OVG Rheinland-Pfalz

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Zitieren als:
OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 13.07.2007 - 10 A 11052/06.OVG - asyl.net: M11224
https://www.asyl.net/rsdb/M11224
Leitsatz:

Strafverfahren wegen "Beleidigung der Sicherheitskräfte, des Militärs und des Rechtswesens der Türkei" (Art. 159 tStGB a. F., § 301 tStGB n. F.) können politische Verfolgung darstellen.

 

Schlagwörter: Türkei, Folgeantrag, Nachfluchtgründe, subjektive Nachfluchtgründe, Meinungsfreiheit, Strafverfahren, Strafverfolgung, Politmalus, Haftbefehl, Inhaftierung, Untersuchungshaft, Situation bei Rückkehr, Grenzkontrollen, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, menschenrechtswidrige Behandlung, ernsthafter Schaden
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AsylVfG § 28 Abs. 2; AufenthG § 60 Abs. 2; AufenthG § 60 Abs. 5; EMRK Art. 5; RL 2004/83/EG Art. 15 Bst. b
Auszüge:

Strafverfahren wegen "Beleidigung der Sicherheitskräfte, des Militärs und des Rechtswesens der Türkei" (Art. 159 tStGB a. F., § 301 tStGB n. F.) können politische Verfolgung darstellen.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Steht hiernach fest, dass angesichts der Verfahrenserheblichkeit des neuerlichen Folgeantrages des Klägers im Sinne des § 71 Abs. 1 AsylVfG in dessen - auch die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG einschließende - Erfolgswürdigung einzutreten ist, so zeigt sich weiter, dass der Kläger angesichts des gegen ihn eingeleiteten Strafverfahrens im Falle seiner Rückkehr in die Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahr läuft mit politischer Verfolgung überzogen zu werden. Dies gilt ungeachtet dessen, dass der Senat sich aus den von ihm in seinem Urteil vom 18. November 2005 – 10 A 10580/05.OVG – dargelegten Gründen seinerzeit nicht die Überzeugung zu bilden vermocht hatte, dass von Seiten der türkischen Sicherheitskräfte an dem Kläger mangels einer bei ihm festzustellenden ernsthaften politischen Gegnerschaft ein nachhaltiges politisches Verfolgungsinteresse besteht jedenfalls deshalb, weil dieses Strafverfahren bereits als solches einen entsprechenden Verfolgungscharakter hat.

Unter Zugrundelegung dieser rechtlichen Vorgaben stellt das gegen den Kläger Anfang 2004 auf der Grundlage des Art. 159 Abs. 1 tStGB eröffnete Strafverfahren politische Verfolgung dar. Nach dieser Bestimmung wird unter anderem mit Zuchthaus von einem Jahr bis sechs Jahren bestraft, wer – wie dem Kläger zum Vorwurf gemacht wird - die militärischen oder polizeilichen Sicherheitskräfte des türkischen Staates oder die moralische Persönlichkeit der türkischen Justiz öffentlich beleidigt und schmäht (vgl. Dr. Tellenbach, Stellungnahme vom 17. April 2004). Dass Art. 159 tStGB zwischenzeitlich außer Kraft gesetzt wurde und im Rahmen der Neufassung des türkischen Strafgesetzbuches zum 1. Juni 2005 an seine Stelle nunmehr § 301 Abs. 2 tStGB getreten ist, hat zwar zu einer Abschwächung des Strafrahmens geführt, indem hiernach demjenigen, der die Einrichtungen des Militärs oder der Sicherheitskräfte bzw. die Justizorgane erniedrigt, nur noch eine Gefängnisstrafe von sechs Monaten bis zu zwei Jahren droht (vgl. AA, Lagebericht vom 3. Mai 2005), hat jedoch an der generellen Strafbarkeit derartiger Meinungsäußerungen nichts geändert.

Bereits nach dem Wortlaut des Art. 159 Abs. 1 tStGB a.F. bzw. § 301 Abs. 2 tStGB n.F. kann nicht zweifelhaft sein, dass diese beiden, zu den Staatsschutztatbeständen gehörenden Bestimmungen darauf abzielen, Meinungsäußerungen, so sie die militärischen oder polizeilichen Sicherheitskräfte sowie die Justiz als die maßgeblichen Stützen des türkischen Staates und seiner politischen Ordnung betreffen, strafrechtlich zu verfolgen. Diese Zielsetzung lässt ein auf sie gestütztes Strafverfahren mithin per se als politische Verfolgung erscheinen. Dass die Bestimmungen erst dann als erfüllt anzusehen sind, wenn diese Äußerungen die genannten Institutionen beleidigen bzw. erniedrigen, reicht dem gegenüber für sich genommen nicht aus, um den Verfolgungscharakter eines derartigen Strafverfahrens zu verneinen. Zusätzliche Einschränkungen ihres Anwendungsbereichs dergestalt, dass eine strafrechtliche Verfolgung nur dann in Betracht kommt, wenn der Schutz der privaten Rechte der Bürger dies erfordert oder eine die Sicherheit der Bevölkerung gefährdende Spannungslage besteht, finden sich nicht.

Soweit in Art. 159 Abs. 5 tStGB a.F. bzw. § 301 Abs. 4 tStGB n.F. in diesem Zusammenhang bestimmt ist, dass die Erfüllung des Beleidigungstatbestandes dann nicht gegeben ist, wenn die betreffende Äußerung nicht mit der Absicht der Beschimpfung, sondern mit der der Kritik getan wurde, kann die generelle Tragweite dieser Ausschlussnorm wie auch deren praktische Handhabung durch die türkischen Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte in vergleichbar gelagerten Fällen (vgl. dazu Dr. Tellenbach, Stellungnahme vom 17. April 2004, 2. und 30. April 2006 sowie Oberdiek, Gutachten vom 18. August 2006) vorliegend dahin stehen; denn sie wurde ersichtlich jedenfalls dem Kläger nicht zu Gute gebracht, da es andernfalls schon nicht zur Anklageerhebung bzw. jedenfalls nicht zur Eröffnung des Strafverfahrens gekommen wäre.

Tatsächlich wird denn auch sonst beanstandet, dass die in Rede stehenden Bestimmungen immer wieder herangezogen werden, um Personen, die ihr Meinungsäußerungsrecht wahrnehmen, namentlich staatliche Institutionen kritisieren, strafrechtlich zu verfolgen. Ähnlich wird eingeräumt, dass die auf diesen Normen beruhende Strafverfolgung im Falle friedlicher Meinungsäußerung Anlass zu ernster Besorgnis gibt, zumal dadurch ein Klima der Selbstzensur geschaffen werden könnte. Und endlich wird vor diesem Hintergrund gerügt, dass in der Türkei nach wie vor Gesetze in Kraft sind, die das Recht der freien Meinungsäußerung in gravierender Weise einschränken, und dass auf deren Grundlage Strafverfahren gegen Personen eingeleitet werden, die lediglich in friedlicher Weise ihrer Überzeugung Ausdruck verleihen. Dabei wird zudem auch in der strafeinschränkenden Regelung des § 301 Abs. 4 tStGB kein angemessenes Korrelat gesehen, da allein die Einleitung der Strafverfahren für die Betroffenen schwer genug wiegt und die allgegenwärtige Strafdrohung reicht, um abweichende Stimmen zum Schweigen zu bringen (vgl. EU-Fortschrittsbericht vom 6. Oktober 2004, S. 37, AA, Lagebericht vom 11. Januar 2007, S. 14 und 27, ai-Jahresbericht 2007, Bl. 938 GA sowie Eidgenossenschaftsbericht vom 5. Februar 2007).

Ist hiernach davon auszugehen, dass dem Kläger wegen seines Aufrufes bereits aufgrund des gegen ihn nach Art. 159 Abs. 1 tStGB a. F. bzw. § 301 Abs. 2 tStGB n.F. anhängigen Strafverfahrens zumal angesichts dessen für ihn zwangsläufigen Begleiterscheinungen wie seiner Verhaftung an der Grenze auf der Grundlage des bestehenden Haftbefehls, seiner nachfolgenden Überstellung an das für das Verfahren zuständige Strafgericht in Pazarcik sowie seines ihn alsdann dort jedenfalls bis auf Weiteres erwartenden Gefängnisaufenthaltes politische Verfolgung droht, so kommt es vorliegend auf die ansonsten in der Türkei in entsprechenden Fällen zu verzeichnende Strafverfolgungspraxis nicht an, auch wenn die Strafgerichte - wie sich gleichfalls aus den soeben angeführten Erkenntnisquellen ergibt – die Betreffenden hernach oftmals freisprechen mögen.

Allerdings bedeutet die Erkenntnis einer dem Kläger hiernach mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohenden politischen Verfolgung nicht, dass damit auch die Beklagte entsprechend seinem Hauptantrag zur Feststellung zu verpflichten wäre, dass er in seiner Person die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG erfüllt. Insofern muss sich der Kläger vielmehr entgegenhalten lassen, dass er mit seinem Aufruf die jetzigen Verfolgungsgründe aus eigenem Entschluss und zudem auch erst nach der Durchführung sogar mehrerer jeweils erfolgloser Asylverfahren geschaffen hat. Damit unterfällt er dem Anwendungsbereich des § 28 Abs. 2 AsylVfG, ohne dass etwa Ausnahmegründe ersichtlich sind, die ein Abweichen von der darin vorgeschriebenen Regelfallversagung in Bezug auf § 60 Abs. 1 AufenthG erlaubten. ….

Hat sich nach alledem die weitere Prüfung auf die Frage, ob der Kläger dann nicht zumindest die Voraussetzungen für die Zuerkennung von Abschiebungsschutz nach Maßgabe des § 60 Abs. 2 bis 6 AufenthG erfüllt, zu beschränken, so zeigt sich insoweit allerdings, dass ihm angesichts der Überziehung mit einem Strafverfahren auf der Grundlage des Art. 159 Abs. 1 tStGB a.F. bzw. § 301 Abs. 2 tStGB n.F. und dessen politischem Verfolgungscharakter Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 ERMK bzw. § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. Art. 15 Buchstabe b) der seit dem 10. Oktober 2006 anzuwendenden Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 (vgl. dazu die entsprechenden Hinweise des Bundesministeriums des Innern vom 13. Oktober 2006) zu gewähren ist.