VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 06.08.2007 - 13 S 876/07 - asyl.net: M11493
https://www.asyl.net/rsdb/M11493
Leitsatz:

Es ist ungeklärt, ob die Ausländerbehörde ausnahmsweise zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 7 AufenthG im Rahmen der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG prüfen muss, wenn die Feststellung des Abschiebungshindernisses im Asylverfahren allein unter Hinweis auf einen Abschiebungsstopp abgelehnt worden ist.

 

Schlagwörter: D (A), Aufenthaltserlaubnis, Erwerbstätigkeit, Zustimmung, Bundesagentur für Arbeit, Arbeitsgenehmigung, Übergangsregelung, Zuwanderungsgesetz, vorübergehender Aufenthalt, Irak, Iraker, Konventionsflüchtlinge, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, außergewöhnliche Härte, Verlängerung, Ausreisehindernis, freiwillige Ausreise, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Ablehnungsbescheid, Bindungswirkung, abgelehnte Asylbewerber, Ausländerbehörde, Prüfungskompetenz, sachliche Zuständigkeit, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Sicherheitslage, Erlasslage, Abschiebungsstopp, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Suspensiveffekt
Normen: AufenthG § 18 Abs. 2; AufenthG § 18 Abs. 3; AufenthG § 105 Abs. 2; BeschVerfV § 14 Abs. 2; AufenthG § 25 Abs. 4 S. 2; AufenthG § 25 Abs. 5; AufenthG § 60 Abs. 7; AsylVfG § 42 S. 1; VwGO § 80 Abs. 5
Auszüge:

Es ist ungeklärt, ob die Ausländerbehörde ausnahmsweise zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 7 AufenthG im Rahmen der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG prüfen muss, wenn die Feststellung des Abschiebungshindernisses im Asylverfahren allein unter Hinweis auf einen Abschiebungsstopp abgelehnt worden ist.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die rechtzeitig eingelegte (§ 147 Abs. 1 Satz 1 VwGO) und begründete (§ 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO) Beschwerde hat sachlich Erfolg; die vom Antragsteller erhobenen Einwendungen gegen den von ihm angefochtenen Beschluss des Verwaltungsgerichts, auf deren Überprüfung der Senat beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), führen dazu, dass die aufschiebende Wirkung des vom Antragsteller gegen die angefochtene Ablehnungsverfügung eingelegten Widerspruchs anzuordnen war.

Ob dem Antragsteller ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zusteht, ist zumindest offen.

Nicht auszuschließen ist jedoch, dass dem Antragsteller nach § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zusteht.

Ehemalige Asylbewerber (einschließlich anerkannter Asylberechtigter und Flüchtlinge, deren Anerkennung widerrufen worden ist), können dabei nach bislang einhelliger Rechtsprechung zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse (Abschiebungsverbote) gegenüber der Ausländerbehörde im Hinblick auf die dem § 42 AsylVfG zu entnehmende Bindungswirkung der diesbezüglich negativen Entscheidung des Bundesamts von vornherein nicht mit Erfolg geltend machen (vgl. Beschluss des Senats vom 15.7.2005 - 13 S 1103/05 -, NVwZ-RR 2006, 145; OVG Münster, Beschluss vom 14.3.2005 - 18 E 195/05 -, InfAuslR 2005, 745 und BVerwG, Urteil vom 22.11.2005 - 1 C 18.04 -, NVwZ 2006, 711). Ein derartiges zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis macht der Antragsteller indes geltend, indem er sich auf die "prekäre" Sicherheitslage im Irak beruft und aufgrund von zahlreichen Zeitungsberichten zu belegen versucht, dass er bei einer Rückkehr in sein Heimatland landesweit einer allgemeinen extremen Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 AufenthG ausgesetzt sei. Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem Urteil vom 27.6.2006 - 1 C 14.05 - ausdrücklich offengelassen, ob die Ausländerbehörden und Gerichte im Aufenthaltserlaubnisverfahren sowohl nach § 25 Abs. 3 Satz 1 als auch nach § 25 Abs. 5 AufenthG ausnahmsweise, nämlich abweichend von der grundsätzlich aus § 42 Satz 1 AsylVfG folgenden Unzulässigkeit eigener Prüfung von zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernissen, selbständig darüber zu befinden haben, ob dem Ausländer im Herkunftsland infolge einer allgemeinen Gefahrenlage eine extreme Gefahr für Leib und Leben droht, die in verfassungskonformer Anwendung von § 60 Abs. 7 AufenthG zur Bejahung eines Abschiebeverbots nach dieser Vorschrift führen muss. Das Bundesverwaltungsgericht hat das für den Fall in Betracht gezogen, dass das Bundesamt diese Feststellung wegen Bestehens eines vergleichbaren Schutzes durch eine Erlasslage oder eine aus individuellen Gründen erteilte Duldung nicht treffen kann und darf. Diese Voraussetzungen könnten im vorliegenden Verfahren gegeben sein. Zwar hat das Bundesamt mit seinem bestandskräftig gewordenen Bescheid vom 14.12.2005 im Fall des Klägers eine negative Feststellung zum Bestehen einer allgemeinen Extremgefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG getroffen. Das Verwaltungsgericht hat indes seinem Urteil vom 13.6.2006 (A 6 K 243/06) mit Rücksicht auf die in Baden-Württemberg bestehende ausländerrechtliche Erlasslage und einen hieraus abzuleitenden Abschiebestopp keine Prüfung der Frage vorgenommen, ob der Antragsteller im Falle seiner Abschiebung in den Irak dort einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre mit der Folge, dass ihm Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Auslegung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zustünde (vgl. die S. 12 bis 11 des amtl. Umdrucks). Dies bedingt, dass dem Antragsteller grundsätzlich nicht entgegengehalten werden kann, die negative Entscheidung des Bundesamtes zu § 60 Abs. 7 AufenthG in verfassungskonformer Anwendung sei mit ihrem ursprünglichen Inhalt bestandskräftig geworden. Denn die gerichtlich bestätigte negative Feststellung zu § 60 Abs. 7 AufenthG kann nur mit dem Inhalt bestandskräftig werden, den die letzte verwaltungsgerichtliche Entscheidung zugrundegelegt hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 12.7.2001 - 1 C 2.01 -, InfAuslR 2002, 48). In dem der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 27.6.2006 zugrundeliegenden Fall bedurfte die in Rede stehende Frage keiner Klärung, weil der Kläger - anders als hier der Antragsteller - im gesamten Verfahren nicht vorgebracht hatte, dass ihm im Irak landesweit extreme Gefahren drohen würden, und auch die Feststellungen im Berufungsurteil des Bay. VGH vom 10.1.2005 - 24 B 03.3389 - (juris) dafür nichts hergaben. Damit kommt es vorliegend auf die von der Rechtsprechung noch nicht geklärte Rechtsfrage an, ob es in den Fällen, in denen es aufgrund der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG wegen einer bestehenden Erlasslage, die (nur) die Erteilung von Duldungen vorsieht, nicht zur Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG durch das Bundesamt kommt, obwohl - möglicherweise - im Zielstaat eine extreme Gefahrenlage für den Betroffenen besteht, nicht geboten ist, im ausländerrechtlichen Streit um eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 bzw. Abs. 5 AufenthG eine Prüfung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 7 AufenthG durch die Ausländerbehörde und später durch das Verwaltungsgericht zuzulassen. Diese Rechtsfrage wird von der Rechtsprechung kontrovers entschieden (vgl. verneinend Bay. VGH, Beschluss vom 9.10.2006 - 24 Z3 06.1895 - juris; bejahend VG Stuttgart, Urteil vom 21.5.2007 - 4 K 2563/07 - juris und vom 28.6.2007 - 4 K 274507 -, beide noch nicht rechtskräftig: siehe auch BVerwG, Beschluss vom 23.8.2006 - 1 B 60/06 - juris); die Klärung dieser Rechtsfrage muss aufgrund ihrer Komplexität dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.

Dem steht auch nicht entgegen, dass das Bundesverwaltungsgericht in dem genannten Urteil vom 27.6.2006 - 1 C 14.05 - vom Nichtvorliegen einer Extremgefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 AufenthG für den Irak ausgegangen ist. Denn das beruht ausschließlich auf den das Revisionsgericht nach § 137 Abs. 2 VwGO bindenden Feststellungen im Berufungsurteil, das in Ermangelung klägerischen Vorbringens keine Anhaltspunkte für eine extreme allgemeine Gefahrenlage im Irak enthielt. In aktuellen Entscheidungen von Obergerichten wird eine derartige Gefahr zwar überwiegend verneint (vgl. OVG Saarland, Urteil vom 29.9.2006 - 3 R 6/06 - und Beschluss vom 9.3.2007 - 3 Q 113/06 -, juris; OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 2.8.2006 - 1 LB 122/05 -; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 4.4.2006 - 9 A 3538/05.A - juris; offengelassen im Asylverfahren im Hinblick auf die Erlasslage: OVG Niedersachsen, Beschluss vom 16.2.2006 - 9 LB 27.03 -, juris). Der für asylrechtliche Streitigkeiten betreffend den Irak zuständige 2. Senat des erkennenden Gerichtshofs hat diese Tatsachenfrage, die nicht ohne Auswertung der aktuellen Erkenntnislage und ohne genaue Feststellungen zu Art, Umfang und Gewicht der sicherheitserheblichen Vorfälle zu beurteilen ist, bislang indes nicht entschieden (vgl. VGH Bad.-Württ., Urteil vom 4.5.2006 - A 2 S 1046/05 -) .

Erweist sich der Ausgang des Verfahrens in der Hauptsache danach als offen, ist vorliegend dem Interesse des Antragstellers an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs der Vorrang vor dem öffentlichen Interesse am Vollzug der streitgegenständlichen Verfügung einzuräumen. Dabei hat der Senat berücksichtigt, dass sich der Antragsteller schon seit 2001 in Deutschland aufhält und dass eine Aufenthaltsbeendigung - auch in wirtschaftlicher Hinsicht - einschneidende Folgen für ihn hätte. Demgegenüber erscheint das öffentliche Interesse am Vollzug der streitgegenständlichen Verfügung als nachrangig, zumal die Antragsgegnerin zu erkennen gegeben hat, dass eine Beendigung des Aufenthalts des Antragstellers in ansehbarer Zeit nicht beabsichtigt sei, und der Antragsteller in den letzten Jahren auch keine Sozialleistungen in Anspruch genommen hat.