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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 09.08.2007 - 1 C 47.06 - asyl.net: M11469
https://www.asyl.net/rsdb/M11469
Leitsatz:

1. Die aus Art. 7 Satz 1 und aus Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 abgeleiteten Aufenthaltsrechte von Kindern türkischer Arbeitnehmer erlöschen nicht durch die Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit.

2. Es verstößt nicht gegen das Verbot der Besserstellung von türkischen Staatsangehörigen gegenüber Unionsbürgern nach Art. 59 des Zusatzprotokolls zum Assoziierungsabkommen EWG/Türkei, dass die aus Art. 7 Satz 1 und aus Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 abgeleiteten Aufenthaltsrechte von Kindern türkischer Arbeitnehmer nur in den Fällen des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 und bei Verlassen des Aufnahmemitgliedstaates für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe erlöschen (im Anschluss an EuGH, Urteil vom 18. Juli 2007, Rs. C-325/05, Derin).

3. Die Ausweisung eines nach dem ARB 1/80 aufenthaltsberechtigten türkischen Staatsangehörigen, die unter Verstoß gegen die Verfahrensanforderungen aus Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG verfügt wurde - hier: wegen Abschaffung des Widerspruchsverfahrens -, ist auch nach Außerkrafttreten der Richtlinie 64/221/EWG mit Wirkung vom 30. April 2006 wegen eines unheilbaren Verfahrensfehlers rechtswidrig (im Anschluss an die Urteile vom 13. September 2005 - BVerwG 1 C 7.04 - BVerwGE 124, 217 und vom 6. Oktober 2006 - BVerwG 1 C 5.04 - BVerwGE 124, 243).

 

Schlagwörter: D (A), Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Assoziationsberechtigte, Türken, Familienangehörige, Verlust, Selbstständige Erwerbstätigkeit, Strafhaft, Besserstellungsverbot, Ausweisung, Widerspruchsverfahren, Zweckmäßigkeit, Unionsbürgerrichtlinie, Altfälle, Beurteilungszeitpunkt, Verfahrensmangel, Heilung
Normen: ARB Nr. 1/80 Art. 7; RL 64/221/EWG Art. 9 Abs. 1; RL 2004/38/EG Art. 38 Abs. 2; RL 2004/38/EG Art. 31; VwVfG § 46
Auszüge:

1. Die aus Art. 7 Satz 1 und aus Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 abgeleiteten Aufenthaltsrechte von Kindern türkischer Arbeitnehmer erlöschen nicht durch die Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit.

2. Es verstößt nicht gegen das Verbot der Besserstellung von türkischen Staatsangehörigen gegenüber Unionsbürgern nach Art. 59 des Zusatzprotokolls zum Assoziierungsabkommen EWG/Türkei, dass die aus Art. 7 Satz 1 und aus Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 abgeleiteten Aufenthaltsrechte von Kindern türkischer Arbeitnehmer nur in den Fällen des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 und bei Verlassen des Aufnahmemitgliedstaates für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe erlöschen (im Anschluss an EuGH, Urteil vom 18. Juli 2007, Rs. C-325/05, Derin).

3. Die Ausweisung eines nach dem ARB 1/80 aufenthaltsberechtigten türkischen Staatsangehörigen, die unter Verstoß gegen die Verfahrensanforderungen aus Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG verfügt wurde - hier: wegen Abschaffung des Widerspruchsverfahrens -, ist auch nach Außerkrafttreten der Richtlinie 64/221/EWG mit Wirkung vom 30. April 2006 wegen eines unheilbaren Verfahrensfehlers rechtswidrig (im Anschluss an die Urteile vom 13. September 2005 - BVerwG 1 C 7.04 - BVerwGE 124, 217 und vom 6. Oktober 2006 - BVerwG 1 C 5.04 - BVerwGE 124, 243).

(Amtliche Leitsätze)

 

1. Der Kläger besitzt ein aus Art. 7 Satz 1 und aus Art. 7 Satz 2 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG-Türkei über die Entwicklung der Assoziation - ARB 1/80 - abgeleitetes Aufenthaltsrecht.

b) Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts ist das aus Art. 7 Satz 1 und aus Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 abgeleitete Aufenthaltsrecht des Klägers nicht dadurch erloschen, dass er von Dezember 1999 bis zu seiner Inhaftierung im Jahr 2003 selbständig im Gebrauchtwagenhandel tätig war.

Nach der mittlerweile gefestigten Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) können die genannten Aufenthaltsrechte nach Art. 7 ARB 1/80 nur unter zwei Voraussetzungen beschränkt werden: Entweder stellt die Anwesenheit des türkischen Wanderarbeitnehmers im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats wegen seines persönlichen Verhaltens eine tatsächliche und schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit im Sinne von Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 dar, oder der Betroffene hat das Hoheitsgebiet dieses Staates für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlassen (vgl. Urteile vom 16. März 2000, Ergat, C-329/97, Slg. 2000, I-1487, Rn. 45, 46 und 48; vom 11. November 2004, Cetinkaya, C-467/02, Slg. 2004, I-10895, Rn. 36 und 38; vom 7. Juli 2005, Aydinli, C-373/03, Slg. 2005, I-6181, Rn. 27, vom 16. Februar 2006, Torun, C-502/04, Slg. 2006, I-1563, Rn. 21, vom 18. Juli 2007, Derin, C-325/05, Rn. 54). Die Aufnahme einer selbständigen Erwerbstätigkeit führt hingegen nicht zum Verlust der Rechtsstellung aus Art. 7 ARB 1/80. Vielmehr ist grundsätzlich vom abschließenden Charakter der beiden vom EuGH genannten Verlustgründe auszugehen. Während der Gerichtshof in seiner früheren Rechtsprechung die beiden Verlusttatbestände nannte, ohne ausdrücklich von ihrem abschließenden Charakter zu sprechen (vgl. die oben genannten Urteile in den Sachen Ergat, Cetinkaya und Aydinli), betont er in seinen neuesten Entscheidungen, das Recht aus Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 könne "nur" unter diesen Voraussetzungen eingeschränkt werden (vgl. die Urteile in den Sachen Torun und Derin).

c) Der Umstand, dass dem Kläger nach den vorstehenden Grundsätzen ein aus Art. 7 ARB 1/80 abgeleitetes Aufenthaltsrecht zusteht, stellt auch keinen Verstoß gegen das Besserstellungsverbot nach Art. 59 des Zusatzprotokolls (ZP) zum Assoziierungsabkommen EWG/Türkei (BGBl II 1972, 385) dar.

Diese Vorschrift bestimmt, dass der Türkei (hier: türkischen Arbeitnehmern und ihren Familienangehörigen) in den vom Zusatzprotokoll erfassten Bereichen (hier: Freizügigkeit der Arbeitnehmer) keine günstigere Behandlung gewährt werden darf als diejenige, die sich die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft aufgrund des Vertrags zur Gründung der Gemeinschaft untereinander einräumen. Durch das Urteil des EuGH vom 18. Juli 2007 (C-325/05, Derin) ist nun geklärt, dass es nicht gegen das Besserstellungsverbot des Art. 59 ZP verstößt, wenn das Kind eines türkischen Arbeitnehmers seine einmal erworbene Rechtsstellung nach Art. 7 ARB 1/80 auch dann behält, wenn es älter als 21 Jahre ist, von seinen Eltern keinen Unterhalt mehr erhält und im betreffenden Mitgliedstaat ein selbständiges Leben führt. Der EuGH vergleicht die Rechtsstellung der Kinder von türkischen Arbeitnehmern nach dem ARB 1/80 und Unionsbürgern im Wege einer Gesamtbetrachtung und kommt dabei zu dem Ergebnis, dass die Rechtsstellung türkischer Kinder nach Art. 7 ARB 1/80 nicht besser ist als die der Kinder von Unionsbürgern (a.a.O. Rn. 62 bis 69).

2. Hatte der Kläger aber ein Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Satz 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 (wie auch nach Art. 7 Satz 2 ARB 1/80), so durfte er nur unter Beachtung der Verfahrensanforderungen aus Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG ausgewiesen werden.

a) Die Ausweisungsverfügung verstößt gegen Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG. Nach dem Urteil des Senats vom 13. September 2005 - BVerwG 1 C 7.04 - (BVerwGE 124, 217) sind die gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensgarantien nach Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG, die unmittelbar für Unionsbürger bei behördlicher Beendigung ihres Aufenthalts gelten, auch auf türkische Arbeitnehmer anzuwenden, die ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 haben. Das Bundesverwaltungsgericht folgt damit der Rechtsprechung des EuGH (vgl. Urteil vom 2. Juni 2005 - Rs. C-136/03 -, Dörr und Ünal, Rn. 66 bis 68, EuGRZ 2005, 319). Der erkennende Senat hat in seiner Entscheidung vom 13. September 2005 näher ausgeführt, dass Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG zugunsten von Unionsbürgern sowie von nach dem ARB 1/80 aufenthaltsberechtigten türkischen Staatsangehörigen eingreift, weil die gerichtlichen Rechtsmittel gegen Ausweisungen nach der Verwaltungsgerichtsordnung "nur die Gesetzmäßigkeit der Entscheidung betreffen" und keine Zweckmäßigkeitsprüfung eröffnen, wie sie der EuGH verlangt. Er hat weiter entschieden, dass nach Abschaffung des behördlichen Widerspruchsverfahrens bei Ausweisungen in Baden-Württemberg die gemeinschaftsrechtlich geforderte Einschaltung einer unabhängigen Stelle neben der Ausländerbehörde (nach dem "Vier-Augen-Prinzip") entfallen ist und deshalb Ausweisungen der begünstigten Ausländer wegen eines Verfahrensfehlers rechtswidrig sind, es sei denn, es hätte ein "dringender Fall" im Sinne von Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG vorgelegen. Nur in solchen dringenden Fällen kann von der Beteiligung einer zweiten Stelle ausnahmsweise abgesehen werden.

b) Der Verstoß gegen Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG führt auch unter Berücksichtigung der mittlerweile durch Art. 38 Abs. 2 und Art. 31 der RL 2004/38/EG (Unionsbürger-Richtlinie - ABl L 158 vom 30. April 2004, S. 77) eingetretenen Rechtsänderung zur Rechtswidrigkeit der angegriffenen Ausweisungsverfügung.

Die Richtlinie 64/221/EWG ist mit Wirkung vom 30. April 2006 durch Art. 38 Abs. 2 der RL 2004/38/EG aufgehoben worden. Die Verfahrensgarantie der Kontrolle von Ausweisungsentscheidungen durch Einschaltung einer zweiten Verwaltungsinstanz nach Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG wurde in Art. 31 der RL 2004/38/EG durch Erweiterung des gerichtlichen Rechtsschutzes ersetzt. So hat das Gericht nunmehr im Rechtsbehelfsverfahren nicht nur die Rechtmäßigkeit der ausländerbehördlichen Entscheidung zu überprüfen, sondern auch die Tatsachen und Umstände, auf denen die Entscheidung beruht (Art. 31 Abs. 3) - was in mehreren EG-Mitgliedstaaten bisher nicht gewährleistet war. Ferner darf die Abschiebung grundsätzlich so lange nicht erfolgen, bis das Gericht über einen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz entschieden hat (Art. 31 Abs. 2).

Für die Beurteilung, welche Konsequenzen die Verletzung der verfahrensrechtlichen Garantie des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG hat, ist jedoch auf die bei Abschluss des Verwaltungsverfahrens geltende Rechtslage - hier im September 2004 - abzustellen. Dafür spricht zunächst die Tatsache, dass die Richtlinie 64/221/EWG durch die Unionsbürger-Richtlinie erst mit Wirkung vom 30. April 2006 aufgehoben wurde. Diese Regelung deutet darauf hin, dass die Verfahrensbestimmungen in Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG für bis zu diesem Zeitpunkt ergehende Ausweisungsentscheidungen weiterhin uneingeschränkt beachtet und Verstöße dagegen in gleicher Weise wie bisher sanktioniert werden sollten. Andernfalls würden die Verfahrensvorschriften der RL 64/221/EWG praktisch schon vor Ablauf ihrer Geltungsdauer wirkungslos. Für die fortdauernde Rechtswirkung des begangenen Verfahrensverstoßes spricht auch der Umstand, dass die in Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG eingeräumten Verfahrensgarantien bei Ausweisungen nicht ersatzlos aufgehoben, sondern durch neue Verfahrensgarantien in Art. 31 RL 2004/38/EG ersetzt wurden. Verfahrensgarantien wurden insofern nicht nachträglich als entbehrlich angesehen, sondern durch neue abgelöst. Neue Verfahrensgarantien können von der Verwaltung und den Gerichten aber jedenfalls bei abgeschlossenen Verfahren grundsätzlich nicht mehr beachtet werden. Der Senat hat deshalb entschieden, dass von der Verwaltung regelmäßig nicht verlangt werden kann, Verfahrensregeln zu beachten, die erst nach Abschluss des bei ihr anhängigen Verfahrens in Kraft treten (vgl. Urteil vom 1. November 2005 - BVerwG 1 C 21.04 - BVerwGE 124, 277 - Rn. 42 zur zukunftsbezogenen Regelung in § 73 Abs. 2a AsylVfG). Umgekehrt kann der Verwaltung dann bei einer Verletzung von Verfahrensvorschriften - wie hier - aber in der Regel auch nicht zugute kommen, dass diese nachträglich (zu ihren Gunsten) geändert wurden. Die gegenteilige Auffassung hätte zur Folge, dass auch abgeschlossene Verwaltungsverfahren insgesamt an den Anforderungen des Art. 31 RL 2004/38/EG zu messen wären, ohne dass die betroffene Behörde die Möglichkeit gehabt hätte, sich bei Erlass der angefochtenen Ausweisungsverfügung gemeinschaftsrechtskonform zu verhalten.

Dass für das Vorliegen von behördlichen Verfahrensfehlern insoweit auf die Rechtslage zum Zeitpunkt des Abschlusses des Verwaltungsverfahrens abzustellen ist, steht nicht im Widerspruch zur Rechtsprechung des Senats, wonach bei der Ausweisung freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger und türkischer Staatsangehöriger, die ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 haben, die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts maßgeblich ist (Urteile vom 3. August 2004 - BVerwG 1 C 30.02 - BVerwGE 121, 297 <308 f.> und - BVerwG 1 C 29.02 - BVerwGE 121, 315 <319>). Denn bei der Prüfung der materiellen Ausweisungsvoraussetzungen für den genannten Personenkreis geht es um die Frage, ob die gemeinschaftsrechtlich begründete Voraussetzung erfüllt ist, dass vom Ausländer eine gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit ausgeht.

c) Der Senat hält an seiner bereits in den Urteilen vom 13. September 2005 (a.a.O. Rn. 13) und vom 6. Oktober 2005 (BVerwG 1 C 5.04 - BVerwGE 124, 243 - Rn. 16) vertretenen Auffassung fest, dass die Verletzung von Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG einen "unheilbaren Verfahrensmangel" darstellt.

Der hier begangene Verfahrensverstoß wurde nicht nach § 46 LVwVfG Baden-Württemberg geheilt. Es kann offenbleiben, ob § 46 LVwVfG überhaupt auf einen Verstoß gegen Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG anwendbar ist (vgl. dazu VGH Mannheim, Urteil vom 29. Juni 2006 - 11 S 2299/05 - VBlBW 2007, 109 <114> m.w.N.). Die Verletzung einer Verfahrensvorschrift ist nach § 46 LVwVfG nämlich nur dann unbeachtlich, wenn "offensichtlich ist, dass die Verletzung die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat". Das ist hier nicht der Fall. Die nach Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG zu beteiligende "zuständige Stelle" hatte eine unabhängige Stellungnahme zu der vorgesehenen Ausweisung abzugeben. Es ist möglich, dass diese Stelle bei Abwägung der für und gegen eine Ausweisung sprechenden Gesichtspunkte zu einem von der Ausgangsbehörde abweichenden Ergebnis gelangt wäre.