren ausgesetzt ist, die der schiitischen Bevölkerungsgruppe insbesondere durch Übergriffe seitens der Sunniten, die ihrerseits 17 bis 22 % der Bevölkerung ausmachen, drohen.

Mangels individueller Gefährdung kann der Kläger subsidiären Schutz auch nicht aus Artikel 15 der Qualifikationsrichtlinie herleiten.

Nach Auffassung des VGH Baden-Württemberg - Beschluss vom 08.08.2007- A 2 S 229/07 - juris - entspricht die Regelung über die Gewährung eines subsidiären Schutzstatus nach Artikel 15 Buchstabe c der Richtlinie damit im Kern der bisherigen Rechtslage nach § 60 Abs. 7 AufenthG, soweit es darum geht, eine individuelle Gefahrenlage für den betreffenden Ausländer von allgemeinen Gefahren, denen die Bevölkerung mehr oder weniger gleichartig ausgesetzt ist, abzugrenzen. Ebenso hat das Bundesverwaltungsgericht mit Beschluss vom 15.05.2007 -1 B 217106 - juris, ausgeführt, dass die Richtlinie grundsätzlich keine allgemeine Bedrohung genügen lasse, sondern eine individuelle Bedrohung voraussetze und insoweit ebenfalls auf den Erwägungsgrund Nr. 26 vor Artikel 1 der Richtlinie abgehoben.

Die Kammer teilt diese, sich aufgrund des Wortlauts der Richtlinie aufdrängende Auslegung mit der Folge, dass sich der Kläger mangels individueller Gefährdung auf Artikel 15 Buchstabe c der Richtlinie nicht berufen kann.

Eine extreme Gefahrenlage im Irak dergestalt, dass es dem einzelnen Ausländer mit Blick auf den verfassungsrechtlich unabdingbar gebotenen Schutz insbesondere des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit nicht zuzumuten ist, in seinen Heimatstaat abgeschoben zu werden und deshalb unbeschadet der sonst geltenden Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG von einem zwingenden Abschiebungshindernis nach Satz 1 auszugehen ist, hat die Beklagte in ihrem Bescheid zu Recht verneint.

Die Kammer hat zur Frage einer Extremgefahr zuletzt u.a. mit Urteil vom 26.01.2007 - 2 K 207/06.A - ausgeführt:

„Zwar ist die allgemeine Kriminalität im Irak nach dem Sturz des früheren Regimes Saddam Husseins stark angestiegen und mancherorts weiterhin außer Kontrolle. Zudem sind täglich etwa 100 terroristische Anschläge zu verzeichnen und setzen sich offene Kampfhandlungen zwischen militanter Opposition einerseits sowie regulären Sicherheitskräften und Koalitionsstreitkräften andererseits weiterhin fort, die auch zahlreiche Opfer unter der Zivilbevölkerung fordern. Indes ist nicht zu verkennen, dass sich die Terrorakte vor allem gegen Personen richten, die mit dem politischen und wirtschaftlichen Wiederaufbau des Landes assoziiert werden. Hauptanschlagsziel der Terroristen sind nach wie vor die Soldaten der Koalitionsstreitkräfte, die irakischen Sicherheitskräfte sowie Politiker, Offiziere und Ausländer. Überdies ist die Sicherheitslage im Nordirak im Allgemeinen besser als in Bagdad oder in den Hochburgen der Aufständischen wie Falludscha, Ramadi, Samarra oder Baquba in Zentralirak.

Auch wenn danach von den unvermindert anhaltenden Anschlägen im Irak eine nicht zu unterschätzende Gefährdung für die dort lebenden Menschen ausgehen mag, rechtfertigt doch die Anzahl der durch Terrorakte sowie andauernde Kampfhandlungen zu beklagenden zivilen Opfer, die von Nichtregierungsorganisationen auf über 30.000 - einige gehen von 100.000 aus - geschätzt werden (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 29.06.2006 a.a.O., ferner ai an VG Köln, Gutachten vom 29.06.2005 a.a.O., wonach die Zahlen der zivilen Opfer von Iraq Body Count am 25.04.2005 zwischen 21.239 und 24.106 geschätzt wurden) in Relation zu der ca. 27 Millionen betragenden Bevölkerungszahl des Irak (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 29.06.2006 a.a.O.) offensichtlich nicht die Annahme, jeder Iraker werde im Falle seiner Rückkehr unmittelbar und landesweit Gefahr laufen, Opfer entsprechender terroristischer Anschläge zu werden (ebenso auch OVG des Saarlandes, Urteil vom 29.09.2006 a. a. O.).“

Das Oberverwaltungsgericht Saarlouis hat - seine Grundsatzentscheidung vom 29.09.2006 - 3 R 6/06 - fortschreibend - mit Beschluss vom 12.02.2007 - 3 Q 89/06 - die sogenannte Lancet-Studie, die im Wege einer stichprobenförmigen Umfrage in 1.849 irakischen Haushalten und einer Hochrechnung der Ergebnisse zu einer Opferzahl von fast 655.000 Personen kommt, wegen zu schmaler Tatsachengrundlage verworfen (vgl. zu der Lancet-Studie, Süddeutsche Zeitung vom 12.10.2006, Presseordner Irak).

Die Kammer hält zunächst in Übereinstimmung mit dem Oberverwaltungsgericht die Lancet-Studie im vorliegenden Zusammenhang für nicht aussagekräftig (vgl. zu Opferzahlen auch Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 11.01.2007, a.a.O. Seite 15, wo die Zahl 650.0000 lediglich referiert wird und zudem ausgeführt ist, dass Nichtregierungsorganisationen die Zahl der Opfer unter den Zivilisten auf über 40.000 schätzen).

Im Weiteren hält die Kammer an ihrem Anfang des Jahres 2007 vertretenen Standpunkt fest, zumal eine Auswertung der seither zugegangen Erkenntnismittel - insbesondere der Presse - eine veränderte Betrachtung nicht veranlasst.