VG Ansbach

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Zitieren als:
VG Ansbach, Urteil vom 08.08.2007 - AN 1 K 05.30468 - asyl.net: M11661
https://www.asyl.net/rsdb/M11661
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Terrorismusvorbehalt, nichtpolitisches Verbrechen, Strafurteil, Auslandsstraftaten, faires Verfahren, fair trial, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK, Folter, Unterzeichnerstaat, TKP-MKL, TIKKO, Wiederholungsgefahr, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Reformen, Menschenrechtslage, menschenrechtswidrige Behandlung, Krankheit, Wernicke-Korsakow-Syndrom, medizinische Versorgung, Strafhaft
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 8; GFK Art. 1 F; RL 2004/83/EG Art. 12 Abs. 2; AufenthG § 60 Abs. 2; AufenthG § 60 Abs. 5; EMRK Art. 3; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Die Zuerkennung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 1 AufenthG scheidet aus, da in der Person des Klägers die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 2, 2. Alt. AufenthG erfüllt sind.

Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 2, 2. Alt. AufenthG sind im Falle des Klägers durch die ihm mit Urteil des Staatssicherheitsgerichts Izmir vom 10. Dezember 1996 zur Last gelegte Straftat erfüllt.Wie sich aus demWortlaut des § 60 Abs. 8 Satz 2 AufenthG, dessen Vorläuferregelung des § 51 Abs. 3 Satz 2 AuslG durch Art. 22 Abs. 1 des Terrorismusbekämpfungsgesetzes mit Wirkung vom 1. Januar 2002 in Kraft getreten war, eindeutig ergibt, ist der Tatbestand der Norm bereits dann gegeben, wenn schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass der Ausländer die entsprechenden Taten begangen hat. Im Unterschied zu der bis zum 1. Januar 2002 geltenden Regelung bedarf es einer rechtskräftigen Verurteilung im Ausland mithin nicht mehr. Umgekehrt bedeutet dies aber auch, dass die tatsächlichen Feststellungen in einem ausländischen Strafurteil die deutschen Verwaltungsbehörden und Gerichte für eine Prüfung, ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 2 AufenthG erfüllt sind, nicht binden, mögen sie auch ein mehr oder weniger starkes Indiz dafür sein, dass sich der Ausländer tatsächlich so verhalten hat, wie ihm im Urteil zur Last gelegt wird.

Vorliegend beruft sich der Kläger darauf, dass die Verurteilung durch das Staatssicherheitsgericht ... auf seinem durch Folter erzwungenem Geständnis beruhe und das Urteil gegen grundlegende Bestimmungen der EMRK (Garantie eines fairen Verfahrens) verstoße. Nach dem gesamten Inhalt des Verwaltungsvorgangs und der Gerichtsakte, insbesondere unter Berücksichtigung des Urteils des Staatssicherheitsgerichts ... vom 10. Dezember 1996, ist das erkennende Gericht davon überzeugt, dass schwerwiegende Gründe für die Annahme vorliegen, dass der Kläger ein schweres nichtpolitisches Verbrechen in der Türkei begangen hat.

Mag aufgrund der langjährigen Erkenntnisse des Gerichts in Verfahren türkischer Asylbewerber und der Auswertung der einschlägigen Erkenntnisse einiges dafür sprechen, dass der Kläger während der Untersuchungshaft gefoltert worden ist und deshalb sich selbst belastet hat, so beruht das Urteil des Staatssicherheitsgerichts ... vom 10. Dezember allerdings nicht allein auf den Angaben des Klägers.

Vielmehr stützt das Staatssicherheitsgericht ... seine Feststellungen unter anderem auf die Geständnisse der Angeklagten vor der Polizei, der Staatsanwaltschaft und Untersuchungsrichter, die Festnahme der Verfolgten auf der Flucht unmittelbar nach dem Banküberfall, wobei die Tatwaffen, erbeutetes Geld und Dokumente sichergestellt wurden, die Aussagen eines Bankangestellten, diverse Zeugenaussagen, Sachverständigengutachten über die sichergestellten Waffen und aufgefundenen Patronenhülsen, die Identifizierung des Klägers und seiner Mittäter durch die Bankangestellten und den Taxifahrer, sowie auf Aussagen des verwundeten Gendarmen.

Das Gericht ist nicht verpflichtet und auch nicht in der Lage, dieses Strafurteil im Einzelnen auf mögliche Verstöße gegen die Europäische Menschenrechtskonvention zu überprüfen. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Türkei Vertragsstaat der EMRK ist und damit der Kläger mögliche Verstöße gegen die EMRK vor dem Europäischen Menschengerichtshof in Straßburg im Wege der Individualbeschwerde überprüfen lassen kann.

Schließlich handelt es sich vorliegend auch um eine "nichtpolitische" Straftat. Dem steht nicht entgegen, dass der Kläger möglicherweise aus politischen Beweggründen zu Gunsten der TKPMKL/TIKKO gehandelt hat. Unter Berücksichtigung des schon aus Art. 1 F GK herzuleitenden Sinn und Zweck des Ausschlusses vom Abschiebungsschutz nach Maßgabe des § 60 Abs. 8 Satz 2 AufenthG, den Ausländer der gerechten Bestrafung zuzuführen und einen Missbrauch des Asylrechts bzw. des Rechts auf Abschiebungsschutz zu verhindern, und vor dem Hintergrund des nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in New York gerade mit der Ergänzung des damaligen § 51 Abs. 3 AuslG durch das Terrorismusbekämpfungsgesetz verfolgten Ziels, in Umsetzung der Resolution des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen Ausländern, die aus schwerwiegenden Gründen schwerster Verbrechen verdächtigt sind, nicht mehr die Rechtsstellung nach der Genfer Konvention zuzuerkennen und so Deutschland als Ruheraum für international agierende terroristische Netzwerke weniger interessant zu machen, kommt es für die Entscheidung, ob das begangene Verbrechen eine politische oder nichtpolitische Straftat war, vielmehr maßgeblich auf die Art des Verbrechens an. Vorliegend hat das Gericht keine Zweifel, dass es sich bei der hier in Rede stehenden schweren Straftat um nichtpolitisches kriminelles Fehlverhalten des Klägers gehandelt hat (vgl. zum Ganzen: VG Köln, Urteil vom 18.5.2006, 20 K 9038/03.A).

Weitere einschränkende Voraussetzungen für den Ausschlusstatbestand des § 60 Abs. 8 Satz 2 AufenthG sind nicht gegeben. Insbesondere ist nicht die Prüfung erforderlich, ob von dem Kläger durch seinen Aufenthalt im Bundesgebiet konkret eine weitere Gefahr ausgeht. Dies hat das Gericht bereits mit Urteilen vom 6. März 2007 (AN 1 K 06.30018), 14. Dezember 2006 (AN 1 K 06.30883) und vom 6. Februar 2006 (AN 1 K 05.30351) entschieden. Hieran ist auch weiterhin festzuhalten.

Die Richtigkeit dieser Auslegung wird auch durch die Qualifikations- oder Anerkennungsrichtlinie 2004/83/EG (ABl. 2004 L Nr. 304, S. 12) bestätigt. Nach deren Art. 12 Abs. 2 Nr. b reicht es für den Ausschluss der Flüchtlingsanerkennung aus, dass ein Ausländer eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Aufnahmelandes begangen hat, bevor er als Flüchtling aufgenommen wurde.

Auch hiernach wird eindeutig (nur) an Handlungen in der Vergangenheit angeknüpft.

Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 AufenthG sind in der Person des Klägers nicht erfüllt.

Dem Bevollmächtigten des Klägers ist allerdings zuzugeben, dass es in der Türkei weiterhin zu Fällen von Folter kommt.

Die Türkei hat zwar nachdrückliche Anstrengungen unternommen, die Anwendung von Folter zu unterbinden. Dennoch kann nicht ohne Einschränkung davon ausgegangen werden, dass eine menschenrechtswidrige Behandlung durch türkische Sicherheitsorgane in der Praxis vollständig unterbleibt (vgl. OVG Lüneburg, Urteil vom 18.7.2006 - 11 LB 264/05; OVG NRW, Urteil vom 14.2.2006 - 15 A 2202/00.A; OVG NRW, Urteil vom 19.4.2005 - 8 A 273/04.A; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 29.11.2004 - 3 L 66/00; vgl. auch Serafettin Kaya vom 8.8.2005 an das VG Sigmaringen und vom 10.9.2005 an das VG Magdeburg, S. 8; Helmut Oberdiek vom 2.8.2005 an das VG Sigmaringen).

Die türkische Reformpolitik hat bislang nicht dazu geführt, dass asylrelevante staatliche Übergriffe in der Türkei nicht mehr vorkommen.

§ 60 Abs. 2 AufenthG setzt jedoch voraus, dass die Gefahr der Folter dem Kläger konkret, d.h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit droht. Selbst eine in einem Staat bestehende allgemeine Praxis, in bestimmten Situationen zu bestimmten Zwecken Foltermaßnahmen anzuwenden, ergibt noch keine individuelle Gefährdung für jeden dorthin abgeschobenen Staatsbürger, solange diese nicht zur "Tagesordnung" gehört (vgl. Renner, Ausländerrecht, 7. A., RdNr. 5 f. zu § 53 AuslG m.w.N.).

Im Falle des Klägers bestehen Besonderheiten, die es ausschließen, anzunehmen, der Kläger werde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der Folter unterworfen. Er wird nach seiner Festnahme unverzüglich der Restverbüßung seiner Freiheitsstrafe zugeführt und nicht längere Zeit im Gewahrsam der Polizei oder der Sicherheitsbehörden verbleiben. Foltervorwürfe im Zusammenhang mit richterlichen Vernehmungen einschließlich der entsprechenden Gefängnisaufenthalte sind in repräsentativer Art und Weise jedenfalls in jüngerer Zeit nicht mehr bekannt geworden.

Der Kläger kann sich auch nicht auf § 60 Abs. 5 AufenthG berufen.

Hierbei kann offen bleiben, ob sich der Kläger nach der zitierten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (Urteil vom 21.9.2005 T306/01) schon deshalb nicht auf die Europäische Menschenrechtskonvention berufen kann, da anderenfalls die in der Resolution Nr. 1269 des UN-Sicherheitsrates geforderte Auslieferung von Personen, die terroristische Handlungen begangen haben (Nr. 4 der genannten Resolution), in Frage gestellt würde.

Denn der Kläger muss sich jedenfalls darauf verweisen lassen, seine Rechte gegenüber möglichen Konventionsverletzungen in der Türkei und von der Türkei aus wahrzunehmen. Die Türkei ist Mitglied des Europarates und Unterzeichner der EMRK. Dem Kläger drohen nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit schwere und irreparable Nachteile, gegen die ein Rechtsschutz von der Türkei aus zu spät käme. Die Haftbedingungen in türkischen Gefängnissen geben – wie bereits dargelegt – keine Anhaltspunkte für menschenunwürdige Zustände. Sollten sie sich entgegen dieser Einschätzung als konventionswidrig erweisen, steht es dem Kläger frei, Rechtsschutz in der Türkei und beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Anspruch zu nehmen. Dem Kläger ist es in jedem Fall möglich, Individualbeschwerde zum EGMR zu erheben und dort um vorläufigen Rechtsschutz nachzusuchen. Die Türkei respektiert Entscheidungen des EGMR und seiner einstweiligen Anordnungen und setzt sie korrekt um (BVerwG, Urteil vom 7. Dezember 2004 - 1 C 14.04, BVerwGE 122, 271 ff., "Kaplan").

Nach dem Gesagten besteht für den Kläger im Falle der Abschiebung oder freiwilligen Rückkehr keine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit (§ 60 Abs. 7 AufenthG).

Dies gilt auch im Hinblick auf die durch die Teilnahme des Klägers am sog. "Todesfasten" verursachten gesundheitlichen Beeinträchtigungen (Wernicke-Korsakow-Syndrom).

Das erkennende Gericht geht mit dem Bundesamt, auf dessen Ausführungen im Bescheid vom 31. März 2005 gemäß § 77 Abs. 2 AsylVfG insoweit Bezug genommen wird, davon aus, dass dem Kläger bei einer Rückkehr in sein Heimatland wegen der nunmehr 6 Jahre zurückliegenden Teilnahme am Hungerstreik keine Verschlechterung des Gesundheitszustandes droht und eine hinreichende medizinische Betreuung des Klägers auch in der Türkei durchgeführt werden kann.

Dies gilt auch vor dem Hintergrund, dass der Kläger in der Türkei mit der Restverbüßung der gegen ihn verhängten Freiheitsstrafe zu rechnen hat. Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 11. Januar 2007, genügen, wie oben bereits dargelegt, die türkischen F-Typ-Gefängnisse mitteleuropäischen Standards und können in vielerlei Hinsicht als vorbildlich bezeichnet werden (Zellengröße, Hygiene, Betätigungsmöglichkeiten für Gefangene, ärztliche Betreuung).