LSG Niedersachsen-Bremen

Merkliste
Zitieren als:
LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 11.07.2007 - L 11 B 3/06 AY - asyl.net: M11283
https://www.asyl.net/rsdb/M11283
Leitsatz:

Eine rechtsmissbräuchliche Verlängerung des Aufenthalts i.S.d. § 2 Abs. 1 AsylbLG setzt voraus, dass sich das Verhalten des Ausländers konkret und kausal auf die Aufenthaltsdauer ausgewirkt hat und noch im Entscheidungszeitpunkt fortwirkt.

 

Schlagwörter: D (A), Asylbewerberleistungsgesetz, Aufenthaltsdauer, Rechtsmissbrauch, Passbeschaffung, Passersatzbeschaffung, Mitwirkungspflichten, Aufenthaltserlaubnis, Ausreisehindernis, freiwillige Ausreise, Zumutbarkeit, Krankheit, psychische Erkrankung, Schutz von Ehe und Familie, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), einstweilige Anordnung, Eilbedürftigkeit
Normen: AsylbLG § 2 Abs. 1; SGG § 86b Abs. 2; AufenthG § 25 Abs. 5; GG Art. 6 Abs. 1
Auszüge:

Eine rechtsmissbräuchliche Verlängerung des Aufenthalts i.S.d. § 2 Abs. 1 AsylbLG setzt voraus, dass sich das Verhalten des Ausländers konkret und kausal auf die Aufenthaltsdauer ausgewirkt hat und noch im Entscheidungszeitpunkt fortwirkt.

(Leitsatz der Redaktion)

Die gemäß §§ 172 ff. zulässige Beschwerde ist begründet. Zu Unrecht hat das SG Hannover die Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung und auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe abgelehnt.

Dies zugrunde gelegt, haben die Antragsteller die Voraussetzungen für den von ihnen geltend gemachten Anspruch auf Leistungen gemäß § 2 Abs. 1 AsylbLG i.V.m. den Regelungen des SGB XII ab Antragstellung glaubhaft gemacht.

Zwischen den Beteiligten ist allerdings streitig, ob die Antragsteller die Dauer ihres Aufenthalts in der Bundesrepublik rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben. Unter der rechtsmissbräuchlichen Selbstbeeinflussung der Aufenthaltsdauer ist ein subjektiv vorwerfbares, für die Verlängerung des Aufenthalts ursächliches Handeln des Asylbewerbers zu verstehen. Vorwerfbar in diesem Sinne ist es regelmäßig, wenn Ausländer nicht ausreisen, obwohl ihnen dies möglich und zumutbar ist (vgl. BSG, Urteil vom 8. Februar 2007, B 9b AY 1/06 R).

Die hieran verbleibenden Zweifel gehen zu Lasten der Antragsgegnerin, weil die Rechtsmissbräuchlichkeit des Verhaltens gem. § 2 Abs 1 AsylblG eine anspruchsausschließende Einwendung ist (vgl. BSG a.a.O.). Der Vorwurf, dass die Antragsteller bei der Beschaffung von Pass- bzw. Passersatzpapieren nicht hinreichend mitgewirkt hätten, wird dadurch erschüttert, dass die Prozessbevollmächtigte der Antragsteller sich bereits Anfang des Jahres 2005 an die Botschaft der Aserbaidschanischen Republik schriftsätzlich gewandt hat und unter Angabe der persönlichen Daten der Antragsteller und ihrer Eltern um Mitteilung gebeten hat, ob die Familie die aserbaidschanische Staatsangehörigkeit besitzt und ob Passersatzpapiere ausgestellt werden können.

Die aufgezeigten Unklarheiten und verbleibenden Zweifel hinsichtlich der Herkunft und Identität der Antragsteller können in diesem vorläufigen Rechtsschutzverfahren nicht weiter aufgeklärt werden. Dies wird dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.

Nach Auffassung des erkennenden Senats ist bei dieser Beurteilung zwar die gesamte Dauer des Aufenthalts der Antragsteller in der Bundesrepublik in den Blick zu nehmen. Insoweit folgt der erkennende Senat noch dem für das AsylbLG nicht mehr zuständigen 7. Senat des Landessozialgerichts (vgl. dessen Urteil vom 20. Dezember 2005, Az: L 7 AY 40/05). Der erkennende Senat vermag sich aber der dortigen Auffassung insofern nicht anzuschließen, als es für die Beurteilung der rechtsmissbräuchlichen Beeinflussung der Dauer des Aufenthaltes darauf ankommen soll, ob das rechtsmissbräuchliche Verhalten generell geeignet ist, die Dauer des Aufenthalts zu beeinflussen, und zwar unabhängig davon, ob sich die Verlängerung des Aufenthalts bereits realisiert hat oder der kausale Zusammenhang dadurch weggefallen ist, dass zwischen dem rechtsmissbräuchlichen Verhalten und dem Leistungsantrag die Abschiebung vorübergehend ausgesetzt worden ist (sog. "abstrakte Betrachtungsweise").

Nach Auffassung des erkennenden Senates kommt es hingegen darauf an, ob sich das rechtsmissbräuchliche Verhalten konkret und kausal verlängernd auf die Dauer des Aufenthalts in der Bundesrepublik ausgewirkt hat bzw. noch auswirkt. Nur wenn ein solcher kausaler Zusammenhang mit der notwendigen richterlichen Überzeugungsbildung festgestellt werden kann, kann sich das rechtsmissbräuchliche Verhalten auch leistungseinschränkend auswirken. Das kausale, vorwerfbare Verhalten muss aber im streitgegenständlichen Leistungszeitraum noch fortwirken.

Diese Interpretation trägt dem in den Gesetzesmaterialien zum Ausdruck kommenden Regelungszweck Rechnung, wonach nur jene Ausländer Leistungen nach § 2 AsylblG erhalten, "die unverschuldet nicht ausreisen können" (vgl. BT-Drucks. 15/420, S. 121; vgl. auch BSG a.a.O.). Weder dem Wortlaut der Norm noch dem genannten Gesetzeszweck ist eine abstrakte oder generelle Betrachtungsweise zu entnehmen. Sie führt im Ergebnis zu einem Ausschluss der leistungsrechtlichen Besserstellung auf Dauer, wofür § 2 Abs. 1 AsylblG keine Anhaltspunkte enthält. Dieser Vorschrift ist vielmehr zu entnehmen, dass der Bezug von Leistungen auf Sozialhilfeniveau nach Ablauf der zeitlichen Voraussetzungen die Regel sein soll, sofern nicht die anspruchausschließende Einwendung der Rechtmissbräuchlichkeit vorliegt. Damit soll einer stärkeren Angleichung an die hiesigen Lebensverhältnisse und einer verbesserten sozialen Integration nach längerem Aufenthalt in der Bundesrepublik Rechnung getragen werden (vgl. Fichtner/Wenzel, Kommentar zur Grundsicherung, 3. Aufl., § 2 AsylblG RdNr 1). Im übrigen führt der dauerhafte Ausschluss von Leistungen auf Sozialhilfeniveau gerade dann zu unbilligen Ergebnissen, wenn es bei langjährigem Aufenthalt in der Bundesrepublik zu Veränderungen in der Lebenssituation, im Verhalten oder im Aufenthaltsstatus der Asylbewerber kommt.

Ist dem Gericht – wie hier – eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden (vgl. Bundesverfassungsgericht – BVerfG –, Beschluss vom 12. Mai 2005, Az: 1 BvR 569/05, NVwZ 2005, 927 ff.). In diesem Fall sind die grundrechtlichen Belange der Antragsteller umfassend in die Abwägung einzustellen.

Zuzustimmen ist der Antragsgegnerin allerdings insofern, dass allein der Besitz dieser Aufenthaltserlaubnis die Antragsteller noch nicht leistungsrechtlich privilegiert. Gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 3 AsylbLG sind nach diesem Gesetz Ausländer leistungsberechtigt, die sich tatsächlich im Bundesgebiet aufhalten und die eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz besitzen. Durch die Einbeziehung von Personen mit einer solchen Aufenthaltserlaubnis in den Kreis der Leistungsberechtigten des AsylbLG hat der Gesetzgeber hinreichend deutlich gemacht, dass dieser Personenkreis grundsätzlich genauso zu behandeln ist, wie die sonstigen Leistungsberechtigten nach § 1 Abs. 1 AsylbLG. Ob und inwiefern dieser Personenkreis die Voraussetzungen von § 2 Abs. 1 AsylbLG erfüllt, namentlich – neben den hier unstreitigen zeitlichen Voraussetzungen – die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst hat, hängt von den Umständen des Einzelfalles ab.

Für diese leistungsrechtliche Beurteilung kann der Aufenthaltsstatus der Antragsteller nicht außer Acht gelassen werden. Denn § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG regelt, dass einem Ausländer, der vollziehbar ausreisepflichtig ist, eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden kann, wenn seine Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist und mit dem Wegfall der Ausreisehindernisse in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist.

Nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) kommt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach dieser Vorschrift nur dann in Betracht, wenn sowohl die Abschiebung als auch die freiwillige Ausreise unmöglich ist.

Die Unzumutbarkeit der freiwilligen Ausreise eines Ausreisepflichtigen Ausländers ist auch maßgeblich für die Frage der Rechtsmissbräuchlichkeit des Aufenthalts im Sinne von § 2 Abs. 1 AsylbLG und für die damit verbundene Rechtsfolge einer möglichen leistungsrechtlichen Privilegierung. Denn das Nichtwahrnehmen zumutbarer Ausreisemöglichkeiten begründet den Rechtsmissbrauch (vgl. BSG, Urteil vom 8. Februar 2007, Az: B 9 b 1/06 R). Aller Voraussicht nach ist dem Antragsteller zu 1.) die Ausreise mit Rücksicht auf seine schwere psychische Erkrankung und die damit verbundene Reise- und Transportfähigkeit bzw. die Suizidgefahr auf absehbare Zeit nicht möglich und daher nicht zumutbar. Der Schutz der körperlichen Unversehrtheit (Art 2 Abs 2 Satz 1 GG) steht der Ausreise des Antragstellers zu 1.) entgegen.