VG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
VG Schleswig-Holstein, Urteil vom 13.06.2007 - 4 A 34/07 - asyl.net: M11356
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Leitsatz:

Reiseausweis für staatenlosen armenischen Volkszugehörigen aus Aserbaidschan; zum armenischen Staatsangehörigkeitsrecht.

 

Schlagwörter: D (A), Staatenlose, Staatenlosenübereinkommen, Reiseausweis, Beweislast, abgelehnte Asylbewerber, Bindungswirkung, Ablehnungsbescheid, Armenier, Aserbaidschan, Russland, Armenien, Staatsangehörigkeit, Staatsangehörigkeitsrecht, Delegation, Passersatz, Passersatzbeschaffung, Antrag, Einbürgerung, Aufenthaltserlaubnis, rechtmäßiger Aufenthalt, auflösende Bedingung, Identität ungeklärt, Identitätszweifel
Normen: StlÜbK Art. 28 S. 1; StlÜbK Art. 1 Abs. 1; AsylVfG § 4; AufenthG § 25 Abs. 5; AufenthG § 78 Abs. 6 S. 2 Nr. 10
Auszüge:

Reiseausweis für staatenlosen armenischen Volkszugehörigen aus Aserbaidschan; zum armenischen Staatsangehörigkeitsrecht.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die rechtzeitig erhobene Verpflichtungsklage ist zulässig und begründet. Die Ablehnung des begehrten Reiseausweises für Staatenlose gegenüber den Klägern zu 1) und 3) [im Folgenden: die Kläger] ist rechtswidrig und verletzt diese in ihren Rechten. Beiden Klägern steht zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung ein Anspruch auf Erteilung eines solchen Reiseausweises für Staatenlose zu (§ 113 Abs. 5 VwGO).

Rechtsgrundlage ist Art. 28 S. 1 StlÜbK. Das Übereinkommen wurde 1976 in innerstaatliches Recht transformiert; die Transformation führt zur unmittelbaren Anwendbarkeit der Norm (vgl. VG Schleswig, rechtskr. Urteil vom 07.02.2007 - 1 A 130/04 -, mwN). Danach ist einem Staatenlosen, der sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines Vertragsstaates aufhält, von dem jeweiligen Vertragsstaat ein Reiseausweis auszustellen, es sei denn, dass zwingende Gründe der Staatssicherheit oder der öffentlichen Ordnung entgegenstehen.

Die Kläger müssen zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung als staatenlos angesehen werden.

Nach der Legaldefinition des Art. 1 Abs. 1 StlÜbK ist eine Person staatenlos, die kein Staat auf Grund seines Rechts als Staatsangehörigen ansieht (sog. "de jure" Staatenlose). Der Nachweis dieser negativen Tatsache obliegt grundsätzlich den Klägern. Sie müssen die von ihnen behauptete Staatenlosigkeit darlegen und gegebenenfalls auch beweisen (VG Schleswig aaO; VG Oldenburg, U. v. 20.11.2006 - 11 A 2234/05 in juris). Dabei hängt der Status der Staatenlosigkeit nicht von der Art seiner Entstehung ab (BVerwG, U.v. 16.07.1996 - 1 C 30/93 in juris). Hinreichend nachgewiesen ist die Staatenlosigkeit, wenn kein vernünftiger Zweifel daran besteht, dass die Staaten, als deren Angehörige die Betroffenen überhaupt in Betracht kommen, ihn nicht als Staatsangehörigen ansehen. An diesen Nachweis dürfen keine überspannten Anforderungen gestellt werden, insbesondere kann allein durch die Feststellung, die Staatsangehörigkeit sei ungeklärt, der Anspruch noch nicht verneint werden (VG Berlin, U. v. 12.06.1985 - 11 A 655/84 in juris; VG Schleswig aaO). Zu berücksichtigen ist zudem die potenzielle Beweisnot des Ausländers, wenn trotz eines schlüssigen und im Wesentlichen widerspruchsfreien Vortrags und bei Beachtung der nach § 82 AufenthG gegebenen Mitwirkungspflichten das Fehlen der in Frage kommenden Staatsangehörigkeit(en) nicht gesondert belegt werden kann (vgl. VG Oldenburg aaO mit Verweis auf BVerwG, Urteil vom 16.04.1985 - 9 C 109.94 BVerwGE 71, 180 <181>; U.v. 17.03.2004 - 1 C 1.03 BVerwGE 120, 206). Daran gemessen muss von der Staatenlosigkeit der Kläger ausgegangen werden.

Der Beklagte weist zunächst zutreffend darauf hin, dass die Feststellungen zu etwaigen Staatsangehörigkeiten in den Bundesamtsbescheiden oder in den gerichtlichen Urteilen im Rahmen des Asylverfahrens bei der Prüfung der Staatenlosigkeit durch die Ausländerbehörde nicht bindend sind und der Ausländerbehörde insofern Gelegenheit zur eigenen Prüfung gegeben werden muss.

Ungeachtet der – ohnehin nur für den Einzelfall – zu verneinenden Bindungswirkung verweisen jedoch die Kläger ihrerseits auf die den Beteiligten bekannte aktuelle Rechtsprechung des VG und des OVG Schleswig zu Asylbegehren armenischer Volkszugehöriger aus der ehemaligen aserbaidschanischen SSR und die dazu entwickelte Entscheidungspraxis in gleichgelagerten Fällen, in denen die Betroffenen ihre Heimat wegen der Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Armeniern vor dem 01. Januar 1991 verließen und anschließend über Jahre hinweg in der Russischen Föderation lebten. Unter Berücksichtigung der jeweiligen Rechtsanwendungspraxis wird – wie schon im Falle der Kläger – zunächst weiterhin die aserbaidschanische Staatsangehörigkeit verneint. Zudem verneint die Rechtsprechung in diesen Fällen mittlerweile auch den Erwerb der russischen Staatsangehörigkeit, da die Anerkennung nach Art. 13 Abs. 1 des russischen Staatsangehörigkeitsgesetzes vom 28.11.1991 nicht nur den ständigen Aufenthalt auf dem Territorium der Russischen Föderation am Stichtag des 06. Februar 1992 verlangt, sondern zugleich, dass der Aufenthalt auch legal war. Zur Legalisierung bedurfte es anfänglich noch einer Zuzugsgenehmigung ("Propiska") und später immer noch einer Registrierung am tatsächlichen Wohnsitz bzw. Wohnort. Der diesbezügliche Vortrag, über Jahre hinweg eine solche Legalisierung nicht erreicht zu haben, wertet das OVG in Anbetracht der Auskunftslage und der darin beschriebenen rechtswidrigen Verweigerungspraxis lokaler russischer Behörden für glaubhaft. Die armenische Staatsangehörigkeit schließlich wird in diesen Fällen unter Verweis auf Art. 10 Abs. 1 des armenischen Staatsangehörigkeitsgesetzes gar nicht erst in ernsthaften Betracht gezogen, sofern die Betroffenen – wie die Kläger – in Armenien weder geboren sind noch sich jemals dort (dauerhaft) aufgehalten haben (vgl. nur Urteile des OVG Schleswig vom 08.12.2005 - 1 LB 202/01 -, vom 27.04.2006 - 1 LB 65/03 und vom 30.11.2006 - 1 LB 66/03 -, vom 18.01.2007 - 1 LB 1/06 -).

Legt man diese Rechtsprechung als allgemeine Ausgangslage zu Grunde, besteht für die Kammer im vorliegenden Verfahren auch nach Auswertung der mittlerweile vorliegenden neuen Erkenntnisse und nach Durchführung der mündlichen Verhandlung kein vernünftiger Zweifel daran, dass die Staaten, als deren Angehörige die Kläger überhaupt in Betracht kommen – dies sind auch hier Aserbaidschan, die Russische Föderation und Armenien –, die Kläger nicht als ihre Staatsangehörigen ansehen.

Schließlich ist auch nicht zu erwarten, dass von Seiten des armenischen Staates bestätigt wird, die Kläger seien seine Staatsangehörigen. Das Landesamt hat insoweit mitgeteilt, dass nach zweimaliger negativer Prüfung der klägerischen Personalien in Armenien nunmehr eine Sondervorführung geplant sei, hierfür aber noch kein Termin feststehe. Sollte die hier im Bundesgebiet durchzuführende Prüfung durch eine aus Armenien angereiste Expertenkommission erfolgreich sein in dem Sinne, dass eine Passersatzzusage erteilt wird, so würde die Rückführung mit einem Passersatzpapier erfolgen, welches auf diejenigen persönlichen Daten ausgestellt wird, die hier bislang angegeben wurden, auch wenn sie tatsächlich falsch sein sollten. Eine solche Zusage sei wegen der 80 %-igen Erfolgsquote auch hier zu erwarten, zumal die armenische Botschaft zunächst von einer armenischen Staatsangehörigkeit des Klägers zu 1) ausgegangen sei.

Dieser Sachvortrag ist selbst im Falle des vom Landesamt und dem Beklagten erwarteten Verlaufs nicht geeignet, die behauptete Staatenlosigkeit zu widerlegen, konkret: die armenische Staatsangehörigkeit der Kläger positiv zu belegen. Beide Kläger geben an, nie in Armenien gelebt zu haben. Entsprechend können sie dort auch nicht registriert sein. Auch die anfängliche Annahme einer bestehenden Staatsangehörigkeit durch die Botschaftsmitarbeiter wurde widerlegt; die klägerischen Personalien sind in Armenien selbst nicht bekannt („negativ geprüft“). An diesen Feststellungen ändert auch die erwartete Passersatzzusage durch die Expertenkommission nichts. Zum Einen würde sie die Richtigkeit der angegebenen Personaldaten nicht widerlegen. Zum Anderen brächte sie keine neuen Erkenntnisse über die hier allein maßgeblichen Frage einer bestehenden armenischen Staatsangehörigkeit. Eine solche Zusage belegt lediglich die für eine Abschiebung erforderliche Aufnahmebereitschaft Armeniens. Sie hat daher zwar für die Frage eines fortbestehenden Ausreisehindernisses ihre Bedeutung, nicht aber für die Frage der Staatsangehörigkeit.

Auch das armenische Staatsangehörigkeitsgesetz gibt keine Anhaltspunkte für ein solches Bestehen: Gemäß Art. 3 des armenischen Gesetzes über die Staatsangehörigkeit vom 16. November 1995 (im Folgenden: Staatsangehörigkeitsgesetz 1995) ist Staatsangehöriger der Republik Armenien, wer die Staatsangehörigkeit der Republik Armenien nach den Bestimmungen dieses Gesetzes erworben hat. Letztere wird u. a. erworben durch Anerkennung oder Verleihung der Staatsangehörigkeit (Art. 9, Ziff. 1 und 3 Staatsangehörigkeitsgesetz 1995). Sieht man von dem auch hier nicht in Frage kommenden Erwerb gem. Art. 10 Abs. 1 Staatsangehörigkeitsgesetz 1995 ab (s.o.), bleibt für Personen, die nicht in Armenien polizeilich gemeldet waren, nur eine Anerkennung nach Art. 10 Abs. 2 Staatsangehörigkeitsgesetz 1995. Sie setzt voraus, dass es sich um Staatenlose und Staatsangehörige anderer Republiken der ehemaligen UdSSR handelt, die nicht Angehörige anderer Staaten sind, ihren ständigen Aufenthalt in der Republik Armenien haben und die den Erwerb der Staatsangehörigkeit der Republik Armenien bis zum 31. Dezember 2006 beantragt haben. Der darüber hinaus in Art. 10 Abs. 3 Staatsangehörigkeitsgesetz 1995 genannte Personenkreis umfasst Bürger der ehemaligen Armenischen SSR, die armenische Volkszugehörige sind, außerhalb der Republik Armenien wohnen und keine andere Staatsangehörigkeit erworben haben (vgl. dazu VG Schleswig aaO mwN und Schr. des BMI v. 6.4.2006 mit Niederschrift über die 4. Gesprächsrunde v. 27.30.3.2006 in Eriwan zum ... Rückübernahmeabkommen in MiLO). Schließlich käme noch die Verleihung der armenischen Staatsangehörigkeit gem. Art. 13 Staatsangehörigkeitsgesetz 1995 im privilegierten Verfahren in Betracht, sofern es sich um den Ehegatten eines armenischen Staatsangehörigen handelt.

Sofern die Voraussetzungen dieser Erwerbstatbestände überhaupt vorliegen könnten, setzen sie einen entsprechenden Antrag voraus, der bisher nicht gestellt wurde. Zur Stellung eines solchen Antrages auf Erwerb der armenischen Staatsangehörigkeit und zur Beseitigung der Staatenlosigkeit sind die Kläger allerdings nicht verpflichtet. Jedenfalls im Rahmen des Art. 28 S. 1 StlÜbK ist es für die Frage der bestehenden Staatenlosigkeit unerheblich, ob die Kläger einen Anspruch auf Einbürgerung in einen der ernsthaft in Frage kommenden Staaten hätten und sie die behauptete Staatenlosigkeit in zumutbarer Weise durch eine entsprechende Antragstellung beseitigen könnten. Insoweit besteht weder eine Verpflichtung noch eine Obliegenheit. Die Nichtstellung eines solchen Antrages kann einem Anspruch nach Art. 28 StlÜbK nicht entgegengehalten werden (VG Schleswig aaO; BVerwG, U.v. 16.07.1996 und v. 17.03.2004 aaO).

Die Kläger halten sich auch rechtmäßig im Bundesgebiet auf.

Nach diesen Grundsätzen ist von einem rechtmäßigen Aufenthalt im Bundesgebiet auszugehen, nachdem der Beklagte den Klägern am 21.03.2006 eine auf ein Jahr befristete und gegenwärtig bis zum 19.03.2008 verlängerte Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG erteilt hat. Die Erteilung erfolgte zwar "nur" zur Vermeidung weiterer Kettenduldungen, doch entspricht es gerade dem gesetzgeberischen Willen, den Aufenthalt geduldeter Ausländer nach Ablauf eines Zeitraums von 18 Monaten auf diese Weise zu verfestigen. Hinzu kommt, dass § 25 Abs. 5 AufenthG tatbestandlich gerade voraussetzt, dass mit dem Wegfall des Hindernisses in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist. Der darauf gestützte Aufenthalt kann deshalb und im Gegensatz etwa § 25 Abs. 4 AufenthG nicht als ein nur vorübergehender bezeichnet werden. Schließlich ist es Wille des Gesetzgebers, dass sich auch diese Aufenthaltserlaubnis gem. § 26 Abs. 4 AufenthG zu einer Niederlassungserlaubnis entwickeln kann (vgl. schon VG Schleswig, U. v. 07.02.2007 - 1 A 130/04 Umdr. S. 18 zum vergleichbaren § 25 Abs. 3 AufenthG).

Auch die vom Beklagten zusätzlich aufgenommene auflösende Bedingung ändert nichts an diesem Befund. Sowohl Befristung als auch Bedingung erfolgen vor dem Hintergrund, dass, solange das Ausreisehindernis der Passlosigkeit andauert, den Klägern weiterhin ein Titel erteilt werden soll und sie sich im Bundesgebiet legal aufhalten sollen. Dies beinhaltet auch die Möglichkeit eines dauerhaften Hindernisses und damit eines dauerhaften Aufenthalts. Im Übrigen ist auch im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht absehbar, ob überhaupt und ggf. wann die hier gewählte auflösende Bedingung des Passerhalts eintreten wird; insoweit kann auf die getroffenen Feststellungen zur Staatenlosigkeit verwiesen werden.

Der Erteilung des Reiseausweises scheitert schließlich auch nicht daran, dass die Identität der Kläger aus Sicht des Beklagten unsicher ist. Sofern die erforderlichen Erkenntnisse trotz zumutbarer Mitwirkung des Ausländers an der diesbezüglichen Aufklärung nicht zu erlangen sind, darf der Ausweis nicht verweigert werden. Fortbestehenden Zweifeln kann die Behörde dadurch begegnen, dass sie den begehrten Ausweis mit dem Hinweis versieht, dass die Personalien auf eigenen Angaben beruhen (vgl. BVerwG, U. v. 17.03.2004 aaO unter Verweis auf § 39 Abs. 1 S. 3 Nr. 10 AuslG). Diese für Flüchtlingsausweise nach Art. 28 GFK geltenden Erwägungen des BVerwG lassen sich ohne Weiteres auf Reiseausweise nach Art. 28 StlÜbk übertragen, da es sich bei beiden Ausweisen um deutsche Passersatzpapiere iSd § 4 Abs. 1 AufenthV handelt und auch § 78 Abs. 6 S. 2 Nr. 10 AufenthG als Nachfolgevorschrift zu § 39 Abs. 1 S. 3 Nr. 10 AuslG (vgl. BTDrs. 15/420 [96]) die Aufnahme eines solchen Hinweises ermöglicht. Entsprechend ist der Beklagte auch bereits bei der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis an die Kläger verfahren.