VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 26.07.2007 - 13 S 1078/07 - asyl.net: M11186
https://www.asyl.net/rsdb/M11186
Leitsatz:

1. Die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis aus humanitären Gründen im Ermessenswege (§ 26 Abs. 4 AufenthG) setzt grundsätzlich die Sicherung des Lebensunterhalts voraus.

2. Bei § 9 Abs. 2 Satz 3 i.V.m. Satz 6 AufenthG handelt es sich um eine abschließende Ausnahmeregelung, die keiner erweiternden Auslegung auf andere Fallkonstellationen, in denen ein Ausländer seinen Lebensunterhalt unverschuldet nicht sichern kann, zugänglich ist.

3. Die Vorschrift des § 5 Abs. 3 2. Halbsatz AufenthG ermöglicht lediglich ein Absehen von den allgemeinen Regelerteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1, 2 AufenthG, nicht jedoch von den speziellen Erteilungsvoraussetzungen der Niederlassungserlaubnis gemäß § 9 Abs. 2 AufenthG.

 

Schlagwörter: D (A), Niederlassungserlaubnis, Lebensunterhalt, Krankheit, Behinderte, Familienangehörige, allgemeine Erteilungsvoraussetzungen
Normen: AufenthG § 26 Abs. 4; AufenthG § 9 Abs. 1; AufenthG § 9 Abs. 2 S. 1 Nr. 2; AufenthG § 9 Abs. 2 S. 6; AufenthG § 5 Abs. 3
Auszüge:

1. Die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis aus humanitären Gründen im Ermessenswege (§ 26 Abs. 4 AufenthG) setzt grundsätzlich die Sicherung des Lebensunterhalts voraus.

2. Bei § 9 Abs. 2 Satz 3 i.V.m. Satz 6 AufenthG handelt es sich um eine abschließende Ausnahmeregelung, die keiner erweiternden Auslegung auf andere Fallkonstellationen, in denen ein Ausländer seinen Lebensunterhalt unverschuldet nicht sichern kann, zugänglich ist.

3. Die Vorschrift des § 5 Abs. 3 2. Halbsatz AufenthG ermöglicht lediglich ein Absehen von den allgemeinen Regelerteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1, 2 AufenthG, nicht jedoch von den speziellen Erteilungsvoraussetzungen der Niederlassungserlaubnis gemäß § 9 Abs. 2 AufenthG.

(Amtliche Leitsätze)

 

Die Klägerin hat keinen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Bescheidung ihres Antrags auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis gemäß § 26 Abs. 4 Satz 1 i.V.m. § 9 Abs. 1 AufenthG.

Es fehlt jedenfalls an der gemäß § 26 Abs. 4 Satz 2 AufenthG anwendbaren zwingenden Erteilungsvoraussetzung des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG, wonach die Niederlassungserlaubnis nur erteilt werden kann, wenn der Lebensunterhalt des Ausländers gesichert ist.

Nach dem gemäß § 26 Abs. 4 Satz 2 AufenthG entsprechend anzuwendenden § 9 Abs. 2 Satz 6 AufenthG wird insbesondere von den Voraussetzungen der Sicherung des Lebensunterhalts nach § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG abgesehen, wenn der Ausländer diese aus den in § 9 Abs. 2 Satz 3 AufenthG genannten Gründen nicht erfüllen kann, d.h. wenn der Lebensunterhalt des Ausländers wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung nicht gesichert ist. Diese Voraussetzungen liegen im Fall der Klägerin nicht vor, da sie selbst nicht krankheits- oder behinderungsbedingt außerstande ist, ihren Lebensunterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit zu sichern. Das Gericht sieht es zwar als erwiesen an bzw. unterstellt als wahr, dass die Klägerin - wie von ihr vorgetragen und unter Beweis gestellt - aufgrund der erforderlichen vollschichtigen Betreuung eines zu 100% behinderten Sohnes sowie des fast blinden Ehemannes bereits aus zeitlichen Gründen nicht in der Lage ist, einer Berufstätigkeit nachzugehen. Die analoge Anwendung des § 9 Abs. 2 Satz 6 AufenthG auf den Fall, dass der Ausländer eine körperlich oder geistig behinderte bzw. erkrankte Person rund um die Uhr zu betreuen hat, ist jedoch nach dem insoweit eindeutigen Gesetzeswortlaut nicht möglich. Auch aus der Gesetzesbegründung (vgl. BT-Drs. 15/420, S. 72) ergibt sich, dass der Gesetzgeber in § 9 Abs. 2 Satz 6 i.V.m. Satz 3 AufenthG eine eng auszulegende und abschließende Spezialregelung gerade für den Fall getroffen hat, dass der Ausländer aufgrund einer in seiner eigenen Person vorliegenden Krankheit oder Behinderung nicht in der Lage ist, die Voraussetzungen für eine wirtschaftliche Integration zu erfüllen. Nach der Gesetzesbegründung wollte der Gesetzgeber mit dieser Ausnahmevorschrift ausschließlich dem durch Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG gebotenen besonderen Schutz von kranken und behinderten Menschen Rechnung tragen und diese nicht von einer ansonsten möglichen weiteren Aufenthaltsverfestigung durch Versagung einer Niederlassungserlaubnis wegen Fehlens der besonderen Integrationsvoraussetzungen ausschließen. Die Bestimmung soll lediglich sicherstellen, dass Behinderte nicht benachteiligt werden, wenn sie wegen ihrer Behinderung nicht arbeiten können. Dieser eng begrenzten Ausnahmekonstellation können vergleichbare weitere Sachverhalte wie etwa der hier vorliegende, dass der Ausländer aufgrund von Betreuungsleistungen keiner Berufstätigkeit nachgehen kann, nicht gleichgestellt werden.

Entgegen der Annahme der Klägerin ermöglicht auch die Vorschrift des § 5 Abs. 3 AufenthG kein Absehen von den gemäß § 26 Abs. 4 Satz 2 AufenthG anwendbaren Integrationsvoraussetzungen des § 9 Abs. 2 AufenthG. Wie sich bereits aus dem insoweit eindeutigen Gesetzeswortlaut vom § 5 Abs. 3 2. Halbsatz ergibt, ermöglicht diese Vorschrift lediglich ein Absehen von den Regelerteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1, 2 AufenthG, nicht jedoch von für die Erteilung bestimmter Aufenthaltstitel speziell normierten besonderen Erteilungsvoraussetzungen (vgl. zu dieser Funktion des § 5 Abs. 3 AufenthG etwa Hailbronner, AuslR, 38. Aktualisierung, Januar 2005 sowie Jakober, Aktuelles Ausländerrecht, 93. Ergänzungslieferung 2005, Rn 140 zu § 5 AufenthG).

Für diese Auslegung sprechen auch die Gesetzgebungsgeschichte bzw. systematische Erwägungen.

Auch systematische und teleologische Erwägungen sprechen dagegen, § 5 Abs. 3 Hs 2 AufenthG auf die speziellen Erteilungsvoraussetzungen des § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG i.V.m. § 26 Abs. 4 AufenthG anzuwenden. Soweit § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis zwingend die Sicherung des Lebensunterhalts vorschreibt, stellt er eine gegenüber der für die Erteilung eines jeden Aufenthaltstitels zu beachtenden Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG abschließende Spezialvorschrift dar, welche auch einen Rückgriff auf die Ausnahmevorschrift des § 5 Abs. 3 AufenthG ausschließt.

Die Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG entspricht entgegen der Annahme der Klägerin nicht der spezielleren Erteilungsvoraussetzung für eine Niederlassungserlaubnis gemäß § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG i.V.m. § 26 Abs. 4 Satz 2 AufenthG. So kann bei Nichterfüllung der gesetzlichen Regel-Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 AufenthG von einer dann zwar grundsätzlich rechtlich gebotenen Versagung des erstrebten Aufenthaltstitels abgesehen werden, wenn ein Ausnahmefall gegenüber dem vertypten Regelfall gegeben ist. Dies ist dann der Fall, wenn im konkreten Einzelfall ein atypischer Sachverhalt oder tatsächlicher Geschehensablauf vorliegt, der so gewichtig und bedeutsam ist, dass er eine Abweichung von der gesetzlichen (Regel-)Anforderung nicht nur zulässt, sondern gebietet (vgl. hierzu umfassend m.w.N. Jakober, a.a.O. Rn. 25 zu § 5 AufenthG). Demgegenüber hat der Gesetzgeber in § 9 Abs. 2 AufenthG weitere Integrationsanforderungen aufgestellt, die im Falle der Erteilung einer Niederlassungserlaubnis zwingend und regelmäßig über das Vorliegen der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen hinausgehend sichergestellt sein müssen.