OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Beschluss vom 06.08.2007 - 1 B 315/07 - asyl.net: M11226
https://www.asyl.net/rsdb/M11226
Leitsatz:

Zur Integrationsprognose bei Altfallregelung.

 

Schlagwörter: D (A), Altfallregelung, Abschiebungsstopp, Erlasslage, Duldung, Integration, Zukunftsprognose, Aufenthaltsdauer, Sprachkenntnisse, Schulabschluss, Erwerbstätigkeit, Straftat, allgemeine Erteilungsvoraussetzungen, Lebensunterhalt, Ermessen, Vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren)
Normen: AufenthG § 60a Abs. 1; AufenthG § 104a Abs. 2; AufenthG § 104a Abs. 1 S. 1 Nr. 6; AufenthG § 23 Abs. 1; AufenthG § 5 Abs. 3
Auszüge:

Zur Integrationsprognose bei Altfallregelung.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Aussetzung der Abschiebung ist geboten, um die Vereitelung eines Rechts des Antragstellers zu verhindern. Zur Abwendung wesentlicher Nachteile von dem Antragsteller ist die Antragsgegnerin zu verpflichten, seinen Aufenthalt einstweilen zu dulden, um eine Entscheidung über eine Aufenthaltserlaubnis nach § 104a Abs. 2 Satz 1 AufenthG zu ermöglichen. Der Anspruch auf eine solche Duldung ergibt sich aus der Verwaltungspraxis der bremischen Ausländerbehörden, wie sie durch den Erlass des Senators für Inneres und Sport vom 17.04.2007 beschrieben wird, in Verbindung mit dem Gleichheitssatz.

3. § 104a Abs. 2 Satz 1 AufenthG-E verlangt eine "positive Integrationsprognose" (Gesetzesbegründung, BR-Drs. 224/07, S. 367). Nach dem Wortlaut des Gesetzes muss gewährleistet "erscheinen", dass sich der Ausländer "aufgrund seiner bisherigen Ausbildung und Lebensverhältnisse in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland einfügen kann". Ob damit ein Prognosemaßstab aufgestellt werden soll, der gegenüber der Regelung in § 104 Abs. 4 Satz 1 AufenthG, ("eine Integration zu erwarten ist") abgesenkt ist, kann offen bleiben. Dafür könnte sprechen, dass die Aufenthaltserlaubnis nach § 104a Abs. 2 AufenthG-E – anders als die nach § 104 Abs. 4 Satz 1 AufenthG – nur bis zum 31.12.2009 erteilt und nur verlängert werden kann, wenn es dem Ausländer gelingt, bis dahin die Sicherung seines Lebensunterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit, also eine erfolgreiche berufliche Integration, nachzuweisen (§ 104a Abs. 5 AufenthG-E).

a) In jedem Fall sind die Dauer des Aufenthalts, die Sprachkenntnisse des Ausländers und sein Schulabschluss gewichtige Punkte für eine positive Integrationsprognose (vgl. den gegenüber der Antragsgegnerin ergangenen Beschluss des Senats vom 13.07.2007 – 1 B 383/06 – zu § 104 Abs. 4 Satz 1 AufenthG). Der Antragsteller hält sich seit 12 Jahren in Deutschland auf, beherrscht die deutsche Sprache und hat einen Hauptschulabschluss erworben. Ein solcher Abschluss ist entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin keine Selbstverständlichkeit, denn im Jahre 2002 – dem Jahr, in dem der Antragsteller die Schule beendete – verließen fast 20% der ausländischen Jugendlichen das allgemeinbildende Schulsystem ohne jeden Schulabschluss (vgl. Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland, 2005, S. 53). Zwar hat der Antragsteller nach seinem Schulabschluss weder eine berufliche Ausbildung begonnen noch ist er einer Erwerbstätigkeit nachgegangen. Das kann ihm aber schon deshalb nicht zu seinem Nachteil vorgehalten werden, weil er daran jedefalls in den letzten Jahren aus Rechtsgründen gehindert war. Seit 2005 enthielt seine Duldung die Nebenbestimmung

"Erwerbstätigkeit nicht gestattet". Der Antragsgegnerin ist einzuräumen, dass der Antragsteller rechtlich nicht gehindert gewesen wäre, an berufsvorbereitenden Maßnahmen teilzunehmen. Eine solche Maßnahme mag wünschenswert gewesen sein, sie ist aber – zumal unter Berücksichtigung der damals ungewissen Zukunftsaussichten – keine notwendige Voraussetzung für eine positive Integrationsprognose. Die Motivation eines Jugendlichen, an einer berufsvorbereitenden Maßnahme teilzunehmen, ist verständlicherweise nicht sehr ausgeprägt, wenn er damit rechnen muss, nach Abschluss der Maßnahme keinen Beruf ausüben zu dürfen. Entscheidend für eine positive Prognose ist daher vielmehr, ob der Antragsteller dann, wenn die rechtlichen Hindernisse für eine Erwerbstätigkeit bei Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis wegfallen, eine Berufstätigkeit wird aufnehmen können. Das hat er durch die Vorlage einer Beschäftigungszusage nachgewiesen.

b) Auch die Tatsache, dass der Antragsteller mehrfach strafrechtlich in Erscheinung getreten ist, steht einer positiven Integrationsprognose nicht entgegen. Eine strafgerichtliche Verurteilung des Antragstellers liegt nicht vor. Straftaten dürfen aber auch dann zu Lasten des Ausländers berücksichtigt werden, wenn sie nicht zu einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe oder einer Geldstrafe von mindestens 50 Tagessätzen geführt haben. Die entsprechende Einschränkung des Ausschlusstatbestands in § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 AufenthG-E begründet insoweit keine Sperrwirkung für § 104a Abs. 2 AufenthG-E. Erforderlich ist aber, dass sich aus den festgestellten Taten persönliche Defizite ergeben, die eine positive Prognose ausschließen (vgl. für die vergleichbare Regelung in § 104 Abs. 2 Satz 2 AufenthG den bereits zitierten Beschluss des Senats vom 13.07.2007). Entsprechende Feststellungen hat das Verwaltungsgericht nicht getroffen. Die Antragsgegnerin wird, wenn sie sich bei ihrer Entscheidung über die Aufenthaltserlaubnis des Antragstellers auf diese Verfahren stützen will, die Strafakten beiziehen und den aktuellen Stand des Verfahrens berücksichtigen müssen.

4. Liegen die Voraussetzungen des § 104a Abs. 2 Satz 1 AufenthG-E vor, wird in Zukunft eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 1 Satz 1 AufenthG erteilt werden können. Ob darin eine "Rechtsfolgenverweisung" zu sehen ist (vgl. die Gesetzesbegründung zu § 104a Abs. 1, a.a.O., S. 367) oder ob mangels eines ausdrücklichen Ausschlusses auch noch die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 und 2 AufenthG zu prüfen sind (vgl. die Gesetzesbegründung zu § 104a Abs. 2 , a.a.O., S. 367), kann hier offen bleiben. Nach § 5 Abs. 3 AufenthG kann nämlich bei der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 1 Satz 1 AufenthG von der Anwendung der Absätze 1 und 2 des § 5 AufenthG abgesehen werden. Erforderlich ist daher zumindest eine Ermessensentscheidung, deren Ergebnis gegenwärtig nicht vorweggenommen werden kann. Bei dieser Entscheidung ist dem humanitären Sinn und Zweck der Altfallregelung Rechnung zu tragen. Der Vortrag der Antragsgegegnerin gibt darüber hinaus Veranlassung, auf Folgendes hinzuweisen: Es wäre ermessensfehlerhaft, die Aufenthaltserlaubnis mit der Begründung abzulehnen, der Lebensunterhalt sei nicht gesichert (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG), weil der Ausländer keiner Erwerbstätigkeit nachgehe, obwohl dem Ausländer eine Erwerbstätigkeit bisher aus Rechtsgründen verwehrt war.