Die rückwirkende Rücknahme eines Aufenthaltstitels setzt besondere Überlegungen in den Ermessenserwägungen voraus; Zeiten des Besitzes einer Aufenthaltsbefugnis sind nicht auf die Frist des § 9 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG anzurechnen; Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG zum Schutz des Privatlebens nach Art. 8 EMRK für staatenlose Kurdin aus dem Libanon nach langjährigem legalen Aufenthalt.
(Leitsätze der Redaktion)
Die Klage ist insgesamt zulässig, insbesondere auch hinsichtlich des Feststellungsantrages statthaft. Insoweit handelt es sich um eine Fortsetzungsfeststellungsklage nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO.
Es entspricht allgemeiner Ansicht, dass die Fortsetzungsfeststellungsklage nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO über den Wortlaut der Vorschrift hinaus auch dann statthaft ist, wenn die Erledigung eines Verwaltungsaktes bereits vor Klageerhebung eingetreten ist. Die vom Beklagten mit Bescheid vom 07. September 2004 verfügte rückwirkende Rücknahme der Aufenthaltsbefugnis der Klägerin hat sich in diesem Sinne dadurch erledigt, dass die Aufenthaltsbefugnis bis zum 13. März 2005 befristet gewesen ist. Sie wäre, unabhängig von der Rücknahme, daher durch Zeitablauf zu diesem Zeitpunkt ohnehin erloschen. Ein über dem 13. März 2005 hinausgehender Regelungsgehalt kommt ihr nicht zu. Die Klägerin hat auch ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der Rücknahmeentscheidung. Denn von diese Feststellung hängt die Rechtmäßigkeit ihres Aufenthaltes in der Bundesrepublik Deutschland ab dem 12. März 2003 ab. Wäre die angefochtene Rücknahmeentscheidung rechtmäßig, wäre der Aufenthalt der Klägerin seit dem 12. März 2003 unrechtmäßig, wäre der Bescheid rechtswidrig, wäre es der Aufenthalt nicht.
Die Klage ist hinsichtlich des Feststellungsbegehrens und des Verpflichtungsbegehrens, soweit es auf die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gerichtet ist, begründet; ein Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis steht der Klägerin demgegenüber nicht zur Seite, sodass die Klage insoweit unbegründet ist.
Der Bescheid des Beklagten vom 07. September 2004 und sein Widerspruchsbescheid vom 18. November 2005 sind rechtswidrig, soweit mit ihnen die Aufenthaltsbefugnis der Klägerin ab dem Zeitpunkt der letzten Verlängerung, dem 12. März 2003 zurückgenommen wird. Antragsgemäß ist dies vom Gericht festzustellen.
Diese Rücknahme lässt sich nicht auf § 48 VwVfG, der für die Rücknahme rechtswidriger Aufenthaltstitel anwendbar ist (vgl. Renner, Ausländerrecht, 8. Auflage, § 52 Rn. 3) stützen. Dies folgt, unabhängig von weiteren rechtlichen Bedenken, wie insbesondere der Einhaltung der Jahresfrist des § 48 Abs. 4 VwVfG daraus, dass der Beklagte das ihm zustehende Rücknahmeermessen nicht entsprechend dem gesetzlichem Zweck ausgeübt hat, sodass ein Ermessensfehler vorliegt.
Der Beklagte hat zwei wesentliche Ermessensgesichtspunkte, die sich ihm hätten aufdrängen müssen, nicht in seine Überlegungen eingestellt. Dies ist zum Einen der Umstand, dass er die Aufenthaltsbefugnis der Klägerin mit dem angefochtenen Bescheid rückwirkend aufgehoben hat. Grundsätzlich kommt eine Rücknahme erteilter Aufenthaltstitel nur mit Wirkung ex nunc in Betracht (Renner a.a.O., allg. Kopp/Ramsauer, VwVfG, 7. Auflage, § 48 Rn. 113). Ist die Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit zwar nicht grundsätzlich ausgeschlossen, muss die Behörde jedoch in diesem Fall besondere Überlegungen darüber anstellen, ob und weshalb dem Ausländer der Aufenthaltstitel, mit der Folge, dass sein weiterer Aufenthalt ohne Rechtsgrund erfolgt, rückwirkend zurückgenommen werden soll. Derartige Überlegungen zeigt der angefochtene Bescheid nicht auf. Er erschöpft sich in dem nichtssagenden Hinweis auf die Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns und die Ansicht, die Klägerin dürfe nicht besser gestellt werden als vergleichbare Ausländer.
Der zweite, einen Ermessensfehler begründende Umstand ist der, dass der Beklagte die Aufenthaltsbefugnis der Klägerin mit Verfügungen vom 09. Mai 2001 und 12. März 2003 noch zweimal verlängert hat, obwohl die Aufenthaltsbefugnis des Ehemannes der Klägerin, von dem sie ihr Aufenthaltsrecht ableitete, bereits seit Februar 2001 bestandskräftig zurückgenommen worden war. Der Beklagte hat durch dieses Verhalten der Klägerin gegenüber einen Vertrauenstatbestand gesetzt, der es zwar nicht grundsätzlich ausgeschlossen hätte, ihre Aufenthaltsbefugnis zurückzunehmen, der es jedoch im Rahmen der Ermessenserwägungen zwingend erforderlich gemacht hätte, zu diesen zweimaligen Verlängerungen Stellung zu nehmen und auszuführen, warum ausgerechnet jetzt zum Zeitpunkt des Erlasses des Bescheides vom 07. September 2004 die Rücknahme der Aufenthaltsbefugnis der Klägerin angezeigt erscheine. Auch insoweit sind die angestrengten Ermessenserwägungen nichtssagend.
Die auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis gerichtete Klage hat demgegenüber keinen Erfolg.
Zunächst erfüllt die Klägerin nicht die Voraussetzungen für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 9 Abs. 2 AufenthG. Denn sie ist nicht, was § 9 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG fordert, seit fünf Jahren im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis. Zwar ist die Klägerin seit weit mehr als fünf Jahren im Besitz einer Aufenthaltsbefugnis und hat, wie weiter unten auszuführen ist, derzeit auch Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis; die Zeiten des Besitzes einer Aufenthaltsbefugnis sind jedoch nicht auf die Frist des § 9 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG anzurechnen. Dies ergibt sich aus einem Umkehrschluss zu § 102 Abs. 2 AufenthG. Danach wird auf die Frist für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 AufenthG die Zeit des Besitzes einer Aufenthaltsbefugnis oder einer Duldung vor dem 01. Januar 2005 angerechnet. Aus der Tatsache, dass eine ausdrückliche Anrechnung lediglich im Rahmen des § 26 Abs. 4 AufenthG erfolgt, ist zu schließen, dass eine entsprechende Anwendung im Rahmen von § 9 Abs. 2 AufenthG ausgeschlossen ist (so auch Renner a.a.O., § 9 Rn 15 ff.; VGH Baden Württemberg, Beschluss vom 29.05.2007 - 11 S 2093/06 -, zitiert nach Juris).
Die Möglichkeit, der Klägerin eine Niederlassungserlaubnis zu erteilen, ergibt sich auch nicht aus § 26 Abs. 4 AufenthG. Jedoch scheitert die Erteilung einer solchen Niederlassungserlaubnis daran, dass die Klägerin keine Aufenthaltserlaubnis beziehungsweise -befugnis nach diesem Abschnitt besitzt. Mit diesem Abschnitt ist der Abschnitt 5 des AufenthG gemeint, der den Aufenthalt aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen regelt. Vor Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes sind die aus solchen Gründen folgenden Aufenthaltstitel in §§ 32 ff. AuslG geregelt gewesen. Der Klägerin, die infolge ihrer Einreise erst am 10. November 1990 nicht unter die Bleiberechtsregelung für libanesische Flüchtlinge fällt, wurde ihre Aufenthaltsbefugnis nach altem Ausländerrecht gemäß § 31 AuslG erteilt. Eine entsprechende Regelung enthält nunmehr § 30 AufenthG. Diese Vorschrift befindet sich im 6. Abschnitt des AufenthG. Darauf folgt, dass der Klägerin in der Vergangenheit die Aufenthaltsbefugnisse nicht nach dem 5., sondern dem 6. Abschnitt des AufenthG erteilt worden sind.
Die Klage ist jedoch mit dem Hilfsantrag insoweit begründet, als die Klägerin einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG gegen den Beklagten hat. Danach kann einem Ausländer, der vollziehbar ausreisepflichtig ist, abweichend von § 11 Abs. 1 eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn seine Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist und mit dem Wegfall der Ausreisehindernisse in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist. Ein solches rechtliches Ausreisehindernis ergibt sich für die derzeit vollziehbar ausreisepflichtige Klägerin aus dem durch Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützten Privatleben.
Nach Art. 8 Abs. 1 EMRK hat Jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens; Art. 8 Abs. 2 EMRK regelt die Zulässigkeit von Eingriffen von staatlichen Stellen in die Ausübung dieses Rechts. Wesentliches Ziel der Vorschrift ist der Schutz des Einzelnen vor willkürlicher Einmischung der öffentlichen Gewalt in sein Privat- und Familienleben. Grundsätzlich wirkt Art. 8 EMRK auf die Auslegung und Anwendung des Ausländerrechts ein, ohne unmittelbar Ansprüche auf Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung zu begründen. Die EMRK und damit auch die Garantien des Art. 8 Abs. 1 enthalten nicht das Recht eines Ausländers, in einen bestimmten Staat einzureisen oder sich dort aufzuhalten und nicht ausgewiesen zu werden. Über die Einreise, den Aufenthalt und die Abschiebung fremder Staatsangehöriger zu entscheiden, ist nach allgemein anerkannten völkerrechtlichen Grundsätzen vielmehr das Recht der Vertragsstaaten. Eingriffsqualität in Bezug auf Art. 8 Abs. 1 EMRK kommt einer aufenthaltsrechtlichen Entscheidung jedoch dann zu, wenn der Ausländer ein Privatleben, das durch persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen charakterisiert ist, faktisch nur noch im Aufenthaltsstaat als Vertragsstaat der EMRK führen kann. Ob eine solche Fallkonstellation für einen Ausländer in Deutschland vorliegt, hängt zum Einen von der Integration des Ausländers in Deutschland, zum Anderen von seiner Möglichkeit zur (Re-) Integration in seinem Heimatland ab. Gesichtspunkte für die Integration des Ausländers in Deutschland sind dabei eine zumindest mehrjährige Dauer des Aufenthalts in Deutschland, gute deutsche Sprachkenntnisse und eine soziale Eingebundenheit in die hiesigen Lebensverhältnisse, wie sie etwa in der Innehabung eines Ausbildungs- oder Arbeitsplatzes, in einem festen Wohnsitz, einer Sicherstellung des ausreichenden Lebensunterhalts einschließlich ausreichendem Krankenversicherungsschutzes ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel und dem Fehlen von Straffälligkeit zum Ausdruck kommt. Mit zu berücksichtigen ist insoweit auch die Rechtmäßigkeit des bisherigen Aufenthalts: Denn ein unerlaubter Aufenthalt und die damit verbundene Unsicherheit des Aufenthaltsstatus stehen in der Regel der Führung eines schutzwürdigen Privatlebens i.S.d. Art. 8 Abs. 1 EMRK entgegen (vgl. aus der Rechtsprechung des Nds. Oberverwaltungsgerichts Beschlüsse v. 11.05.2006 - 12 ME 138/06; v. 17.11.2006 - 10 ME 220/06 -; v. 29.06.2007 - 10 MC 147/07 -, zitiert nach der Internet-Entscheidungssammlung d. Nds. OVG, jeweils mit umfangreichen weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung des EGMR).
Gemessen an diesen Grundsätzen ergibt sich für die Klägerin ausnahmsweise ein unmittelbarer Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG als faktische Inländerin.
Vorauszuschicken ist, dass im Fall der Klägerin für die Frage, ob ihre (Re-) Integration im Heimatland möglich ist, nicht auf eine Rückkehr in den Libanon abgestellt werden kann. Als staatenlose Kurdin erhält sie vom libanesischen Staat, das ist gerichtsbekannt, weder Pass- noch Passersatzpapiere. Eine Ausreise in den Libanon wird ihr nicht möglich sein. Allenfalls denkbar, und vom Beklagten angestrebt, ist eine freiwillige Ausreise der Klägerin mit ihrem Ehemann und den gemeinsamen Kindern in die Türkei. Unabhängig von der Frage, ob die Klägerin für die Türkei aufenthaltsberechtigt sein wird, ist für die Frage der Integration in dieses Land zu berücksichtigen, dass die Klägerin dort weder über Familienangehörige oder sonstige persönliche Kontakte verfügt noch türkische Sprachkenntnisse besitzt. Ihre Integration in die Türkei erscheint demnach nahezu ausgeschlossen.
Demgegenüber weisen gewichtige Anhaltspunkte darauf hin, dass die Klägerin persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland entwickelt hat, die sie als faktische Inländerin erscheinen lassen. Sie lebt seit nunmehr fast 17 Jahren, und damit annähernd die Hälfte ihres Lebens, in der Bundesrepublik. Strafrechtlich ist sie nie in Erscheinung getreten. Sie bezieht aus ihrer nichtselbständigen Beschäftigung im Imbiss ihres Ehemannes ein für ihren Lebensunterhalt allein gesehen ausreichendes Einkommen. Daneben verfügt sie über einen festen Wohnsitz. Davon, dass die Klägerin ausreichend gute deutsche Sprachkenntnisse hat, konnte sich das Gericht in der mündlichen Verhandlung selbst überzeugen. Nicht unberücksichtigt bleiben darf für die Frage der Integration in der Bundesrepublik Deutschland der Umstand, dass die Klägerin ihre 6 Kinder, von denen 5 hier mit Erfolg die Schule besuchen, betreut. Dies bedingt ständige soziale Kontakte insbesondere auch im schulischen Umfeld. Schließlich ist zugunsten der Klägerin zu berücksichtigen, dass ihr Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland seit dem 04.03.1993, der erstmaligen Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis rechtmäßig ist.
Nach alledem ist die Klägerin als faktische Inländerin anzusehen und ihr eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG zu erteilen, weil das dem Beklagten durch die Vorschrift eingeräumte Ermessen durch die Bindungswirkung des Art. 8 EMRK auf Null geschrumpft ist, so dass sich ein Anspruch ergibt.