VG München

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Zitieren als:
VG München, Urteil vom 10.07.2007 - M 4 K 06.50472 - asyl.net: M11751
https://www.asyl.net/rsdb/M11751
Leitsatz:
Schlagwörter: Irak, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, allgemeine Gefahr, Erlasslage, Abschiebungsstopp, Versorgungslage, Racheakte, Blutrache, Ehrenmord, Anerkennungsrichtlinie, ernsthafter Schaden, willkürliche Gewalt, Krankheit, medizinische Versorgung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7; RL 2004/83/EG Art. 15 Bst. c
Auszüge:

§ 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hindert die Abschiebung nicht, da diese Regelung von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG verdrängt wird (vgl. zum Verhältnis von § 53 Abs. 6 Satz 1 zu Satz 2 AuslG etwa BVerwG v. 17.10.1995, BVerwGE 99, 324 [327]; BVerwG v. 17.12.1996, NVwZ-RR 1997, 740; BVerwG v. 29.11.1997, NVwZ 1998, 524 = DVBl. 1998, 284; BayVGH v. 9.11.2004, Az.: 15 ZB 04.30650).

Das Bayerische Staatsministerium des Innern hat im Erlasswege bereits mit Rundschreiben vom 18. Dezember 2003 (Az.: Nr. IA22084.2013) zur "ausländerrechtlichen Behandlung irakischer Staatsangehöriger" und vom 30. April 2004 (Az.: Nr. IA2-2084.20-13) verfügt, dass irakische Staatsangehörige, nicht abgeschoben werden und eine (auf sechs Monate befristete) Duldung erhalten bzw. dass auslaufende Duldungen bis auf weiteres um sechs Monate zu verlängern sind. Diese Erlasslage gilt weiterhin (BayVGH v. 11.1.2007, Az. 13a ZB 06.30907; BayVGH v. 12.2.2007, Az. 23 b 06.31043). Das Gericht geht unter Zugrundelegung der ständigen Rechtsprechung des BayVGH (vgl. z. B. BayVGH v. 5.7.2004, Az.: 23 B 04.30174; BayVGH v. 9.9.2004, Az.: 15 ZB 04.30699; BayVGH v. 7.10.2004, Az.: 13a ZB 04.30844; BayVGH v. 14.10.2004, Az.: 13a ZB 04.30842; ebenso für die Erlasslage in Baden-Württemberg: VGH Mannheim v. 16.9.2004, Az.: A 2 S 471/02) weiterhin davon aus, dass diese Weisungen des Bayerischen Staatsministeriums des Innern jedenfalls den gleichen Schutz wie Anordnungen im Sinne von § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG gewähren, weil hierdurch eine Erlasslage geschaffen worden ist, die dem betroffenen Ausländer derzeit einen wirksamen Schutz vor Abschiebung vermittelt (so auch BayVGH v. 12.2.2007, Az. 23 B 06.31.043).

Folglich bedarf die Klägerin zu 1) keines zusätzlichen Schutzes vor der Durchführung der Abschiebung etwa in verfassungskonformer Auslegung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (vgl. BVerwG v. 12.7.2001, NVwZ 2001, 1420 = DVBl 2001, 1531 = lnfAuslR 2002, 48 zu § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG). Die Klägerin zu 1) ist deswegen auch nicht schutzlos gestellt, denn sollte der ihr infolge der genannten Rundschreiben zustehende Abschiebungsschutz nach Rechtskraft dieses Urteils entfallen und ihr eine Abschiebung in den Irak drohen, so könnte sie unter Berufung auf eine extreme Gefahrenlage jederzeit ein Wiederaufgreifen des Verfahrens vor dem Bundesamt verlangen (vgl. BVerwG v. 12.7.2001, NVwZ 2001, 1420 = DVBl 2001, 1531 = lnfAuslR 2002, 48).

Damit bleibt für eine Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG im Hinblick auf allgemeine Gefahren kein Raum mehr.

Solche allgemeinen Gefahren sind nach Ansicht des Gerichts unter Zugrundelegung der ins Verfahren eingeführten Erkenntnismittel und aufgrund der derzeitigen Situation im Irak die Gefahr, Opfer von terroristischen Anschlägen oder Übergriffen (wie z.B. Entführungen, Erpressungen etc.) zu werden, die Gefahren durch die desolate Versorgungslage sowie die Gefahr, Opfer der sog. "Blutrache" oder eines "Ehrenmordes" zu werden (ebenso unter Bestätigung von VG München v. 29.7.2004, Az.: M 27 K 03.52229; BayVGH v. 11.11.2004, Az.: 13a ZB 04.30845). Gleiches gilt für die häufig behauptete Gefahr, sonstigen Racheakten oder vergleichbaren Gewaltakten ausgesetzt zu sein. Nach den Feststellungen des Gerichts in vielen gleich oder ähnlich gelagerten Fällen tragen eine Vielzahl irakischer Staatsangehöriger vor, aufgrund früherer Vorfälle im Heimatland im Fall einer Rückkehr Racheakten ausgesetzt zu sein.

Auch aus der Qualifikationsrichtlinie kann die Klägerin zu 1) keinen Anspruch auf "subsidiären Schutz" herleiten.

Gemäß Art. 15 Buchst. c) der Richtlinie ist von der Abschiebung eines Ausländers in einen Staat abzusehen, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer ernsthaften individuellen Gefahr für Leib oder Leben infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts ausgesetzt ist. Für den Betroffenen muss also eine ernsthafte individuelle Bedrohung für Leib oder Leben gegeben sein, eine Verletzung der genannten Rechtsgüter muss gleichsam unausweichlich sein. Nach dem Erwägungsgrund Nr. 26 der Richtlinie stellen Gefahren, denen die Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe eines Landes allgemein ausgesetzt sind, für sich genommen normalerweise keine individuelle Bedrohung dar, die als ernsthafter Schaden im Sinne des Art. 15 der Richtlinie zu beurteilen wäre; solche Gefahren sind bei Entscheidungen nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen (vgl. auch die Hinweise des Bundesministeriums der Innern zur Anwendung der Richtlinie 2004/83/EG vom 13.10.2006). Mithin ergibt sich für die Klägerin zu 1) mangels konkreter individueller Bedrohung und im Hinblick auf die aus den eingeführten Erkenntnisquellen resultierende allgemeine Situation im Irak über den oben festgestellten Abschiebungsschutz aufgrund der geltenden Erlasslage im Sinne des § 60a AufenthG hinaus kein Anspruch auf Zuerkennung eines subsidiären Schutzstatus nach der Qualifikationsrichtlinie (vgl. BVerwG v. 15.5.2007, Az. 1 B 217.06; BayVGH v. 12.2.2007, Az. 23 B 06.31043).

c) Jedoch liegt im Fall der Klägerin zu 2) ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor. Insoweit ist der Hilfsantrag begründet.

Ein zwingendes Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG kommt auch in Betracht, wenn die konkrete Gefahr besteht, dass sich eine Krankheit des Ausländers in seinem Heimatstaat verschlimmert, weil die Behandlungsmöglichkeiten dort unzureichend sind (BVerwG v. 9.9.1997, InfAuslR 1998, 125; BVerwG v. 25.11.1997, NVwZ 1998, 524; BVerwG v. 18.3.1998, Az.: 9 C 36.97; BVerwG v. 27.04.1998, NVwZ 1998, 973; BVerwG v. 15.10.1999, Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 24).

§ 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG steht nicht entgegen. Zwar hält das Gericht weiterhin daran fest, dass die aus einer mangelhaften medizinischen Versorgung resultierende Verschlimmerung einer Krankheit, einschließlich von Krankheiten, die auf Traumatisierungen beruhen, generell unter § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG fällt (vgl. etwa BVerwG v. 27.4.1998, InfAuslR 1998, 409; Kloesel/Christ/Häußer, Deutsches Ausländerrecht, zu § 53 AuslG Rdnr. 31). Das ist dann der Fall, wenn eine größere Gruppe von Personen aus dem Abschiebezielstaat derselben Gefahr ausgesetzt ist und diese deshalb nur aufgrund einer - möglichst bundeseinheitlichen - politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 AufenthG berücksichtigt werden darf (BVerwG v. 17.10.1995, BVerwGE 99, 324 [327]; BVerwG v. 25.11.1997, BVerwGE 105, 383). Trotz bestehender erheblicher konkreter Gefahr ist die Anwendbarkeit des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG im Verfahren eines einzelnen Ausländers gesperrt, wenn dieselbe Gefahr zugleich einer Vielzahl weiterer Personen im Abschiebezielstaat droht (BVerwG v. 27.4.1998, NVwZ 1998, 973 = InfAuslR 1998, 409).

Aufgrund der besonderen, außergewöhnlichen Umstände des Einzelfalls, die sich aus den erwähnten medizinischen Unterlagen, aus der persönlichen Situation der Klägerin zu 2) sowie ihrer Mutter, der Klägerin zu 1), auf deren Beistand sie angewiesen ist, ergeben, gehört die Klägerin zu 2) jedoch keiner "Bevölkerungsgruppe" im Sinn des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG an, da die zu befürchtende Gesundheitsgefahr nur ihr individuell, nicht aber einer "Vielzahl" von Personen droht, mag auch die Krankheit als solche nicht "singulär" sein (vgl. BVerwG v. 25.11.1997, BVerwGE 105, 383). Sie gehört damit keiner Bevölkerungsgruppe an, über deren weiterem Verbleib im Bundesgebiet wegen der weitreichenden Folgewirkungen nur im Rahmen einer politischen Grundsatzentscheidung gemäß § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG nach dem Ermessen der Innenministerien des Bundes und der Länder zu befinden wäre (so BVerwG v. 17.10.1995, BVerwGE 99, 324).